Sekten im Spiegel der Literatur (Sträuli, 2004)

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von Dieter Sträuli


Einleitung

Ein «Wallander» von Henning Mankell (Vor dem Frost) beginnt mit dem Massenmord in der People's Temple-Sekte von Jim Jones auf Französisch Guyana und führt zur Entdeckung einer gefährlichen Tochtersekte in Schweden. Der Da-Vinci-Code, ein Thriller von Dan Brown, in dem der Orden der Tempelritter, eine dubiose «Prieuré de Sion» und das Opus Dei Hauptrollen spielen, schafft es nicht nur an die Spitze der Bestsellerlisten, sondern erzeugt eine Welle internationaler Sekundärliteratur von der Art Die Wahrheit über den Da-Vinci-Code. Eine am Karfreitag 2005 ausgestrahlte, eher nüchterne Dokumentarsendung (1) über den Roman und seine Quellen führt ihrerseits zu aufgeregten Artikeln in Boulevardzeitungen: «Hatte Gottes Sohn Sex? Skandal-Buch ‚Sakrileg’ erschüttert die Kirche. Es verkauft sich besser als die Bibel». Einmal in Gang gesetzt, dreht sich das Karussell der Medienbeiträge und die Vermengung der verschiedenen Diskurse endlos weiter. Was bedeutet diese Art von Veröffentlichungen für die Sektenaufklärung? Ist sie ein Symptom dafür, dass das Sektenthema seine Seriosität verloren und nur noch Unterhaltungswert hat? Oder stellen sie eine erwünschte populäre Form der Verarbeitung des Problems dar in dem Sinne, dass das Bewusstsein über die Gefährlichkeit sektenartiger Gruppen endlich in den Grundwortschatz von Bevölkerung und Medien übergegangen ist? Um die Frage zu beantworten, suchen wir nach den Quellen des Nils, das heisst nach frühen und rezenten Formen des Genres. Wir entdecken drei Spielarten des Romans, in denen Sekten thematisiert werden: den Sektenkrimi, den Sektenroman im engeren Sinne und den Sektenthriller.

