"Sekten": der Wille zur neuen Gesellschaft zwischen Esoterik, Fundamentalismus und profanem Erfolgsstreben (Flammer, 2000)

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von Philipp Flammer


Einleitung

Visionen von der neuen, vermeintlich besseren Gesellschaft sind auch in der postkommunistischen Zeit vitaler denn je. Am augenfälligsten sind dabei jene, die zur Zeit gerade konkretisiert werden: die Träume der Macher, pragmatischen Technokraten und fortschrittsgläubigen Materialisten. Und die eindrucksvollste ist wohl die Vision vom "globalen Dorf", die sich zur Zeit über Internet und Mobiltelefone zusehends verwirklicht, der Traum von totaler Kommunikation und sozialem Austausch ohne Grenzen. Angesichts der aktuellen Dynamik dieses gesellschaftlichen Wandels zur erhofften besseren Gesellschaft erscheinen Gruppen, die sich trotzig von ihrer Umwelt abgrenzen, gar in Opposition zur Gesellschaft gehen oder sich hinter fundamentalistischen Dogmen verschanzen, beinahe anachronistisch. Wir sind leicht geneigt, sie nicht weiter ernst zu nehmen, denn unser Traum von der grenzenlosen Kommunikation verweigert sich nur zu gerne der Einsicht, dass Kommunikation nicht nur ein technischer, sondern in erster Linie ein sozialer Akt ist und hier die Macht sozialer Gruppen die individuelle Meinungsfreiheit nicht unwesentlich mitprägt. Und wir verkennen, dass auch in solchen Gruppen Visionen von der anderen oder besseren Gesellschaft kultiviert werden und entschlossen an ihrer Verwirklichung gearbeitet wird. Der folgende Text versucht eine Annäherung an das Phänomen der "Sekten", indem er die bei der Informations- und Beratungsstelle infoSekta in Zürich angefragten Gruppen sichtet (erster Teil) und fragt, welche ideologischen Konzepte sich hinter den Organisationen erkennen lassen und welcher Einsatz von Mitteln durch diese Visionen gerechtfertigt wird (zweiter Teil).

1. "Sekten" im Spiegel der Anfragen bei infoSekta

Meine quantitative Annäherung an das Phänomen der "Sekten" geht von den Anfragen aus, die bei der Informations- und Beratungsstelle infoSekta in Zürich zwischen 1991 und 1999 eingegangen sind.(1) Repräsentative Aussagekraft für die ganze Schweiz kann damit sicher nicht behauptet werden. Allenfalls können die Anfragen bei infoSekta aber als eine lokale Messung (vgl. Abb. 1) für das gelesen werden, was der evangelische Sektenspezialist Georg Schmid in seinem Modell des "Sektenthermometers" wahrscheinlich als "Sektenfieber" bezeichnen würde. Untersucht wird zuerst, welche weltanschaulichen Grundtendenzen dem Phänomen "Sekten" zugrunde liegen.

1.1. Die Weltanschauungen

Die folgende Analyse stützt sich auf 6779 Anfragen, in welchen genau eine Gruppe thematisiert wurde. (2) Ordne ich die Gruppennamen allgemeinen Weltbildern zu, lassen sich drei grosse weltanschauliche Grundtendenzen herausarbeiten (3): esoterische (35 %), christliche (30 %) und säkulare Orientierungen (27 %; vgl. Abb. 2). Unter "säkular" sind jene Gruppen zusammengefasst, die nach uns vorliegenden Informationen keinen Transzendenzbezug, also keine religiös-spirituelle Orientierung erkennen lassen. Innerhalb der drei Grundtendenzen lassen sich weitere Unterdiskurse ausmachen, die analytisch nicht immer leicht auseinanderzuhalten sind.

1.1.1. Esoterische Orientierungen in % von 2340 Anfragen:

36 %

Persönlichkeitstraining ("New Age")

