Die Auseinandersetzung um das Phänomen der "Sekten" (Flammer, 1994)

Zum Fachdiskurs über sogenannte "Sekten"

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von Philipp Flammer


Einleitung

Die vorliegende Arbeit orientiert sich an sozialen Gruppen, die in der Öffentlichkeit üblicherweise und umgangssprachlich mit dem Begriff der "Sekte" versehen werden und denen ich einen fundamentalistischen Grundcharakter unterstelle. Doch worum geht es konkret, wenn von einer "Sekte" die Rede ist? In seinem Bericht an das Europaparlament vom 29.11.1991 kommt der konservative britische Abgeordnete Sir John Hunt zum Schluss:
"Es gibt keine allgemein anerkannte Definition des Begriffs Sekte. Die meisten Sekten weisen diese Bezeichnung, die eine negative Bedeutung angenommen hat, für sich zurück und bevorzugen den Begriff Neue religiöse Bewegungen oder sogar Religion." (1)
Offensichtlich wird der Begriff "Sekte" von konkurrierenden Diskursen inhaltlich unterschiedlich gefasst und entsprechend verwendet. Dieser Tatsache will ich in diesem Kapitel auf den Grund gehen und versuchen, verschiedene Fachdiskurse einander gegenüberzustellen. Wie brauchbar ist zum Beispiel die Kategorisierung, wie sie im im wichtigen Standardhandbuch des Zürcher Theologen Oswald Eggenberger (1986, S. 20-25) zu finden ist, in dem er zwischen "Kirchen", "Freikirchen", "Sondergemeinschaften mit sektenhaften Einzelzügen", "Sekten" und "Weltanschauungen" unterscheidet? Reichen solche Typisierungsversuche im Hinblick auf die heute stark aufkommenden sogenannten "neureligiösen Bewegungen", die anders oft auch als "Jugendreligionen", "Jugendsekten", "totalitäre Kulte" oder "destructive cults" bezeichnet werden, oder im Hinblick auf die schnellwachsende Zahl von alternativtherapeutischen Gruppen in der Esoterikbranche, um erstens dem Phänomen einer "Sekte" im umgangssprachlichen Sinne gerecht und zweitens dieses vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen Wandels erklären zu können?
Umgekehrt hält Fritz Stolz (1991, S. 662ff) fest, dass der Begriff "Sekte" wegen seiner abwertenden "Allostereotypisierung" religionswissenschaftlich nicht mehr salonfähig sei, und spricht stattdessen von "neuen religiösen Bewegungen". Wie weit aber darf ein Phänomen, wie das der zugegeben etwas stigmatisierende Begriff "Sekte" umgangssprachlich zu bezeichnen versucht, begrifflich neutralisiert werden, ohne Gefahr zu laufen, mit einem "neutralen" Begriff einfach den Kernaspekt des gemeinten Phänomens wegdefiniert zu haben? Solchen Fragen nachzugehen und Typisierungen nicht einfach als gegeben hinzunehmen, halte ich in Anlehnung an Alfred Schütz insofern für entscheidend, als damit zu Grunde liegende Wertekonflikte aufgedeckt werden können:
"Alle Typisierungen im Alltags-Denken sind als solche integrierende Elemente der konkreten historisch sozio-kulturellen Lebenswelt und beherrschen sie, weil sie als gesichert und gesellschaftlich bewährt erlebt werden. Ihre Struktur bestimmt unter anderem die gesellschaftliche Distribution von Wissen und dessen - beziehungsweise deren - Relevanz und Relativität zur konkreten gesellschaftlichen Umwelt einer konkreten Gruppe in einer konkreten historischen Situation." (2)
Ich beginne mit zwei klassischen Verwendungen, die jahrzehntelang die Diskussion und Wahrnehmung der "Sekten" geprägt haben, mit Max Weber (1.) und der Perspektive der grossen christlichen Kirchen (2.). Die kurze Darstellung einer Nationalfonds-Studie zur "Religion in der Schweiz" (3.) und der Sektenbegriff des Zürcher Religionswissenschaftlers Georg Schmid (4.) folgen als Beispiele für den wachsenden Einfluss des "postmodernen" Diskurses. Dann gehe ich über zu "modern" orientierten Ansätzen in der Auseinandersetzung um das Phänomen einer "Sekte". Ausgehend vom Organisationsmodell der "Sekte" von Peter L.Berger stelle ich erste Überlegungen an einerseits zum Verhältnis von Diskurs und Organisation und andererseits allgemein zur Bedeutung von Organisation und zur Qualität von Unternehmenskulturen (5.). In der Darstellung des aus Amerika stammenden kritischen Diskurses über die "Sekten" komme ich verstärkt auf die gesellschaftspolitische Dimension der "Sekte" zu sprechen und schliesse diesen Abschnitt mit einer kurzen Darstellung des Grundproblems kollektiven Handelns, wie es Mancur Olson formuliert hat (6.). Ausführlich werde ich schliesslich den Erklärungsversuch der beiden kalifornischen Religionssoziologen Rodney Stark und William Sims Bainbrigde vorstellen, die austauschtheoretisch die "Sekte" als Kompensationsversuch deprivierter Menschen sehen (7.).

