"Sekte": Können wir auf dieses Wort verzichten? (Flammer, 1997)

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von Philipp Flammer


Überblick

Das Wort "Sekte" hat Hochkonjunktur. Die verschiedenen Sektendramen seit 1993 bei den adventistischen Davidianern im texanischen Waco, bei den esoterischen Sonnentemplern in der Westschweiz, dann die Giftgasanschläge der buddhistischen Aum Shinrikyo in Tokio und der Massensuizid der ufogläubigen Heaven's Gate-Gruppe in Kalifornien haben sicher das Ihre beigetragen und die Bedeutung des Wortes mitgeprägt: Der Begriff "Sekte" wird zunehmend zum Synonym für "radikal", "extremistisch", "vereinnahmend", "totalitär", "destruktiv". Dabei hat das Wort eine viel ältere Tradition. Über Jahrhunderte bezeichnete "Sekte" die Nachfolgerinnen oder Anhänger einer bestimmten Lehre, Partei oder Schule (lat. "secta", von "sequi": nachfolgen). Im christlichen Umfeld wurde das Wort dann eingeengt auf die Gegenüberstellung von "Kirche" und "Sekten" und bezeichnete fortan "häretische" Gruppen bzw. die Abtrünnigen vom wahren Dogma.
Heute dürfte vielen klar sein, dass das Wort Sekte problematisch ist, zumal es die Gefahr einer pauschal abwertenden und undifferenzierten Stigmatisierung von Glaubensgemeinschaften in sich trägt. Noch lange nicht jede als "Sekte" bezeichnete Gruppe hat deswegen schon das Kaliber der Sonnentempler oder von Scientology. Die Meinungen darüber, was mit dem Wort "Sekte" eigentlich bezeichnet werden soll, gehen zudem oft diametral auseinander. Die einen benutzen es als Schlagwort, die anderen - die "Sekte" Genannten - wehren sich vehement gegen diese "moderne Inquisition", wie sie sich ausdrücken. Religionswissenschaftler bemühen sich, das Wort zu "neutralisieren", oder streichen es ganz aus ihrem Vokabular. Doch können wir tatsächlich auf das Wort Sekte verzichten? Und falls ja: Welchen Preis müssten wird dafür zahlen und auf wessen Kosten ginge dies? Im folgenden will ich diesen beiden Fragen nachgehen.