17 %

Hinduistische Weltanschauungen

10 %

Theosophische und anthroposophische Orientierungen

10 %

Weitere gnostische und geheimbündlerische Orientierungen

8 %

Esoterische Lebenshilfen / Beratungsangebote / Geistheilerei / Positives Denken

7 %

Neuoffenbarungen und Spiritismus

2 %

Sikhistische Weltanschauungen

2 %

UFO

1 %

Buddhistische Weltanschauungen

1 %

Neuheidnische Weltanschauungen

1.1.2. Christliche Orientierungen in % von 2056 Anfragen:

24 %

Charismatische Bewegung

22 %

Endzeitliche Orientierung

22 %

>Pietistische Bewegung

11 %

Neuoffenbarungen

8%

Weitere bibelfundamentalistische Orientierungen

5 %

Apostolische und katholikale Orientierungen

3 %

Landeskirchliche Orientierungen

1 %

Neugeist-Bewegung

1.1.3. Säkulare Orientierungen in % von 1810 Anfragen:

49 %

Persönlichkeitstraining

19 %

Psychologische Schulen

12 %

Säkulare Lebenshilfen / Beratungsangebote / Gesundheit

10 %

Wirtschaftliche Vertriebssysteme

2 %

Bildung / Erziehung

1.1.4. Erste Annäherung: die Visionen

Nicht ganz selbstverständlich ist die Erkenntnis, dass im öffentlichen Reden über "Sekten" der Religionsbezug als sekundär gesehen wird: auch säkulare Gruppen werden offensichtlich als "sektiererisch" empfunden. Augenfällig ist in allen drei weltanschaulichen Grundtendenzen, dass es überwiegend um Ideologien geht, die auf das Selbst der einzelnen Menschen ausgerichtet sind, sei es im Rahmen esoterischer oder säkularer Persönlichkeitstrainings oder im Rahmen bibelfundamentalistischer Bekehrungsarbeit. In allen drei Richtungen wird die "Verbesserung" des einzelnen Menschen als Schlüssel für die "neue" Gesellschaft gesehen: Evangelikale setzen auf die Bekehrung des einzelnen als einziger Weg zum Heil der Welt, Esoterikerinnen postulieren die individuelle Selbstvergöttlichung durch Einweihung oder Initiation in die "kosmischen" oder "geistigen Gesetze", und die Säkularisten predigen die Schulung von sozialen und kommunikativen Kompetenzen als Schlüssel zum schnellen wirtschaftlichen oder persönlichen Erfolg. Wenn in der jüngeren Literatur zur "Sekten"-Diskussion immer häufiger von "vereinnahmenden" Gruppen die Rede ist, so dürfte der Anlass dazu in diesem Ringen um das "erweiterte" oder "bekehrte" Bewusstsein der einzelnen Menschen liegen. Die Verheissung von individueller Befreiung und Kompetenzerweiterung, die mit solchen Angeboten in der Regel einhergeht, konkurriert paradoxerweise mit dem Interessen einer Gruppe, sich auf dem Markt der Weltanschauungen auch mit Mitteln zu behaupten, die eine Beschränkung individueller Entscheidungs- und Kritikfähigkeit ihrer Anhängerschaft mit einschliesst oder gar gezielt hervorruft. Abhängigkeitsverhälnisse und schrittweise Entfremdung vom angestammten Lebensumfeld bis zur sozialen und intellektuellen Isolation im Sinnkontext einer Gruppe sind dann die Folgen.

1.2. Die am häufigsten angefragten Gruppen

Die nachfolgende Zusammenstellung von Gruppen ist keine "Sekten"-Liste: Das einzige Auswahlkritierium ist die Häufigkeit der Anfragen bei infoSekta. Daraus ergibt sich eine zweite quantitative Annäherung an die Frage, worum es überhaupt geht, wenn öffentlich von "Sekten" die Rede ist. Ob und in welchem Umfang die angefragten Gruppen auch tatsächlich Merkmale einer "Sekte" tragen, ist mit der Auflistung alleine noch keineswegs beantwortet. Die Häufigkeitsanalyse war insofern schwierig, weil die Bestimmung einer sogenannten "Gruppe" nicht immer klar oder offensichtlich war. Manche Anfragen betrafen kleine lokale Einzelgemeinden oder Unterorganisationen. Noch verhältnismässig einfach war die Gruppenbestimmung, wenn eine genannte Gruppe einem Organisationsverband angehört, wie zum Beispiel "Narconon" zu "Scientology Church" oder "International Christian Fellowship" zu "Newlife International". Schwieriger wurde es, wenn zwischen verschiedenen genannten Gruppen eine hohe inhaltliche Übereinstimmung und oft auch personeller Austausch, aber keine gemeinsame Organisationsstruktur erkennbar waren wie zum Beispiel bei vielen pfingstlerischen Gruppen. Um dennoch Aussagen zur Frage machen zu können, worum es inhaltlich bei den angefragten Gruppen geht, habe ich solche Gruppen zusammengefasst und in der untenstehenden Aufstellung mit *) gekennzeichnet. Als Beratungsfälle ("B-Fälle") sind zudem jene Anfragen ausgewiesen, die über die reine Informationsnachfrage hinausgingen, in denen also die anfragende Person Rat in einer Entscheidungssituation oder Unterstützung in einer Problemsituation suchte (4).

1.2.1. Esoterischer Bereich: Die grössten Anfragehäufigkeiten

 

Anzahl Gruppen

Anzahl Anfragen

davon B-Fälle

Scientology Church

1

554

227

Universale Kirche

1

108

39

ISKCON / Hare Krishna-Bewegung

1

94

42

*) Rosenkreuzer und Templer (5)

(8)

83

26

Avatar. Zentrum für bildende Kommunikation

1

74

29

Universelles Leben

1

67

27

*) Osho-Bewegung (ehem. Bhagwan) (6)

(7)

64

26

Sri Chinmoy-Bewegung

1

63

26

I Am-Bewegung, Saint Germain Foundation

1

52

23

Humanistische Bewegung / Partei

1

50

9

Orden Fiat Lux

1

47

12

Institut für Angewandte Kurzzeittherapie (Quadrinity)

1

46

20

Bruno Gröning Freundeskreis

1

45

16

Gralsbewegung

1

42

18

Eckankar

1

39

6

Transzendentale Meditation

1

29

14

*) Anthroposophische Gruppen und Anthroposophie allgemein (7)

(11)

26

9

Sathya Sai Baba-Vereinigung

1

26

10

*) Reiki-Angebote

 

25

9

Spiritual Human Yoga

1

24

6

*) Verschiedene Satansgruppen

 

21

9

Ananda Marga

1

20

7

Rael-Bewegung

1

18

5

Siddha Yoga Centers

1

18

8

Geistige Vereinigung Methernita

1

17

4

Summen:

25 (46)

1652

627

 

1.2.2. Christlicher Bereich: Die grössten Anfragehäufigkeiten

 

Anzahl Gruppen

Anzahl Anfragen

davon B-Fälle

*) Pfingstlerische Gruppen und Pfingstbewegung allgememein (8)

(73)

348

168

Jehovas Zeugen

1

314

133

Newlife International (v.a. ICF)

1

121

51

Neuapostolische Kirche

1

99

23

Mormonen

1

76

23

Michaelsvereinigung

1

73

28

Vereinigungskirche

1

63

15

International Church of Christ (Gemeinde Christi)

1

62

29

*) Katholische Gruppen (9)

(14)

54

15

Freie Evangelische Gemeinden (FEG)

1

50

28

Siebenten-Tags-Adventisten

1

46

19

Chrischona-Gemeinden

1

43

18

Familie der Liebe (ehem. Kinder Gottes)

1

41

11

*) Darbystische Gemeinden (Brüder-Bewegung) (10)

(10)

33

13

Vineyard-Bewegung ("Toronto Segen")

1

33

8

Campus für Christus

1

24

5

*) Täuferische Gemeinden (11)

(3)

23

6

Christliche Wissenschaft

1

22

7

Missionswerk Mitternachtsruf

1

21

10

Gideonbund

1

18

5

Jugend mit einer Mission

1

16

9

Zoe Evangelistische Vereinigung

1

16

7

*) Methodistische Gruppen (12)

(4)

15

6

Operation Mobilisation

1

12

2

Up with People

1

12

6

Int. Vereinigung Christlicher Geschäftsleute (IVCG)