Der Sektenkrimi

Damit der Sektenroman möglich wird, braucht es zunächst den Roman als solchen, und der taucht als bürgerlicher Roman etwa im 18. Jahrhundert auf. Vor dieser Zeit gab es nur den höfischen Roman, der das Ideal des adligen Ritters ausmalte und diesen auf die Suche nach dem Gral schickte. Trotz zahlloser Gefahren blieb der Held immer im christlichen Weltbild und seinen Werten geborgen. Erst der bürgerliche Roman setzte ein Subjekt der Gesellschaft mit all ihren Widersprüchen aus und zeigte es in seiner Verlorenheit. Er war eng mit der Aufklärung verknüpft. Die Aufklärung ersetzte den Glauben an ein allseitiges Wirken Gottes durch ein positiv verstandenes Wissen in der Hoffnung, der Mensch könne von nun an im Lichte der rationalen Wahrheit leben. Das riesige Gebiet der Esoterik und der Pseudowissenschaften belehrt uns eines Besseren: Wir haben unsere Faszination von Geheimnissen, Rätseln, von «Codes» des Universums vom Glauben auf die Wissenschaft übertragen – um von ihr enttäuscht zu werden. Für diese Wissenschaft sind Geheimnisse nichts, das es zu bewahren gilt, sondern Forschungsgegenstände. Wissenschaft ist keine Spezialistin für die Sehnsüchte der Menschen. Deshalb leben wir heute in einer starken Spannung zwischen dem Anspruch auf Berechenbarkeit und der Ahnung von einem Sinn, der sich der Quantifizierung entzieht. Es ist, als ob im Kulturgewebe Löcher klafften, die geflickt sein wollen, oder um die herum die webende Kreativität der Literatur ständig kreist. Das gilt auch für den Kriminalroman. Der klassische Täter des Kriminalromans handelt aus Hass, Geldgier, Rachedurst, sexuellen oder sadistischen Impulsen heraus. Immer wieder aber stehen Detektive vor unerklärlichen Verbrechen, bei denen kein Motiv ersichtlich ist. Die Antwort sind Amateurdetektive vom Schlage eines Father Brown. Es sind seine Weisheit als Seelsorger und seine theologische Bildung, die diese vom englischen Schriftsteller Gilbert Keith Chesterton geschaffene Figur die vertracktesten Fälle lösen lässt. «Ein Mensch, der fast nichts anderes tut, als die Sünden anderer Menschen anzuhören, sollte eine Ahnung vom Bösen im Menschen haben,» erklärt Father Brown seine Berufung. Bei aller Unschuld und Weisheit (The Innocence of Father Brown und The Wisdom of Father Brown heissen die bekanntesten Sammlungen) ist Father Brown ein aufgeklärter Skeptiker, der seine Fälle mit praktischem Menschenverstand löst. Noch ist hier der Glaube auf der Seite des Detektivs. Das ändert sich mit dem Aufkommen des eigentlichen Sektenkrimis. Nun handeln die Täter aus religiösen Motiven (3). In Henning Mankells Roman Vor dem Frost begleitet Kommissar Wallanders Tochter Linda, Polizeiaspirantin, ihren Vater bei Ermittlungen zu anfangs unzusammenhängend wirkenden Ereignissen: Ihre Freundin Linda ist verschwunden. Jemand ruft bei der Wache an und meldet, dass über dem See brennende Schwäne zu sehen seien. Was zunächst wie eine von Dalis Gemälden inspirierte surreale Szene wirkt, erweist sich als Indiz, das schliesslich zu einer Sekte führt. Mankell stellt die Flucht eines Überlebenden des Massensuizids in der Sekte People's Temple an den Anfang seines Romans. Wie immer bei Mankell ist das Innenleben der Hauptpersonen der wichtigste Erzählstrang, häufig auf Kosten der Beschreibung der Ermittlungsarbeit. Der Entkommene versucht, im heimatlichen Schweden die Ideen von Jim Jones, an deren Verwirklichung jener gescheitert war, konsequent zu Ende zu führen. Seine fanatische Religiosität an der Grenze zwischen orthodoxem Glauben und klinischem Wahn ist das, was alle Vorkommnisse verbindet und ihnen Sinn verleiht. Weil der Kommissar selbst nicht theologisch gebildet ist, zieht er eine Spezialistin bei. Auch dies ein Topos, der in Filmen und TV-Serien wiederkehrt, z. B. in Les Rivières pourpres 2.

Serienkiller

«Asian studies at Langley said the mark you found
on the tree is a Chinese character considered a positive or a lucky sign
in gambling. The character also appears on a mah-jongg piece…
It means Red Dragon… That mean anything to you?»
Dollarhyde opens and drops the black silk kimono.
His muscular frame bears the full body tattoo of
William Blake's Red Dragon - the head on Dollarhyde's chest,
the tail snaking down and wrapping around one of Dollarhyde's legs.

(Aus dem Drehbuch zum Film Manhunter von Michael Mann)