"Sekte": ein politischer Streitbegriff

Das Wort Sekte ist kein wertneutraler Begriff und keine wissenschaftliche Kategorie mit genau definierten Merkmalen für bestimmte Glaubensformen oder Lebensstile. Die entscheidende Frage ist denn auch weniger, wie eine Sekte genau definiert ist, als vielmehr, was die Leute damit bewerten und aus welchen Gründen sie das Wort benutzen. Solche Wertungen können sehr unterschiedlich ausfallen.Folgend stelle ich das Problem der Wertung dar am Vergleich des kirchlichen Sektenverständnisses mit den Anfragen beim Verein infoSekta auf.
Noch in der vierten Auflage des Handbuches über "Kirchen, Sondergruppen und religiöse Vereinigungen" (1986) des reformierten Zürcher Theologen Oswald Eggenberger - in einem bekannten und nützlichen Standardüberblick - wurden einer bestimmten Auswahl von Gruppenbeschreibungen wertende Buchstaben beigefügt: ein (U) für "umstrittene" Gruppe, ein (S) für "Sekte". (Seit der fünften Auflage ist auf diese Kennzeichnung verzichtet worden, was zu begrüssen ist.) "Sekte" wird hier, ausgehend von einer Erklärung des Ökumenischen Rates der Kirchen, als eine Gemeinde definiert, "die sich aufgrund eigener Sonderlehren als die letztlich allein wahre Kirche ausgibt" (Eggenberger 1986, S. 21).
Geht man andererseits nun davon aus, dass all die Personen, die sich zwischen 1991 und 1993 mit Fragen zu einer bestimmten Gruppe an den Verein info-"Sekta" wandten, ebenfalls eine persönliche Wertung und Vorstellung mit dem Wort "Sekte" verbanden, und verglicht man sodann all jene Anfragen zu Gruppen, die auch im Handbuch von Eggenberger (1986) vorkommen, zeigt sich folgendes Bild:
Gerade ein Zehntel der Anfragen zu Gruppen, die auch im Handbuch vorkommen, betraf "Sekten" nach kirchlicher Definition. Etwa ein Fünftel betraf Gruppen, die auch im Verständnis von Eggenberger "umstritten" sind. Rund zwei Drittel der Anfragen jedoch betrafen Gruppen, die ausserhalb der kirchlichen Sektenbewertung liegen. Offensichtlich driften hier die öffentlichen und kirchlichen Vorstellungen und Bewertungen, die mit dem Wort Sekte verbunden werden, weit auseinander. Das Beispiel zeigt eindrücklich, wie leicht Sektendefinitionen das soziale Phänomen hinter dem Begriff verpassen können. Die Verwendung des Wortes Sekte kann ihre Berechtigung wohl weniger in einer theologischen Definition oder wissenschaftlichen Kategorie finden, als vielmehr in seinem Hinweis auf ein soziales Phänomen, das zuerst einmal eingehend beschrieben und analysiert sein will.
Die Vorstellungen davon, wie eine "Sekte" definiert werden soll, sind somit oft diffus und meist kontrovers. Diese begriffliche Unschärfe, die vielen schwer erträglich ist, birgt jedoch auch eine (allerdings wenig bequeme) Qualität: Sie zwingt zur Auseinandersetzung, nämlich immer wieder zu erklären, was denn nun genau mit dem Wort in einem konkreten Fall gemeint sein soll. "Sekte" ist ein politisches Wort, bei dessen Bedeutung und Bewertung - wie bei anderen politischen Wörtern wie "Freiheit" oder "Totalitarismus", "Demokratie" oder "Diktatur", "Kapitalismus" oder "Sozialismus" - ständig um gesellschaftlichen Konsens gerungen werden muss.Die oft emotionale Auseinandersetzung um das Phänomen, auf das die einen den Begriff "Sekte" anwenden, während die anderen ihn als falsche oder diffamierende Bezeichnung ablehnen, widerspiegelt somit Wertekonflikte zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Interessengruppen und Perspektiven. Um in dieser Frage, worum es denn eigentlich geht, wenn umgangsprachlich von "Sekte" die Rede ist, mehr Klarheit zu schaffen, will ich nun das Spannungsfeld anhand von vier organisierten Sichtweisen auf das Phänomen skizzieren. Dabei kann ich auf die Rolle der Medien und die Sicht des Staates in dieser Auseinandersetzung nicht eingehen.