1

11

4

REMAR Christliches Rehabilitationszentrum

1

10

6

Summen:

27 (126)

1656

655

 

1.2.3. Säkularer Bereich: Die Gruppen mit mindestens 10 Anfragen

 

Anzahl Gruppen

Anzahl Anfragen

davon B-Fälle

Landmark Education

1

775

311

Verein zur Förderung d. Psychol. Menschenkenntnis (VPM)

1

308

99

Herbalife

1

67

9

Amway

1

57

18

Le Patriarche

1

35

13

Alfred Adler Ganzheitliche Schule (AAGS)

1

28

7

Dale Carnegie

1

24

7

*) NLP-Angebote

 

21

3

Trendline Seminar AG

1

19

10

Allgemeiner Wirtschaftsdienst (AWD)

1

16

2

International Marketing Corporation (IMC)

1

14

1

Hargrove

1

12

7

Guttempler (IOGT)

1

12

4

Aktionsanalytische Organisation (AAO)

1

10

2

Humana Kleinderhandel GmbH / DAPP / TVIND

1

10

2

Anderes

1

10

4

Summen:

16 (15)

1418

499

 

1.2.4. Weitere Weltanschauungsbereiche

Von den häufig angefragten Gruppen, die ich nicht einer der drei weltanschaulichen Grundtendenzen zugeordnet habe, sind noch je eine mit japanischem und islamischem Hintergrund zu nennen:  

 

Anzahl Gruppen

Anzahl Anfragen

davon B-Fälle

Yamagishi-Vereinigung

1

76

25

Bahai-Religion

1

40

9

Summen: Weitere

2

116

34

1.2.5. Zweite Annäherung: die Gruppen

4842 (oder 71 %) der insgesamt 6779 Anfragen bei infoSekta zwischen 1991 und 1999 beziehen sich auf 70 Gruppen. (13) Davon waren 1815 (38 %) Beratungsfälle. Ohne dass hier auf die spezifischen organisatorischen und ideologischen Eigenheiten der einzelnen Gruppe eingegangen werden kann, macht schon die Übersicht dieser 70 Gruppen deutlich, dass unter dem Stichwort "Sekte" kein einheitlicher Organisationstyp gemeint sein kann. Bestenfalls kann festgestellt werden, dass gemeinsame weltanschauliche Perspektiven die Wahrscheinlichkeit für ähnliche Gruppenformen erhöhen. So dominieren in der Esoterik einerseits "Initiationsgruppen" gnostischer (Scientology, Universale Kirche, Rosenkreuzer und Templer, I Am, Humanistische Partei, Gralsbewegung) und guruistischer Prägung (Hare Krishna, Chinmoy, Eckankar, Transzendentale Meditation, Sai Baba, Ananda Marga), aber auch New Age-"Transformationsgruppen" (Avatar, Osho-Bewegung, Institut für Angewandte Kurzzeittherapie) und "Channeling"-Gruppen (Universelles Leben, Orden Fiat Lux, Bruno Gröning Freundeskreis, Reiki, Rael-Bewegung, Geistige Vereinigung Methernita). 
Im christlichen Bereich dominieren "Bekehrungsgruppen", in denen die persönliche Bekehrung zu Jesus Christus und das öffentliche Kundtun oder Missionieren der eigenen Gläubigkeit zentrale Glaubenselemente bilden. Als äusseres Symbol dieser Art von Gläubigkeit erlebt das sogenannte "Fischli" quer durch die verschiedensten evangelikalen Freikirchen hindurch eine Renaissance - meist unübersehbar aufgeklebt auf Autohecks, Taschen, Velos, Gitarren und T-Shirts ("Fischli"-Christen). Das Fischli-Symbol wurde bereits von den Frühchristen als geheimes Erkennungsmerkmal benutzt und seine griechische Bezeichnung "ICHTHYS" bildet den Schlüssel zum Glaubens bekenntnis in Kurzversion: "Jesus Christus Gottes Sohn Erlöser".
Die bei infoSekta thematisierten Bekehrungsgruppen sind in der Regel "Freikirchen", das heisst, christliche Gemeinschaften, die weder als Landeskirche (bzw. Staatskirche / Traditionskirche) gelten noch den Landeskirchen angeschlossen sind und somit keine staatliche Erlaubnis haben, ihren Unterhalt über Kirchensteuern zu bestreiten. Es sind institutionell "freie" Kirchen, die auf das Wohlwollen bzw. auf den Zehnten und die Spenden der Anhängerschaft angewiesen sind. Daraus entsteht eine Abhängigkeit, die für manche Gemeindeleitung auch eine Versuchung bilden kann, vereinnahmende Methoden für die Bekehrung und Glaubensfestigung einzusetzen.
Unter den Bekehrungsgruppen gibt es einerseits eine Vielzahl kleiner und kleinster Gemeinden mit relativ hoher Gemeindeautonomie (in der Regel pfingstlerisch-charismatische oder pietistische Gruppen wie z.B. das ICF und die Chrischona-Gemeinden), in denen die Gemeindeleitenden weitgehend "frei" bzw. lediglich "Gott" Rechenschaft schuldig sind, wie sie ihre Gläubigenschar organisieren und welche Botschaften sie auf welche Weise propagieren. Andererseits gibt es aber auch Bekehrungsgruppen mit ausgewachsenen und straff hierarchischen Kirchenstrukturen (Jehovas Zeugen, Neuapostolische Kirche, Mormonen, Vereinigungskirche u.a.).
Einen heterogeneren Eindruck hinterlassen die Gruppen im säkularen Bereich. Mehrheitlich handelt es sich um kommerziell ausgerichtete und international organisierte Seminaranbieter im Bereich der Persönlichkeitsbildung (Landmark Education, Dale Carnegie, NLP-Angebote, Trendline, Hargrove). Daneben sind aber auch Strukturvertriebsfirmen (Herbalife, Amway, International Marketing Corporation) oder Gruppen, die sich in besonderer Weise sozialpolitisch engagieren, thematisiert worden (VPM, Le Patriarche, Humana Kleiderhandel GmbH). Mit der Aktionsanalytischen Organisation ist auch eine Kommune vertreten, die aus der 68er-Bewegung hervorgegangen ist.
Charakteristisch für viele Gruppen mit nur wenigen Anfragen (vgl. nächster Abschnitt 1.3) sind zudem die Guttempler (IOGT): Der wesentlichste Anlass solcher Anfragen war Unsicherheit in der Abgrenzung und Einschätzung der Gruppe, bei den Guttemplern bedingt durch ihren Namen. Das Drama um die Sonnentempler warf die Frage auf, ob die Guttempler mit den Sonnentemplern vergleichbar seien. (14)