In gewisser Weise gehört zu diesen Romanen auch Der Name der Rose von Umberto Eco. Er ist, obwohl man ihn auf den ersten Blick nicht als Sektenkrimi erkennen würde, ein Prototyp des Genres. Ein unbekannter Mörder tötet in einem mittelalterlichen Kloster einen Mönch nach dem andern. Der Detektiv, William von Baskerville (der Name erinnert via Conan Doyles Roman The Hound of the Baskervilles an Sherlock Holmes) löst das Rätsel erst, als er spitzfindige theologische Streitfragen («Hat Jesus je gelacht?») in seine Überlegungen über die Identität des Täters und seiner Motive mit einbezieht. In Sektenkrimis haben Sekten eine Funktion, die derjenigen der Serienkiller vergleichbar ist. Literarische oder filmische Serienkiller legen einen bestimmten modus operandi an den Tag, der von ihren Wahnideen bestimmt ist. Der Detektiv ist gleichzeitig auch Psychiater (profiler heisst die neue Doppelfunktion) und muss sich ins unbewusste Gedankensystem des Täters hinein versetzen, wenn er ihn fassen und weitere Morde verhindern will. So stellt der Mörder in Seven (David Fincher, USA 1995) an den Tatorten seiner Morde die sieben Todsünden in der Art mittelalterlicher Mysterienspiele oder toter «lebender» Bilder nach. In Copycat (John Amiel, USA 1995) müssen die Ermittlerinnen erst darauf kommen, dass der Täter berühmte Morde aus der Kriminalgeschichte nachahmt und sich als Geschichtsfreak erweist. Das Verbindungsglied, die Formel, welche Einzelfälle als Elemente einer Serie erweist, ist das, was der Detektiv sucht. Für psychoanalytisch Interessierte steht der Serienkiller für einen meist verborgen bleibenden Faktor unserer Existenz: Wir sind in unserem Handeln von unbewussten Assoziationsketten bestimmt, die auf dem Weg über unsere Kindheit bis ins Unbewusste unserer Eltern und der Menschheit als solcher zurück reichen. Für uns Mensch ist unser Schicksal besiegelt, sobald wir in die Sprache eintreten. Sie verunmöglicht uns die Rückkehr in eine paradiesische Unschuld, in der wir eins mit der Welt waren. Sie ist der «Serienkiller», der uns schon in frühen Jahren mit der Erkenntnis über die Existenz des Todes konfrontiert, während wir doch meinen, die Sprache als Instrument der Kommunikation zu kontrollieren. Die Botschaft unserer Endlichkeit ist uns auf den Leib geschrieben.
Im Sektenkrimi wie z.B. Vor dem Frost besteht die Formel, die den Täter antreibt, nicht selten aus Sätzen heiliger Bücher. Der Täter nimmt sie wörtlich, buchstäblich, fundamentalistisch, und handelt so blindlings und letztlich unmenschlich. Ist er gar psychotisch wie der Killer Dollarhyde in Thomas Harris' Roter Drache, so wird es völlig unheimlich. Es gibt keinen Abstand mehr zwischen den Inhalten des Wahns (zu denen hier Offenbarung 12, 1 gehört: «Und es erschien ein grosses Zeichen am Himmel: eine Frau, mit einer Sonne bekleidet…» und «ein grosser, roter Drache, der hatte sieben Köpfe und zehn Hörner…») und dem Handeln des Täters. Dieser trägt den Text buchstäblich auf dem Leib, inform einer Tätowierung nach dem Gemälde Red Dragon and Woman Clothed in the Sun von William Blake. Er glaubt, er müsse sich in den Roten Drachen verwandeln und dafür töten. Was Sekten eigentlich ausmacht, nämlich die Dynamik solcher Gruppen, das komplexe und paradoxe Verhältnis zwischen Leiterperson und Mitgliedern, bleibt im
Sektenkrimi ausgeschlossen. Es ist einem anderen Subgenre vorbehalten, das wir im folgenden den Sektenroman im engeren Sinne nennen wollen.

Der Sektenroman als Lehrbuch

«Und die Sekte?» «Wir sind keine Sekte», wiederholte sie verärgert.
«Es ist ein Lebensweg. Unser Meister zeigt uns den Weg zum Licht.»
«Und der führt durch sein Bett?» «Die materielle Welt,
und dazu gehört auch das Sexuelle, interessiert uns nicht.»