Verschiedene Perspektiven

Die Perspektive der Vertreterinnen und Vertreter jener Gruppen, die in der Öffentlichkeit als "Sekte" bezeichnet werden, zeigt sich exemplarisch im Vereinsnamen der "Selbsthilfeaktion gegen Inquisition heute SAIH". Aus der Sicht der SAIH ist jeder Gebrauch des Wortes "Sekte" eine Hexen- und Sektenjagd der Medien im Stile der mittelalterlichen Kirchendogmatik bzw. eine Form "moderner Inquisition" gegen "Minderheitsreligionen". In ihrem seit 1991 alle paar Monate verschickten "Informationsbrief Inquisition heute" erscheinen Sekten als die unschuldigen Opfer einer gesellschaftlichen Verschwörung. Entsprechend werden die Einwände der Kritikerinnen und Kritiker von der SAIH mit der jährlichen Vergabe eines "Hexenhammers" prämiert und die sogenannten "Anti-Sekten-Aktivisten" mit dem rhetorischen Zweihänder bekämpft. Die SAIH ist ein zürcherischer Schulterschluss von Scientology, Vereinigungskirche, Kinder Gottes und anderen Gruppen, also eine Lobby für die Interessen von Gruppen, die ohne Bereitschaft zu Selbstkritik und Anpassung grundsätzlich jede Kritik von aussen abzublocken und als Intoleranz und Diskriminierung zu diskreditieren versuchen, um sich damit einen maximalen kollektiven Handlungs- und Deutungsraum zu sichern.
Eine ganz andere Sichtweise kommt im Namen der "Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft gegen destruktive Kulte SADK" zum Ausdruck. Für die SADK sind Sekten Organisationen, "die unter dem Deckmantel der Religion und der Wissenschaft auf politischer und wirtschaftlicher Ebene agieren. Sie wirken zerstörend auf Persönlichkeit, Familie und Gesellschaft. Sie sind antidemokratisch und totalitär." (SADK, Hg., 1990, S. 128). Dies ist der erfahrungsorientierte Fokus einer 1987 von Angehörigen und Eltern von Mitgliedern sogenannter Sekten gegründeten Selbsthilfeorganisation. Die meisten SADK-Mitglieder hatten im engeren Umfeld miterleben müssen, wie sich Menschen unter dem Einfluss einer Gruppe zunehmend entfremdeten, unzugänglich wurden und oft eine schnelle und rigorose Persönlichkeitsveränderung durchmachten. Bei allem Respekt vor den Erfahrungen dieser Leute läuft aber eine solche Zuspitzung des Sektenbegriffs Gefahr, die vielen Nuancen und Unterschiede zwischen den Gruppen aus den Augen zu verlieren, die persönlichen Dispositionen der Sektenmitglieder zu unterschätzen und das gesellschaftliche Umfeld zu stark zu idealisieren.
Bis zu einem gewissen Grad kann die Perspektive der SADK als Reaktion auf die für Betroffene zu konziliante Wahrnehmung der Landeskirchen gesehen werden, denen eine ökumenische Zusammenarbeit auch mit ausserkirchlichen Religionsgemeinschaften ein wichtiges Anliegen ist. Seit Beginn der 80er Jahre unterhalten die Landeskirchen eine "Ökumenische Arbeitsgruppe für 'Neue religiöse Bewegungen'" (NRB), deren Fokus sich in apologentischer Absicht wesentlich auf die Glaubensinhalte sogenannter "neuer religiöser Bewegungen" richtet, womit den sozialen und psychologischen Auswirkungen auf Mitglieder und Aussenstehende von "Sekten" eher zweitrangige Bedeutung zukommt. Allerdings scheint sich heute in den Landeskirchen eine Wahrnehmung durchzusetzen, die auch soziale und psychologische Aspekte einbezieht. In dem von NRB-Kopräsident Joachim Müller mitherausgegebenen "Lexikon der Sekten, Sondergruppen und Weltanschauungen" wird bei der Bestimmung des Sektenbegriffs vorrangig von einer Beschreibung organisatorischer Merkmale und ihrer Auswirkung auf die Mitglieder ausgegangen (Gasper u.a., Hg., 1994, S. 974 - 981). Dennoch sind auch in dieser Definition noch theoretische Elemente erhalten geblieben, die es erlauben, Sektenentwicklungen innerhalb der Kirchen von der kritischen Wahrnehmung auszublenden. Erst dies macht verständlich, weshalb zum Beispiel das katholische Opus Dei im Register dieses weitgehend überzeugenden Handbuches fehlt.
In das eben skizzierte Spannungsfeld positionierte sich 1991 der Verein info-Sekta und nahm das in der Öffentlichkeit längst breitgetretene Wort "Sekte" explizit in seinen Vereinsnamen auf. Der Grundgedanke war jedoch nicht der, eine Instanz zu schaffen, die nun genau weiss, was als "Sekte" zu gelten hat und was nicht. Vielmehr will infoSekta eine konfessionsneutrale Anlaufstelle sein, welche in erster Linie die Fragen und Probleme der Leute im Umgang mit einem von ihr als "Sekte" bezeichneten Phänomen ernst nimmt, ihr bei diesem Umgang mit Information, Beratung oder Vermittlung an andere Fachstellen behilflich ist und so zur Versachlichung der oft polemischen Auseinandersetzung zwischen "Sekten" und ihren Gegnern beiträgt. So versucht infoSekta, die Kompetenz und das Selbstbewusstsein der einzelnen Menschen in der Überzeugung zu stärken, dass das Wort Sekte für die allgemeine Organisationskraft einer Gruppe steht, die vereinnahmende Tendenzen entwickeln und für den einzelnen übermächtig werden kann.