1.3. Die wachsende Unübersichtlichkeit

Die restlichen 1937 Anfragen (29 %) verteilen sich auf 1206 Gruppennamen: 255 Gruppen mit mehr als einer Anfrage und 951 mit genau einer Anfrage (vgl. Abb. 3). 604 dieser Anfragen (31 %) waren Beratungsfälle. Der Anteil der reinen Informationsanfragen ist hier also etwas grösser als bei den 70 häufig angefragten Gruppen. Bei 378 dieser Gruppen (31 %) war aufgrund von Informationsmangel eine weltanschauliche Einordnung nicht möglich (vgl. Abb. 4).

1.3.1. Dritte Annäherung: Die neue Unübersichtlichkeit

Offensichtlich scheint das Phänomen der "Sekten" auch eines der mangelnden Übersichtlichkeit zu sein, wie sie schon bei den oben erwähnten Anfragen aufgrund von Abgrenzungsunsicherheiten zum Ausdruck gekommen ist. Es ist anzunehmen, dass mit dieser Unübersichtlichkeit im Bereich der Weltanschauungsgruppen für manche eine starke persönliche Verunsicherung in zentralen Lebensfragen einhergeht. Mehrere Faktoren sprechen dafür: Der enorme gesellschaftliche Wandel der letzten Jahre hat dazu beigetragen, dass die Zahl der unter Sinnkrisen leidenden und suchenden Menschen stark angestiegen ist. Betrachtet man die Gründungsjahre der bei infoSekta thematisierten Gruppen, so zeigt sich, dass gleichzeitig auch die Zahl der um die einzelnen Menschenseelen werbenden oder missionierenden und zum Teil mit enormem Propagandamitteleinsatz operierenden Gruppen stark gestiegen ist. Dies wiederum lässt in unserer Zeit des Individualismus und der kultivierten Selbstbestimmung bei vielen die Furcht wachsen, in Vereinnahmungsprozesse durch eine Gruppe verwickelt zu werden. Dennoch ist selbst für aufgeschlossene Menschen der Zugang zu kritischen Informationen trotz Internet nicht immer einfach. Selbst unter Kennern des Weltanschauungsmarktes gibt es zu manchen Gruppen wenig verlässliche Informationen, die eine angemessene und problemgerechte Einschätzung erlauben würden. Seriöser Forschung und sachliche Aufklärungsarbeit öffnet sich hier ein weites Feld.

1.4. "Sekten" als Fragen der gesellschaftlichen Sicherheit

Der kleinste gemeinsame Nenner der meisten aufgeführten Gruppen dürfte darin bestehen, dass ihre ideologischen Gruppenziele offenbar den Einsatz von Mitteln und Methoden rechtfertigen, die von der Gesellschaft und vom sozialen Umfeld als mehr oder weniger problematisch oder fragwürdig erachtet werden. Werden entsprechend "Sekten" als Fragen der gesellschaftlichen und der individuellen Sicherheit thematisiert, bedeutet das eigentlich, dass für jede Gruppe analysiert werden müsste, welche Missionierungstechniken sowie Beeinflussungs- und Kontrollmethoden eingesetzt werden, welche Wirkungen dieser Mitteleinsatz sowohl auf die Anhängerschaft als auch auf das soziale Umfeld hat und schliesslich mit welchen ideologischen Dogmen oder Lehrelementen entsprechende Mitteleinsätze und Handlungsweisen begründet oder gerechtfertigt werden. Der Aufwand für eine solche Analyse ist enorm und führt von Gruppe zu Gruppe wahrscheinlich zu unterschiedlichen Ergebnissen.
Der einfachere, dafür im Ergebnis auch deutlich weniger präzise Weg führt über die Frage, ob und welche ideologischen Lehrelemente in den Weltanschauungen der Gruppen hemmend auf die individuelle Entscheidungs- und Kritikfähigkeit der Anhängerschaft wirken, welche unmittelbaren Wirkungen bestimmte Vorstellungsmuster also auf das Selbstverständnis der Anhänger, auf ihr Denken, Fühlen und soziales Handeln entfalten können und welche Handlungsspielräume sie gleichzeitig den Gruppenverantwortlichen eröffnen. Eine solche Betrachtung unternehme ich nun im zweiten Teil in einer kurzen Darstellung ideologischer Grundelemente der beiden sich konkurrierenden religiös-spirituellen Weltanschauungsbereichen, der christlichen (15) und der esoterischen Gruppen.

2. Der Wille zur neuen Gesellschaft

Ein ideologisches Grundmerkmal der meisten bei infoSekta angefragten Gruppen ist eine grundlegend tiefe Unzufriedenheit mit oder gar klare Ablehnung der aktuellen gesellschaftlichen Verhältnisse. Selbstverständlich ist gesellschaftliche Unzufriedenheit und Gesellschaftskritik beileibe kein Privileg von "Sekten". In "Sekten" knüpft jedoch ein zweites Grundmerkmal daran an: Praktisch alle "Sekten" glauben, über Konzepte und Lösungen zu verfügen, welche die angeblich verdorbene und höchst unvollkommene Welt verbessern können. Wiederum beschränkt sich natürlich - und zum Glück - der Wille zur Erneuerung und Verbesserung gesellschaftlicher Verhältnisse keineswegs nur auf Mitglieder von "Sekten". Doch während in der nichtsektiererischen Welt Problemanalysen und Lösungsansätze keineswegs gleich von Anfang an gegeben sind, sondern intensiv um Beurteilungen und Teillösungen gerungen, debattiert und gestritten wird, bis sich ein Konsens abzeichnet (schliesslich liegt hierin auch der tiefere Sinn demokratischer Strukturen), leben "Sekten" in der Vorstellung, dass sie nicht nur präzise wissen, wo die Probleme tatsächlich liegen, sondern dass sie auch über die perfekten und einzig brauchbaren Lösungskonzepte verfügen, über die es nichts zu verhandeln gibt. In der Regel sind es universalistische Konzepte, die die Schaffung der perfekten Welt, von paradiesischen Verhältnissen nach ihren Vorstellungen versprechen. Trotz diesem gemeinsamen ideologischen Grundmuster vieler als "Sekten" thematisierter Gruppen, können die ideologischen Lehrelemente im Detail aber weit auseinanderliegen.