(Stephan Pörtner: Der Erzengel von Albisrieden. Fortsetzungsroman im Tagblatt der Stadt Zürich, 30.3.2005)


Bis in die 80er-Jahre des 20. Jahrhunderts fehlte zum Sektenroman noch die moderne Vorstellung von der Sekte, d.h. die Vorstellung einer Gemeinschaft, die ins Spannungsfeld zwischen utopischer Grossfamilie und autonomem, aufgeklärtem Individuum geraten ist. Der Sektenroman ist also eine Erscheinung der letzten 25 Jahre. Ein Markstein der Popularisierung des Themas war, als Heinz G. Konsalik das Thema mit Der Herr der zerstörten Seelen 1997 in sein Repertoire aufnahm. Sekten versuchen, Wahrheit zu erneuern und spürbar zu machen. Meist scheitern sie tragisch damit, weil sie die Relativität und Subjektivität der lebendigen Wahrheit nicht erkennen wollen. Ein anderes Thema ist eine die schwierige Grenze zwischen Utopie und Wirklichkeitssinn. In The Beach von Alec Garland (verfilmt 2000 von Danny Boyle) kursiert unter trampenden Teenagern in Südostasien das Gerücht eines unberührten Strandes. Es soll eine Karte im Umlauf sein, auf der seine Lage eingetragen sei. Der Held des Romans findet den Weg zum Strand auch ohne die Hilfe der Gruppe, die sich in den Besitz der Karte gebracht hat. Der Strand ist tatsächlich ein Paradies. Die jungen Leute richten es sich ein. Bald machen sich Schwierigkeiten bemerkbar. Auf der andern Seite der Insel leben schwer bewaffnete Opiumproduzenten. Unfälle und Streitigkeiten erzeugen Verletzte, einen Arzt gibt es nicht. Am meisten leidet die Utopie unter den Problemen des Zusammenlebens. Bald ist der Traum ausgeträumt. Der Journalist und Sektenspezialist Hugo Stamm hat 2003 einen Sektenroman vorgelegt, Tod im Tempel: Zur Überraschung ihrer Freunde und Angehörigen zieht die junge Sarah Keller in den Tempel der «Glückseligen» (eine Gruppe, die mit ihren hinduistischen Namen und rasierten Köpfen an ISKCON, aber auch an Scientology und andere esoterische Gruppen erinnert). Sarahs Schwester Judith schleicht sich in den Tempel ein, um sie herauszuholen. Dabei stösst sie auf viele Ungereimtheiten und auf den Mord an einem widerspenstigen Gruppenmitglied. Der Guru wird schliesslich als Spieler und Lebemann enttarnt, der die Ideale der Gruppe verrät. Hugo Stamm hat sein Wissen über das Funktionieren sektenartiger Gruppen den Figuren seines Romans in den Mund gelegt. Er wählt damit einen anderen Weg der Aufklärung über Sekten, als ihn Zeitungsartikel und Fernseh- Talkshows bieten. Man merkt dem Buch diese Zweckgebundenheit an, dennoch ist Tod im Tempel ein echter Krimi mit Polizisten und Amateurdetektiven und einem angenehmen lokalen Touch. Auch der Fachstelle infoSekta schlug das Schweizerische Jugendschriftenwerk SJW1996 vor, eine Broschüre zur Sensibilisierung Jugendlicher für das Thema Sekten mit einer fiktiven Sektengeschichte einzuleiten. Wir erzählten damals von der zwölfjährigen Nadja, die sich in die Gruppe «Perspex» hineinziehen lässt. Dass die Leser das Geschehen aus Nadjas Tagebuch erfahren, führt einer dramatischen Spannung zwischen der «naiven» Ebene der Heldin und den kritischen Reaktionen der Leser ein und erhöht die Spannung. Allein gegen die Seelenfänger, Hugo Stamms Erfolgsbuch von 2005, ist kein Roman und basiert auf einem echten Tagebuch. Hugo Stamm hat die Aufzeichnungen des ehemaligen Sektenmitglieds Lea Saskia Laasner überarbeitet. Herausgekommen ist ein spannender Tatsachenbericht, bei dem man als Leser für Augenblicke nicht sicher ist, wer spricht. Die Unmittelbarkeit der Erzählung stammt von der Zeugin, ihre kritischen Reflexionen der Sprache nach wohl vom Experten.