Die Stigmatisierungsgefahr

Zahlreiche Anfragen bei infoSekta zeigen, dass das Bedürfnis nach einer klar definierten "Sekten"-Kategorie für manche sehr gross ist. Typisch sind Fragen der Art wie: Ist die St. Chrischona Pilgermission eine "Sekte", ja oder nein? oder: Ist Basileia Bern eine "Sekte", ja oder nein? Solche Fragen mit einem kategorischen "Ja" oder "Nein" zu beantworten, ist jedoch problematisch, wie schon beim Vergleich von kirchlichem mit öffentlichem Sektenverständnis deutlich geworden ist. Denn wenn ich mit "Ja" antworte, weiss ich nicht, welches Bild die Person mit dem Wort "Sekte" verbindet: das Giftgas der Aum-"Sekte" in Tokio oder die Leichen der Sonnentempler? Bei einem solchen Sektenverständnis wäre die Frage bei beiden evangelischen Freikirchen mit einem klaren "Nein" zu beantworten. Doch damit wären wiederum beide Gruppen etwas zu schnell aus ihrer sozialen Verantwortung entlassen. Beide sind zum Beispiel einem fundamentalistischen Wahrheitsverständnis verpflichtet, das andere Wahrheitsverständnisse von vorneherein ausschliesst und disqualifiziert. Bei Chrischona wird diesem mit einer perfektionistischen Frömmigkeit nachgelebt. Manche Chrischona-"Hauskreise" kontrollieren so den einzelnen Gläubigen in einer Weise, dass dessen individuellen Bedürfnisse und Ansichten leicht zu kurz kommen können. Die enthusiastischen Evangelisationsveranstaltungen von Basileia erinnern dagegen in manchem an Popkonzerte, an euphorisierende Gefühlsmanipulation, bei der die Fangemeinde leicht einen vernünftigen Realitätsbezug verlieren kann.
Es ist also nicht einfach mit dem Wort Sekte. Einerseits verleitet es leicht zur Konstruktion eines "Sekten"-Eintopfs, zur pauschalen Stigmatisierung und Ausgrenzung von Gruppen. Will man umgekehrt dieser Versuchung durch Differenzierung entgehen, zwingt einen dies immer wieder zu mühsamen Erklärungen und Ausführungen. Wäre es deshalb nicht viel klüger, ganz auf das Wort zu verzichten und damit die Stigmatisierungsgefahr aus der Welt zu räumen? Zur Veranschaulichung, welche Wirkung ein Verzicht oder eine Neutralisierung des Wortes Sekte haben kann, im folgenden zwei Beispiele aus der Fachliteratur: Der erste Ansatz hat das Wort Sekte ganz aus seiner theoretischen Wahrnehmung gestrichen; der zweite versucht, eine Auslegung des Wortes zu formulieren, welche die Gruppen entlastet.

Jede(r) ein Sonderfall!