2.1. Die Wahrnehmung des Menschen

Ein erster wichtiger ideologischer Unterschied zwischen den Gruppen zeigt sich in der Wahrnehmung des Menschen. In den christlichen Bekehrungsgruppen gilt der Mensch als ein zutiefst sündiges Wesen, das seit dem biblischen Sündenfall von Adam und Eva von Gott abgefallen und so hoffnungslos dem Einfluss Satans ausgeliefert ist. Hoffnungslos heisst hier, dass der Mensch für unfähig erachtet wird, sich selber den satanischen Einflüssen zu entziehen und auf die Gnade Gottes angewiesen ist. Als satanischer Einfluss gilt in der Regel vieles, was unsere säkulare und liberale Gesellschaft oder eben die moderne, plurale Welt ausmacht, angefangen beim Materialismus über den Individualismus bis hin zum Sexualverhalten. Dieser Ansatz bietet den Gruppenverantwortlichen eine wichtige Legitimation, "Heidenmission" als oberste Maxime zu propagieren, eine Missionierung, die selbst die Christen der Landeskirchen in die Zielgruppen der zu Bekehrenden einschliesst. Umgekehrt bildet eine solch pessimistische Wahrnehmung des Menschen eine nicht zu unterschätzende Hypothek für das Selbstbewusstsein und das Selbstwertgefühl der einzelnen Anhänger und Anhängerinnen.
In der Esoterik herrscht dem gegenüber ein anderer Ansatz vor. Zwar gilt der Mensch auch in der Esoterik gewöhnlich als unvollkommen. Und die Gründe dafür werden ähnlich wie bei den christlichen Gruppen als Folge schädlicher Einflüsse der säkularen und materialistischen Welt gesehen. Aber eben, in der Esoterik gilt der Mensch lediglich als unvollkommen. Ausgehend von einem "okkulten Axiom" (Horst Stenger), dass es eine grössere, unseren Sinnesorganen unzugängliche Überwelt gibt, die schicksalsbestimmend ist für die sichtbare Welt, fordert die Esoterik vom einzelnen, sein "wahres Selbst" , das ein unsterblicher Teil dieser okkulten Überwelt, ein "Gottesfunke" sei, zu entdecken und bis zur spirituellen Vollkommenheit zu entfalten. Während die christlichen Missionare also mit harten Bildern am oft schon prekären Selbstwertgefühl der Menschen nagen und reuige "Bekehrung" für unabdingbar halten, knüpft die Esoterik an Gefühlen der Weltfremdheit und der Ohnmacht an und verbindet sie mit dem elitären Gefühl, einer höheren Menschheitsordnung zugehörig zu sein. Davon ausgehend wird in der Esoterik die individuelle Selbstfindung zum revolutionären Paradigma einer spirituellen Evolution überhöht bis hin zur Erleuchtung als Gottmensch. Esoterik schürt so überzogene Allmachtsphantasien und den Traum einer gottähnlichen Führungselite für die Menschheit.