Der Sektenthriller: Geheimgesellschaften und Verschwörungstheorien

The other nodded. «Heute die Welt,
morgen das Sonnensystem!» the eldest cried out fiercely.
«Heute die Welt,» all repeated, «morgen das Sonnensystem!»
(Robert Shea und Robert Anton Wilson, The Illuminatus! Trilogy)


Romane mit Geheimgesellschaften und Weltverschwörungstheorien haben ebenfalls Tradition. Sie gehören zur Obergattung des paranoiden Romans, der wiederum zur fantastischen Literatur gehört. Literarische Paranoia ist immer unterhaltend und setzt ihre Helden ständigen Zweifeln aus, ob Erlebtes real oder eingebildet sei. Dass dem Leser suggeriert wird, alle Ungereimtheiten und Lücken in einer Romanwelt seien auf eine einzige Ursache, z. B. die Machenschaften einer im Verborgenen agierenden Gruppe zurückzuführen, erzeugt Spannung und gleichzeitig Erleichterung. Der neuste Erfolg in dieser Hinsicht ist Dan Browns Bestseller The Da-Vinci-Code (4):

Hier eine Zusammenfassung aus dem Internet (5):
Robert Langdon, Symbologe aus Harvard, erhält einen merkwürdigen Anruf: Der Chefkurator des Louvre wurde vor dem Gemälde der Mona Lisa ermordet aufgefunden. Langdon erkennt schon bald, dass der Tote durch eine Reihe von versteckten Hinweisen auf die Werke Leonardo da Vincis aufmerksam machen wollte – Hinweise, die seinen gewaltsamen Tod erklären und auf eine finstere Verschwörung hindeuten. Bei der Suche nach den Hintergründen der Tat wird Robert Langdon von Sophie Neveu unterstützt, einer Kryptologin der Pariser Polizei und Tochter des ermordeten Kurators. Von ihr erfährt er auch, dass der Kurator der Geheimnis umwitterten Bruderschaft «Prieuré de Sion» angehörte –wie vor ihm Leonardo da Vinci, Victor Hugo und Isaac Newton. Bei ihren Recherchen stoßen Robert und Sophie immer wieder auf verborgene Zeichen und Symbole in den Werken Leonardo da Vincis, die zum einen auf den Heiligen Gral hindeuten, zum anderen die These stützen, dass Jesus Christus und Maria Magdalena einen gemeinsamen Sohn hatten. Beides würde die Grundfesten der Kirche erschüttern. Erschwert wird die Suche der Wissenschaftler durch das Eingreifen des Opus Dei, das Roberts und Sophies Erkenntnisse unter allen Umständen unter Verschluss halten möchte und dabei auch nicht vor Mord zurückschreckt.