Eine religionssoziologische Studie zur religiösen Befindlichkeit in unserem Lande, herausgegeben vom "Schweizerischen Pastoralsoziologischen Institut" in St. Gallen und vom "Institut d'étique sociale" in Lausanne, kommt in einer gesamtschweizerisch repräsentativen Befragung von rund 1300 Personen zum Ergebnis, dass sich die religiösen Orientierungen der einzelnen Menschen in fünf Kategorien zusammenfassen lassen (Dubach/ Campiche, 1993). Zwei dieser fünf Orientierungsmuster, jene der "Neureligiösen" und der "exklusiven Christen", werden beispielsweise wie folgt beschrieben:

  • "Neureligiös" meint ein bestimmtes Muster von religiösen Orientierungen, das sich deutlich vom Christentum, aber auch vom Atheismus abgrenzt, von der Annahme einer höheren, übersinnlichen Macht im Universum ausgeht und Mensch, Natur und Kosmos in einen ewigen Kreislauf von Werden und Vergehen verwickelt sieht. Das "Neureligiöse" ist somit im wesentlichen ein esoterisches Orientierungsmuster, und gemäss der Studie sind ihm 12% der Schweizer Bevölkerung zuzurechnen.
  • Die Orientierungsmuster der "exklusiven Christen" dagegen ist ausschliesslich auf christliche Glaubenssätze fixiert und weist humanistische und atheistische Orientierungen entschieden zurück. Es handelt sich hier also um ein fundamentalistisches Orientierungsmuster, und gemäss der Studie sind ihm 7% der Schweizer Bevölkerung zuzurechnen.

Zweifellos sind dieses und weitere Ergebnisse der Studie spannende Erkenntnisse. Dennoch vermitteln sie ein einseitiges Bild der religiösen Situation in der Schweiz. Die fünf Orientierungsmuster gehen von den einzelnen Menschen aus. Fragt man nun aber, in welchen Gemeinschaften und in welcher Stärke diese fünf Muster dort auftreten, so unterscheidet die Studie lediglich zwischen der katholischen und der protestantischen Konfession und den Konfessionslosen. Nun könnte man ihr zugute halten, dass eine gruppenspezifische Untersuchung schwierig und methodisch nicht unproblematisch ist.
Doch die Gründe liegen hier tiefer, nämlich bereits im theoretischen Ansatz der Studie. Sie ging davon aus, dass einer religiösen Orientierung oder Anschauung ausserhalb des einzelnen Menschen keine Wirklichkeit zukommt, also kein Einfluss auf das Zusammenleben der Menschen besteht. Mit anderen Worten: jeder Mensch baut sich seine religiöse Identität selber auf und eignet sich jene Elemente und Vorstellungen an, die ihm am meisten zusagen. "Religion" hat im theoretischen Ansatz dieser Studie also keine gemeinschaftsstiftende Funktion, die zu untersuchen wäre. Im Gegenteil: Religion ist hier höchst individuelle, subjektive Religiosität jedes einzelnen und scheint ohne die sozialisierende Wirkung von Religionsgemeinschaften auszukommen.
Der vermeintliche Vorteil eines solchen Ansatzes ist, dass sich die Studie nicht mit den gesellschaftlich neuralgischen Punkten von Religion auseinandersetzen muss. Weltanschauungen und rituelle Praktiken erscheinen hier als individuelle Angelegenheiten. Gruppen, die bestimmte Anschauungen missionieren oder propagieren und kultische Rituale organisieren, werden - theoretisch wohlbegründet - aus ihrer sozialen Verantwortung entlassen. Das Wort Sekte kommt in der Studie nicht vor, weil sie lediglich die Religiosität einzelner Menschen in der Schweiz beschreibt und so systematisch ausblendet, was zentrales Thema in vielen Anfragen bei infoSekta ist: der Konflikt zwischen einzelnen Individuen und organisierten Gruppen.