2.2. Die Quellen der Erkenntnisgewissheiten

Aufgrund dieser Menschenbilder ist es denn auch nicht erstaunlich, dass Christen und Esoterikerinnen die Quellen ihrer Erkenntnisgewissheiten völlig unterschiedlich sehen. Die Bekehrungsgruppen, die den Menschen der "Sünde" hilflos ausgeliefert sehen, trauen ihm wenig bis keine autonome Erkenntnis- und Lernfähigkeit zu, sondern postulieren stattdessen ein Heiliges Buch, die Bibel als das inspirierte Wort Gottes, das als absolute und nicht weiter zu hinterfragende Wahrheit zu gelten und nach dem sich der fehlbare Mensch auszurichten hat. Die Bibel erhält so die Funktion von Gesetz und Gebot für sämtliche Fragen und Aspekte des täglichen Lebens, und zwar für die Anhängerschaft in einer meist verbindlicheren Weise als die Gesetzes- und Regelwerke, welche die moderne Zivilisation hervorgebracht hat. Eine Zusammenstellung sozialer Konflikte, die sich aus solch unterschiedlichen Massstäben von göttlichem und weltlichem Recht schon ergeben haben, liesse eine beachtlich lange Liste entstehen.
Die Esoteriker und Esoterikerinnen gehen umgekehrt davon aus, dass die Quelle der Erkenntnis nicht ausserhalb, sondern in jedem Menschen selber liegt. Der Mensch muss sie nur zu finden wissen und entsprechend nutzbar machen. Gerade darin aber liegt das Problem der esoterischen Erkenntnisgewissheit. Denn wenn in der Esoterik von Erkenntnis die Rede ist, dann geht es letztlich um die Kenntnis eines göttlichen Heilsplanes (Gnosis), der schicksalhaft festgeschrieben ist, z.B. populär in den Sternen der Astrologie oder geheimnisvoller in der sogenannten "Akasha-Chronik" theosophischer und anthroposophischer Gruppen, einer Art "kosmischer Bilderg alerie", die es durch Imagination und Intuition zu erfassen gilt.
Esoterik ist darüber hinaus im wesentlichen ein Denken in Analogien, eine Wahrnehmung, die den Dingen verborgene Gesetze von Korrespondenzen und Harmonien unterstellt: "wie oben, so unten" zum Beispiel in der Astrologie, die den "Makrokosmos" analog zum "Mikrokosmos" sieht; "wie innen , so aussen" zum Beispiel in der Physiognomie, beim Handlesen usw. Dabei wird das kausal-analytische Denken der Moderne zum Teil sehr explizit und pauschal als "materialistisch" zurückgewiesen und nicht selten gerne deren Schwächen und Probleme auch propagandistisch ausgeschlachtet (zum Beispiel durch pauschales Schlechtmachen der wissenschaftlichen Medizin). Mit anderen Worten: Die Esoterik verweigert sich dem archimedischen Punkt der modernen Wissenschaft - der Rückbindung von Theorien an überprüf- und falsifizierbare Empirie - und steht so spekulativen Höhenflügen im Extremfall bis hin zu kruden Verschwörungstheorien ohne brauchbare Instrumenten der Qualitätssicherung kritiklos gegenüber. Entsprechend populär und verbreitet sind in der Esoterik denn auch Mythen und Legenden und nicht wenige esoterische Ansätze tendieren zu einem radikalen Konstruktivismus, in dem einzig "feinstoffliche", subjektive Wahrnehmungen der geistigen und seelischen Welt (Gedanken, Gefühle) Gültigkeit haben und "grobstoffliche", materiell objektive Sachzwänge ignoriert oder gar negiert werden (zum Beispiel: den Stuhl, auf dem ich sitzte, gibt es nur, weil ich ihn mir denke, oder: Krankheit oder Armut ist ausschliesslich eine Frage des richtigen Bewusstseins).
Weil Imagination, Intuition und Denken in Analogien die Grundlage des esoterischen Heilswissen bilden, darf es nicht weiter erstaunen, dass "wahre" esoterische Erkenntnis faktisch nur durch Schulung, durch Einweihung oder Initiation in die "Geistigen Gesetzes" des Lebens möglich werden kann. Spätestens hier aber zeigen Esoteriker und Esoterikerinnen in der Regel die selbe Grundhaltung, die gerne auch den Bekehrungschristen attestiert wird: eine fundamentalistische. Fundamentalismus als eine ideologische Haltung beantwortet die unbequeme, aber für eine demokratisch orientierte Gesellschaft wichtige Frage, wer bestimmt, was gilt, von vornherein mit der axiomatischen Festlegung auf ein bestimmtes Lehrdogma (oder auf die Erkenntniskompetenz bestimmter Personen oder auf die unfehlbaren Qualitäten bestimmter Methoden der Erkenntnisgewinnung) und erklärt die daraus abgeleiteten Lehrsätze als unfehlbar und absolut verbindlich. Esoteriker legen sich in der Regel auf die Erkenntniskompetenz bestimmter Personen (zum Beispiel Medien, "Channels" oder "Sprachrohre Gottes" wie Uriella) oder bestimmte Methoden der Erkenntnisgewinnung fest (zum Beispiel das Auditing von Scientology). Und in der Verteidigung ihrer Erkenntnisgrundlagen zeigen auch Esoteriker jene Bunkermentalität, die für den Fundamentalismus typisch ist: Unnachgiebigkeit, Unversöhnlichkeit, Isolierung im Wir-Gefühl der eigenen Gruppe und im Bewusstsein besonderer Auserwähltheit, Neigung zu Personenkult und fraglos-demütiger Nachfolgeschaft, unkooperative Haltung aufgrund radikal dualistischer Aufteilung der Welt in Gut und Bös und Diskursunfähigkeit. Fundamentalisten diskutieren nicht, sondern predigen, erörtern nicht, sondern stellen fest, suchen und fragen nicht, sondern haben, zumindest was die Grundlagen ihrer Erkenntnisgewissheiten anbelangt, bereits entschieden. Sie halten sich für die einzigen Rechtgläubigen. Wer anderer als ihrer Meinung ist, liegt grundsätzlich falsch. (16)

2.3. Zeit- und Zukunftsperspektive

Im Christentum wird üblicherweise davon ausgegangen, das der Mensch geboren wird, lebt, stirbt und nach dem Tod mit seiner Seele im Jenseits weiterlebt. Das irdische Leben aus christlicher Sicht folgt also einem linearen Zeitverständnis. Der Mensch hat eine einzige, einmalige Lebenschance, und je nachdem, wie er diese nutzt, warten im Jenseits für die Gläubigen der Himmel und für die Ungläubigen die Hölle. In christlich-fundamentalistischen Gruppen beschränkt sich diese lineare Zeitperspektive jedoch nicht nur auf das Leben des einzelnen Menschen. Vielmehr wird dieses Muster auch auf die Wahrnehmung der gesamten Menschheitsgeschichte übertragen. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts sind eine Vielzahl von Gruppen wie die Adventisten und die Zeugen Jehovas entstanden, die glauben, dass das zweite Kommen von Jesus und damit das Ende der abgefallenen Menschheit sehr nahe bevorsteht und der genaue Zeitpunkt sich aus der Bibel entschlüsseln oder berechnen lässt. Die Bilder, die mit diesem Weltende verbunden werden, sprechen oft von apokalyptischen Schlachten, einer gnadenlosen Abrechnung Gottes mit allen Ungläubigen und vom Anbrechen himmlischer Zeiten im Tausendjährigen Gottesreiches.
Die psychologisch drängende Wirkung solcher Zeit-Bilder auf die Hoffnungen und tiefen Ängste der Gläubigen sollte nicht unterschätzt werden. Sie bilden eine der ideologischen Grundlagen dafür, was von Aussenstehenden als fanatischer Missionseifer wahrgenommen wird, denn schliesslich gilt es für die Gläubigen, vor dem Weltende noch möglichst viele Ungläubige zu bekehren, um diese für das Paradies zu retten und für sich selber eine optimale Ausgangslage für das göttliche Endgericht zu schaffen. Zudem wirken solche Zeit-Bilder isolierend, weil der Kontakt zu Nichtgläubigen ohne Missionsabsichten in der Regel als Zeitverschwendung betrachtet wird. (17)  
Die Esoterik hingegen sieht das Leben nicht als eine einmalige Chance und ist gegenüber Vergänglichkeit und Tod entsprechend gelassener, manchmal so gelassen, dass sie leicht in Lebensverachtung umkippen kann. Die Forderung nach der spirituellen Evolution der Seele kann bis zur Vorstellung reichen, dass die sterbliche Körperhülle nur Ballast für die unsterbliche Seele sei, den es zu überwinden und abzuwerfen gelte &endash; auch mit jenen destruktiven Konsequenzen, wie sie in jüngster Zeit mehrfach bekanntgeworden sind (Sonnentempler, Heavens Gate, Aum Shinrikyo). Wiedergeburt bzw. Reinkarnation ist der zentrale Schlüsselbegriff, der hinduistische und buddhistische Weltbilder mit der abendländischen Esoterik verbindet, und steht für die Vorstellung, dass das "unsterbliche", jedoch "karmisch" belastete "wahre Selbst" im endlosen Kreislauf von Leben und Tod in einer Vielzahl "grobstofflicher" Körper eingefleischt werde. Damit verliert der Tod in der Esoterik das Stigma des Endgültigen. Statt dessen definiert die Reinkarnationslehre die aktuelle menschliche Lebenssituation als Verdienst oder Strafe für das Tun in vorangegangenen Leben (was jedes Insistieren auf soziale Gerechtigkeit sinnlos macht) und verspricht die Chance, durch Wohlverhalten gemäss karmischen Gesetzen mit einem spirituell-evolutionärem Fortschritt im künftigen Leben belohnt zu werden. Die sozialen Implikationen, die sich aus solchen Lebenskonzepten für eine demokratische und an elementarer Menschenwürde orientierte Gesellschaft ergeben, wären sicher weiterer Überlegungen wert.