Das Interessanteste am Roman ist seine Entstehung. Laut dem Kommentar Les sources secrètes du Da Vinci Code von Jean-Jacques Bédu stützte sich Brown beim Schreiben auf ein fragwürdiges Sachbuch voller wilder Spekulationen: The Holy Blood and the Holy Grail, von Lincoln, Baigent und Leigh (1982). Diese drei Engländer zitieren ihrerseits frühere Bücher, die verschiedene Mythenstränge verfolgten. So spürte der Franzose Gérard de Sède in Les Templiers sont parmi nous (1962) dem Rätsel des verschollenen Templerschatzes nach, den er bei einem plötzlich reich gewordenen Priester in Rennes-le-Château vermutete. Derselbe de Sède kroch später einem Betrüger namens Pierre Plantard auf den Leim, der in den 60er Jahren gefälschte Stammbäume in der Pariser Bibliothèque Nationale platzierte, die ihn als letzten Nachkommen des Merowingergeschlechts auswiesen. Plantard ärgerte sich über die drei Engländer, die seinen Anspruch mit einer anderen Geschichte verknüpften: der theosophisch inspirierten Version der Jesus- Biografie, wonach Jesus mit Maria Magdalena Kinder hatte und diese nach Frankreich flüchteten, wo sie in die Merowinger-Familie einheiratete. Die Prieuré de Sion, angeblich noch geheimnisvoller als der Orden der Tempelritter, sei eben so alt wie dieser, deutete Plantard an. Wahr ist, dass er die Prieuré de Sion 1956 selbst ins Vereinsregister hatte eintragen lassen. Die rassistische und rechtskatholische Vereinigung kam nie über eine Handvoll Mitglieder hinaus. All diese Gerüchte, okkulten Mythenelemente und schlichten Betrügereien verwebt Dan Brown zu einem mässigen Thriller. Dass der Vatikan sich durch die theosophische Christuslegende aufschrecken lässt, rückt den Roman in unverdientes Rampenlicht. Der Urvater des Sektenthrillers ist vielleicht Illuminatus! von Robert Anton Wilson. Die Trilogie (Das Auge in der Pyramide – Der goldene Apfel – Leviathan) ist eine schrille Parodie auf Verschwörungsliteratur. Wilson und Shea haben alles in die drei Bände hineingepackt, was an paranoiden Gerüchten damals im Umlauf war. Der Roman wird viel zitiert und oft als verkappte Darstellung von Fakten gehandelt.

Gehen wir noch weiter zurück, steht das Subgenre in der Tradition des gotischen Schauerromans (Horace Walpole, The Castle of Otranto), in welchem sich Spukerscheinungen in einem Schloss als Manipulationen eines macht- und geldgierigen Täters herausstellen. Zweihundert Jahre später genügt die Welt einer adligen Familie nicht mehr: heute muss die Verschwörung globale, wenn nicht gar galaktische Ausmasse annehmen, um wahrgenommen zu werden. Wir sind hier beim Thema Fiktion gegen Wirklichkeit angelangt. Wir leben in einer Zeit, in der die Diskurse sich immer stärker mischen und die Grenze zwischen Tatsachenbericht und Fiktion immer durchlässiger wird. Hier gehen Verschwörungstheorien und Unterhaltungsindustrie eine einträgliche, aber ethisch fragwürdige Verbindung ein, denn beide haben ein Interesse daran, dumpfe Andeutungen den nüchternen Fakten vorzuziehen.

Leider gerät der Symbologe als Held von Browns Romans zu einer Parodie auf jeden realen Vertreter dieses Berufs. In keinem Moment wird die Vieldeutigkeit der Symbole thematisiert. Die Spannung wird aufrechterhalten, indem das Heldenpaar von einem Indiz zum andern hetzt und sich an jedem Ort dasselbe abspielt: Sie finden den Hinweis für den Weg zum nächsten Schauplatz. Dabei wäre das Verhältnis des Menschen zu den Symbolen ein brennend interessantes Thema.

Und schon warten die Nachahmer und Bessermacher mit ihren Produkten in den Regalen der Buchhandlungen auf Käufer: Die Sonntagszeitung vom 17.April 2005 nennt folgende Titel: Die stille Bruderschaft von Julia Navarro (ein Orden und die Tempelritter streiten um das Grabtuch von Turin); Das Keltengrab von Patrick Dunne (ein papsttreuer Nonnenorden bekommt für die Denunziation von Ketzern im 12. Jahrhundert ein Kloster geschenkt); Das letzte Geheimnis von I. Caldwell und D. Thomason (Studenten entschlüsseln die verborgene Botschaft des Renaissance-Klassikers Der Liebestraum des Poliphilo); Der Kelim der Prinzessin von Peter Berling (5. Band eines Gralszyklus über die Kreuzzüge); Die Geliebte des Herrn von Gérald Messadié (Maria Magdalena befreit Jesus vom Kreuz). Das Publikum ist fasziniert von der angeblichen Möglichkeit, hinter den Überlieferungen der Bibel und der offiziellen Version der Kirchengeschichte Wahrheiten zu entdecken, an die bisher niemand herankam. Nimmt man das als Symptom, so scheint das Subgenre geradezu nach einer Belebung der christlichen Tradition zu schreien. Nach einer Belebung um jeden Preis, hat man beim Lesen mancher Romane den Eindruck.