 

Der Dschungel neuer Religiosität

Der zweite Ansatz, die Stigmatisierungsgefahr zu mindern, kommt "Im Dschungel der neuen Religiosität" (1992) von Georg Schmid zum Ausdruck: Das Wort Sekte wird dort zwar weiterhin benützt, aber erstens in einer Weise eingegrenzt, die es nur noch für ein bestimmtes Gruppensegment zulässt, und zweitens "gruppenschonend" ausgelegt. Schmid, reformierter Pfarrer, Professor für allgemeine Religionswissenschaft an der Universität Zürich, Gründungsmitglied des Vereins infoSekta, NRB-Kopräsident und Leiter der Evangelischen Informationsstelle "Kirchen - Sekten - Religionen" in Greifensee/ ZH, thematisiert Sekten vor dem Hintergrund einer sogenannten "religiösen Anarchie", in der jede allgemeinverbindliche, gemeinschaftsstiftende Erfahrung fehlt. Die "wilde Pracht religiöser Möglichkeiten" sind für Georg Schmid Gesichter eines "grenzenlosen religiösen Individualismus". "Religiöse Anarchie" ist für ihn "das religiöse Spiel des postmodernen Menschen mit allen Erlebnismöglichkeiten seiner Seele".
In diese "religiöse Anarchie" setzt Schmid die "Sekten" so neben den "Fundamentalismus" und die "Esoterik", als ob es sich hier um vergleichbare Phänomene handle. Dabei werden "Fundamentalismus" und "Esoterik" im Gegensatz zu "Sekten" durchaus positiv bewertet. Mit anderen Worten, er fasst all das unter "Sekten" zusammen, was er mit den beiden anderen Wörtern nicht mehr beschreiben will, ohne zu berücksichtigen, dass es gerade fundamentalistische und esoterische Vorstellungen sind, welche die besonderen ideologischen Merkmale von "Sekten" ausmachen. Vermutlich gegen die Absicht von Schmid erhält das Wort Sekte so aber eine noch negativere Zuspitzung.
Wie beim ersten Ansatz fehlt auch bei Schmid ein klarer Begriff der Gruppe als Organisation mit Entscheidungsstrukturen und Rollenerwartungen. "Die sogenannten neuen Sekten" sind für ihn nicht nur "freiwillige und völlig überflüssige Ausflüge ins Reich der religiösen Phantasien oder in die schwüle Welt religiöser Ekstasen." Vielmehr sei es "eine zwanghafte Notwendigkeit", die den einzelnen Menschen in die Sekte führe und ihn an seine Sekte binde. Nicht nur das: "Die Sekte ist der letzte Versuch des Menschen, er selbst zu sein. Scheitert auch dieser Versuch, so bleibt im Grunde nur noch die Selbstzerstörung." Mitgliedschaft ist so das Ergebnis eines inneren Zwanges jeder einzelnen Person, die sie letztlich vor ihrer eigenen Destruktivität bewahrt. Und apokalyptische Szenarien einer "Sekte" widerspiegeln nur das prekäre innere Seelenleben der einzelnen Mitglieder. Entscheidungsmüdigkeit durch Schlafmangel, Missionierungsstress und wahre Gebetsorgien werden nicht als Konsequenzen aus den sanktionierten Forderungen der Gruppe erkannt, sondern als "freiwillige Experimente in geistiger Unmündigkeit" des einzelnen gesehen. Schmid benützt zwar das Wort Sekte, aber was er damit meint, bleibt diffus und subjektivistisch. Das Problem wird in erster Linie beim einzelnen Menschen gesehen, und die Einflussmöglichkeiten einer Gruppe werden systematisch aus der Analyse ausgeklammert. Der vermeintliche Vorteil einer solchen Strategie ist der, dass sich so wahrscheinlich leichter mit sogenannten "Sekten" Dialog führen lässt. Fragt sich nur, auf Kosten von wem.

Kein Verzicht, sondern sorgfältige Auseinandersetzung!