2.4. Der Heilsweg

Der allwirksame Heilsweg, den die christlichen Fundamentalisten für den einzelnen wie für die Gesellschaft propagieren, heisst &endash; wie wir schon gesehen haben - Bekehrung zu Jesus Christus und Missionierung der Welt. Nur wenn jeder Mensch öffentlich seine Reue gegenüber Gott bekennt und seine Lebensführung bedingungslos den moralischen Geboten der Bibel unterwirft, hat die Menschheit eine Heilschance. Ihren Missionsauftrag leiten evangelikal-fundamentalistische Gruppen von der Bibel ab, und die Mittel, die für die Weltevangelisation eingesetzt werden, haben in den letzten zwanzig Jahren enorme Ausmasse angenommen. Wurde Bekehrungsarbeit traditionell überwiegend in Haus- und Bibelkreisen und in lokalen Evangelisationsveranstaltungen geleistet (Pietismus), wird diese Missionsarbeit heute nordamerikanisch inspiriert auf zwei Ebenen verstärkt: Einerseits kann eine eigentliche Welle neuer Gemeindegründungen im Sinne einer "Verselbständigung aktiver Glaubenskreise" (18) beobachtet werden. In der Regel handelt es sich um sehr kleine Gemeinden mit meist engen sozialen Milieus, die der Anhängerschaft zwar emotionale Geborgenheit zu bieten vermögen, aber eben auch ein Umfeld abgeben, das sich sehr gut zur Vereinnahmung für fundamentalistischen Glaubensvorstellungen eignet. (19)
Andererseits werden seit Anfang der 1990er Jahren professionelle und flächendeckende Propagandaveranstaltungen organisiert, in denen auch moderne und teure Kommunikationsmittel und &endash;strategien zum Einsatz kommen wie zum Beispiel bei "Jesus für Züri" von Campus für Christus (1993), "Vom Minus zum Plus" von Reinhard Bonnke / Christus für alle Nationen (1995) oder jüngst bei "ProChrist" mit Ulrich Parzany / CVJM (2000). Insgesamt propagiert der christliche Fundamentalismus hier die Perspektive einer moralisch verbindlichen Einheitskultur, die wenig individuelle Freiheiten zulässt.
Gegenüber der extrovertierten Verkündigungsmentalität der Bekehrungschristen sind esoterische Gruppen in der Regel geheimniskrämerisch. Ihrem Paradigma der spirituellen Evolution: "Du sollst Dein 'wahres Selbst' entdecken und bis zur spirituellen Vollkommenheit entfalten", wird in der Regel die Behauptung angehängt, nur ein kleiner Kreis von "Eingeweihten" kenne die "geistigen Gesetze" der spirituellen Evolution und könne diese den spirituell Berufenen zugänglich machen, und gipfelt schliesslich im Aufruf, den Weg der persönlichen Inititation in einer esoterischen Gemeinschaft zu gehen. (20) Damit reduziert sich die Erkenntnisfreiheit der esoterisch Suchenden weitgehend auf eine gewisse Wahlfreiheit der Meister, denen sie sich spirituell anvertrauen. Auch wenn noch lange nicht alle Menschen, die sich mit Teilaspekten der Esoterik beschäftigen, diesen Aufruf vernehmen, so bleibt doch im Kern der Esoterik das klassische Meister-Schüler-Verhältnis mit Anspruch auf ein "geistig-seelisches Führertum" (Gugenberger) und der Verpflichtung zu Geheimhaltung und Gruppenloyalität (Arkandisziplin) prägend.
Mit anderen Worten: Spätestens hier korrumpieren die oft und gern genannten Anliegen der Esoterik, die individuelle Selbstfindung und spirituelle Selbstentfaltung, faktisch in ihr Gegenteil. Die Menschen verlieren gerade in weltanschaulich sensiblen Glaubensbereichen ihre persönliche Autonomie und werden zu gutgläubigen Anhängerinnen und Anhängern von Lehrmeistern, die in der Regel gerne mit Absolutheitsansprüchen auftreten. Von aussen betrachtet kann festgestellt werden, dass esoterisches Schnuppern für viele zum Beginn eines eigentlichen Esoteriktourismus durch verschiedene Gruppen wird, bei dem die einzelnen Suchenden sich zusehends weltanschaulich, emotional, sozial und manchmal auch finanziell verstricken. Abhängigkeits- und Machtverhältnisse, wie sie für "Sekten" typisch sind und bizarre Formen annehmen können, finden in der Esoterik einen gegen kritische Einwände immunisierten ideologischen Grund.