Ziehen wir Bilanz über unseren Streifzug durch die verschiedenen Spielarten des Sektenromans, könnte man sagen, Sekten sind für die Literatur so unterhaltend wie Verbrechen und Kriege. Die Chance aber, sich auf die zutiefst menschlichen Konflikte zwischen Individuum und sektenartiger Gemeinschaft in einer Weise einzulassen, welche spannende Lektüre verspricht und gleichzeitig dem Sektenphänomen gerecht wird, haben bislang nur wenige Autoren wahrgenommen. Wir lassen uns aber gerne überraschen und werden weiterhin möglichst viel von dem lesen, was im Bereich dieses Genres auf den Markt kommt.

Literatur

Bédu, Jean-Jacques. 2005. Les sources secrètes du Da Vinci Code. Paris: Du Rocher.
Brown, Dan. 2003. Illuminati. Bergisch-Gladbach: Lübbe. (Original: Angels and
Demons, 2001)
Brown, Dan. 2004. Sakrileg. Bergisch-Gladbach: Lübbe. (Original: The Da Vinci
Code, 2003)
Chesterton, Gilbert K. 2000. Die besten Pater-Brown-Geschichten. Leipzig: Reclam.
De Sède, Gérard. 1963. Die Templer sind unter uns oder Das Rätsel von Gisors.
München: Ullstein.
Eco, Umberto. 1986. Der Name der Rose. München: dtv.
Garland, Alex. 2000. Der Strand. München: Goldmann.
Harris, Thomas. 2004. Roter Drache. München: Heyne.
Konsalik, Heinz G. 1997. Der Herr der zerstörten Seelen. Bergisch Gladbach:
Lübbe.
Laasner, Lea Saskia & Hugo Stamm. 2005. Allein gegen die Seelenfänger. Meine
Kindheit in der Psycho-Sekte. Frankfurt am Main: Eichborn.
Lincoln, Henry, Michael Baigent, Richard Leigh. 2004. Der heilige Gral und seine
Erben. Bergisch-Gladbach: Lübbe. [Original: The Holy Blood and the Holy Grail,
1982]
Mankell, Henning. 2003. Vor dem Frost. Wien: Zsolnay. (Original: Innan Frosten,
2002)
Schaaf, Susanne & Dieter Sträuli. 1996. Sekten. Zürich: Schweizerisches
Jugendschriftenwerk.
Stamm, Hugo. 2003. Tod im Tempel. Zürich: Pendo.
Wilson, Robert Anton & Michael Shea. 1997. Illuminatus! München: Rowohlt.
Wilson, Robert Anton. 2000. Das Lexikon der Verschwörungstheorien.
Verschwörungen, Intrigen, Geheimbünde. Frankfurt: Eichborn.

Mit Dank an Bruno Deckert und Susanne Schaaf für die Unterstützung.

Fussnoten


1     25.03.2005: Pro7, 18.15 Uhr: Sakrileg oder Legende? Das Rätsel um den Da Vinci Code.
2     Blick; 24. März 2005
3     Siehe hierzu den Artikel von Lutz Lemhöfer: «Was gut und böse ist. Religion im Kriminalroman.
» Materialdienst EZW, 2/05.
4     Siehe hierzu den Artikel von Harald Lamprecht: «Inszenierte Verschwörungen. Dan Browns
Religionsthriller ‘Illuminati’ und ‘Sakrileg’». Materialdienst EZW, 3/05
5     Unter anderem bei http://www.buchstaben-salat.de/Rezensionen/B/BrownDSakrileg.htm
(Text leicht gekürzt)
6     Robert A. Wilson hat übrigens ein brauchbares Lexikon der Verschwörungstheorien verfasst.

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