Ich habe zu zeigen versucht, dass das Wort Sekte als Hinweis auf ein gesellschaftliches Konflikt- und Gruppenphänomen gelesen werden muss. Es ist ein politisches und unbequemes Wort, weil es ständig herausfordert, Stellung zu beziehen und sich zu erklären, wenn man nicht Gefahr laufen will, mit dem Wort pauschale Ausgrenzung zu betreiben. Die Versuchung ist gross, aus Rücksicht auf die einzelnen Gemeinschaften auf dieses Wort zu verzichten. Doch damit ist der darunterliegende Konflikt nicht gelöst, sondern höchstens aus der Wahrnehmung verdrängt, theoretisch ausgeblendet oder gruppenverträglich umdefiniert. Der Verzicht auf das Wort Sekte würde ein Stück politischer Sprache aufgegeben, die es erstens den einzelnen Menschen ermöglicht, Kritik an vereinnahmenden Gruppen zu artikulieren und die Frage nach deren Verantwortung zu stellen, und die zweitens ein Teil jener kommunikativen Basis bildet, die einer den Freiheits- und Menschenrechten verpflichteten, demokratischen Gesellschaft die Chance eröffnet, vertiefter über das problematische Verhältnis zwischen Individuum und Gruppe nachzudenken. Mit anderen Worten: Wenn wir - vermeintlich tolerant und zur Erleichterung der Gruppen - auf das Wort Sekte verzichten, lassen wir unbesehen all jene Menschen ohnmächtig im Regen stehen, die mit organisierten und entsprechend mächtigen Gruppen konfrontiert sind und sich von diesen in ihren persönlichen Rechten und Möglichkeiten bedrängt oder gar behindert fühlen.

Literatur

Dubach, Alfred; Campiche, Roland J., (Hg.) 1993. Jede(r) ein Sonderfall? Religion in der Schweiz. Ergebnisse einer Repräsentativbefragung. NZN Buchverlag : Zürich.

Eggenberger, Oswald, 1986. Die Kirchen, Sondergruppen und religiösen Vereinigungen. Ein Handbuch, 4. Auflage. Theologischer Verlag : Zürich.

Flammer, Philipp, 1994. Fundamentalistische Gruppen als soziales Phänomen und Problem. Mit einer explorativen Untersuchung der Informations- und Beratungsarbeit des Vereins infoSekta in Zürich. Unveröffentlichte Lizentiatsarbeit, eingereicht bei Prof. Dr. Volker Bornschier: Soziologisches Institut der Universität Zürich.

Gasper, H.; Müller, J.; Valentin, F., (Hg.) 1994. Lexikon der Sekten, Sondergruppen und Weltanschauungen. Fakten, Hintergründe, Klärungen. Herder Verlag : Freiburg i. Br.

Schmid, Georg, 1992. Im Dschungel der neuen Religiosität. Esoterik, östliche Mystik, Sekten, Islam, Fundamentalismus, Volkskirchen. Kreuz Verlag: Stuttgart.

Schweizerische Arbeitsgemeinschaft gegen destruktive Kulte SADK, (Hg.) 1990. Sekten im rechtsfreien Raum? Ein Gutachten verfasst von: A. Tinner und B. Denzler, Rechtsanwälte in Winterthur. Presdok Verlag : Zürich.

Appendix

Vorlage der obigen Überlegungen war ein Referat an der Tagung vom 16./17.März 1996 zum Thema: "Missbrauchte Sehnsucht. Oder: Was ist eine Sekte?" an der Paulus-Akademie in Zürich-Witikon. 

Die vorliegende überarbeitete Version wurde abgedruckt in: infoSekta (Hg.), 2000. "Sekten", Psychogruppen und vereinnahmende Bewegungen. Wie der einzelne sich schützen kann. Was der Staat tun kann, S. 57-78. NZN Buchverlag: Zürich.

© Mai 1997. Verein infoSekta.

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