Fussnoten

(1) Die Informations- und Beratungsstelle des Vereins infoSekta wurde am 4. September 1991 eröffnet. 1992/93 wurden im Durchschnitt 675 Anfragen pro Jahr bearbeitet, zwischen 1994 und 1996 durchschnittlich 1156 Anfragen und von 1997 bis 1999 waren es 1415 Anfragen pro Jahr.

(2) Das sind 73 % der insgesamt 9346 Anfragen zwischen 1991 und 1999. Aus der Analyse ausgeschlossen sind Anfragen zu allgemeinen Themen, Sammelanfragen zu mehreren Gruppen und auch die 154 Anfragen zum Verein infoSekta selber.

(3) Eine Kurzdarstellung der wichtigsten Elemente solcher Weltbilder folgt im zweiten Teil. Die grundsätzlich Problematik der Kategorisierung von Weltbildern und Zuordnungen zu bestimmten kulturellen Kontexten ist mir bewusst, kann ich hier aber nicht weiter erörtern.

(4) Von den 6779 Gruppenanfragen sind 4292 als Informationsanfragen und 2419 als "B-Fälle" eingestuft. "B-Fälle" sind neben der reinen Anfragehäufigkeit ein weiterer Hinweis dafür, in welcher Intensität eine Gruppe bei infoSekta thematisiert worden ist. Diese Zahl sollte aber genau so wenig wie die Anfragehäufigkeit als Mass für den allfälligen "Sekten"-Charakter einer Gruppe überbewertet werden.

(5) U.a.: Lectorium Rosicrucianum; AMORC; Sonnentempler.

(6) U.a.: Osho Multiversity; Osho Community International, Poona; Energy World (Michael Barnett).

(7) U.a.: Anthroposophische Gesellschaft; Christengemeinschaft; Rudolf Steiner-Schulen.

(8) U.a.: Christliches Zentrum Buchegg; Evangelischer Hausgemeindedienst; Gemeinde für Urchristentum (GfU); Schweizerische Pfingstmission.

(9) U.a.: Fokolar-Bewegung; Jesuiten; Katholische Kirche; Opus Dei

(10) U.a.: Evangelischer Brüderverein; Christliche Versammlungen; Missionswerk Werner Heukelbach; Ortsgemeinden.

(11) Evangelische Täufergemeinde (ETG); Mennoniten.

(12) Adonia; Best Hope; Evangelisch-methodistische Kirche; Heilsarmee.

(13) Im folgenden werden die oben mit *) gekennzeichneten Namen der Einfachheit halber als eine Gruppe gezählt. Betrachtet man nur die "B-Fälle" fällt das Verhältnis noch deutlicher aus: 1815 (oder 75 %) der insgesamt 2419 "B-Fälle" beziehen sich auf 70 Gruppen.

(14) Die Guttempler haben mit den esoterisch-gnostischen Templer nichts gemein. Es handelt sich um eine sozial engagierte Bewegung, die sich der Alkoholismusproblematik widmet.

(15 ) Im folgenden ist vor allem vom christlich-protestantischen Fundamentalismus die Rede, da er in den Anfragen bei infoSekta klar überwiegt. Dennoch soll nicht vergessen gehen, dass es auch einen vitalen katholischen Fundamentalismus gibt: Zwischen 1991 und 1999 war zum Beispiel das Bistum Chur, zu dem auch der Kanton Zürich gehört, einer eigentlichen Zerreissprobe zwischen den liberalen, offenen Katholiken und dem Opus Dei nahestehenden Bischof Wolfgang Haas ausgesetzt, einem Machtkampf, den die liberalen Katholiken vorerst für sich entscheiden konnten. Einen Überblick zu aktuellen Entwicklungen auf der katholischen Seite bietet das Handbuch "Neue Gruppierungen im Schweizer Katholizismus", herausgegeben vom Schweiz. Pastoralsoziologischen Institut (SPI) und von der Schweiz. Katholischen Arbeitsgruppe "Neue Religiöse Bewegungen" (NRB), NZN Buchverlag : Zürich 2000.

(16) "Katholischer Fundamentalismus. Häretische Gruppen in der Kirche? S. 66 ff. Verlag Friedrich Pustet : Regensburg.

(17) Flammer, Philipp, 1999. Gruppen unter Zeitdruck &endash; Wie in Sekten Zeit-Bilder gemeinschaftsregulierend funktionieren. In: Joachim Finger (Hg.), Vom Ende der Zeiten. Apokalyptische Visionen vor der Jahrtausendwende, S. 171 &endash; 192. Paulusverlag : Freiburg, Schweiz.

(18) Reinhard Hempelmann (Hg.), 1997. Handbuch der evanglistisch-missionarischen Werke, Einrichtungen und Gemeinden. Deutschland &endash; Österreich &endash; Schweiz, S. 275. Christliches Verlagshaus : Stuttgart.

(19) Flammer, Philipp, 1999. Die Propagandamaschinerie der Jesus-Heiler. Wunderheiler Erwin Fillafer und die 'Geschäftsleute des Vollen Evangeliums'. In: Michael Gautsch (Hg.), Christliche Sekten im Vormarsch. Die Broschüre zum Dokumentarfilm, S. 4 - 16. Cinetop-Film Verlag : St. Georgen / Längsee.

(20) Ausführlicher zu diesem Ideologiemodell der Esoterik: Flammer, Philipp, 1999. Esoterik: Die gesellschaftlichen Risiken der neuen Irrationalismen. In: TANGRAM Nr. 6, dem Bulletin der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus, S. 7-12. Bern.

Philipp Flammer

Soziologe, lic. phil., Mitarbeiter beim Verein infoSekta, der Informations- und Beratungsstelle für Sekten- und Kultfragen in Zürich.

Appendix

Abgedruckt in: infoSekta (Hg.), 2000. "Sekten", Psychogruppen und vereinnahmende Bewegungen. Wie der einzelne sich schützen kann. Was der Staat tun kann,  S. 57-78. NZN Buchverlag : Zürich.

© 2000. infoSekta, Zürich

 

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