1. Voluntaristische Verbände

Ein wichtiger Einfluss auf die Verwendung des Begriffs "Sekte" ist von Max Weber ausgegangen, vor allem von seinem Aufsatz "Die protestantischen Sekten und der Geist des Kapitalismus" (1988, S. 207-236). Sein hier entwickelter Sektenbegriff wurde später von Ernst Tröltsch in dessen "Soziallehre der christlichen Kirchen" aufgenommen und eingehend behandelt. Er hat so die sozial- und religionswissenschaftliche Diskussion bis in die nahe Gegenwart geprägt. Weber geht in dem Aufsatz der Frage nach, welche Bedeutung die in der Aufklärung durchgesetzte "Trennung von Staat und Kirche" (First Amendment von 1791) für die Kirchlichkeit in den Vereinigten Staaten hatte. Ihn erstaunt die Beobachtung, welch enorme Bedeutung der einfachen Glaubens- und Mitgliedschaftsbezeugung im Sozial- und Wirtschaftsleben der USA zukam. Er unterscheidet in seiner Analyse zwischen "Kirche" als einer "Gnadensanstalt" und einer "Sekte". (3) In eine "Kirche" werde man "hineingeboren", das heisst, sie lasse so "ihre Gnade über Gerechte und Ungerechte scheinen" und verwalte "religiöse Heilsgüter wie eine Fideikommissstiftung", zu welcher "die Zugehörigkeit (der Idee nach!) obligatorisch, daher für die Qualität des Zugehörigen nichts beweisend, ist". Eine "Sekte" sei dagegen ein "voluntaristischen Verband" bestehend aus
"... ausschliesslich (der Idee nach) religiös-ethisch Qualifizierter, in den man freiwillig eintritt, wenn man freiwillig kraft religiöser Bewährung Aufnahme findet. Ausschluss aus der Sekte wegen ethischer Verstösse bedeutet wirtschaftlicher Verlust der Kreditwürdigkeit und soziale Deklassierung."(S. 211)
Sektenmitgliedschaft bedeutet für Weber ein (geschäfts)ethischer "Qualifikationstest für die Persönlichkeit". Dennoch fügt er in der Fussnote bei:
"Dass der konkurrierende Seelenfang der Sekten - stark durch materielle Interessen der Prediger mitbedingt - dieser Auslese oft sehr stark entgegenwirkte, gerade in Amerika, steht natürlich fest." (S. 211)
Im Zentrum seiner Beobachtungen stehen vor allem methodistische und baptistische Gruppen, aber auch andere wie Freimaurer, Christliche Wissenschaft, Adventisten, Quäker und Täufer. Spezielles Gewicht legt er auf die Unterschiede in der "Kirchenzucht":
"Die mittelalterliche ebenso wie die lutherische Kirchenzucht lagen 1. in den Händen des geistlichen Amts, 2. wirkten sie, soweit sie überhaupt wirksam wurden, durch autoritäre Mittel und 3. straften oder prämierten sie einzelne konkrete Handlungen. Die Kirchenzucht der Puritaner und der Sekten lag 1. mindestens mit, oft ganz und gar in den Händen von Laien, 2. wirkte sie durch das Mittel der Notwendigkeit der Selbstbehauptung und 3. züchtete sie Qualitäten oder - wenn man will: - las sie aus." (S. 233)
Aus heutiger Sicht ist der Zeitraum interessant, in dem dieser Aufsatz entstanden ist. Er basiert auf einer Reihe kleiner persönlicher Beobachtungen während eines Amerikaaufenthalts von Weber im Jahr 1904, erschien 1906 erstmals in einer Kurzversion, wurde später stark erweitert und 1920 in die "Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie" aufgenommen. Die Zeit zwischen 1900 und 1920 gilt als die Formierungsphase des heutigen protestantischen Fundamentalismus, der sich in den USA gerade aus den von Weber beobachteten "Sekten" herausentwickelte.

Webers Wahrnehmung der Sekten

... ist ambivalent, wenn nicht gar widersprüchlich. An kritischen Beobachtungen fehlt es bei ihm keineswegs. Er sieht durchaus das Problem des in materiellen Interessen verankerten "konkurrierenden Seelenfangs", sieht, dass die "sozialen Prämien und Zuchtmittel" sowie die "gesamte organisatorische Grundlage" Wurzeln asketischer Sektenbildung sind und verweist so zumindest indirekt auch auf unterschiedliche Machtverhältnisse zwischen den einzelnen Gläubigen und der Religionsgemeinschaft als Kollektiv (S. 219). Er sieht durchaus die Parallele zwischen der ständischen Zunftordung, die eine Begrenzung wirtschaftlicher Konkurrenz bezweckte (S. 235), und dem Begünstigungsverhalten zwischen den Glaubensbrüdern und Bekehrten der "Sekten", welches ein wichtiger Anreiz für Aufstiegswillige bildet (S. 232). Und er sieht auch, dass der Einsatz von Disziplinar- und Zuchtmitteln keineswegs nur in "Sekten" vorkommt, in diesen aber weitaus rigoroser als in irgendeiner Kirche gehandhabt wurde (S. 233, 228).
Dennoch gelingt es ihm, eine "Sekte" als einen voluntaristischen Verband zu definieren und in der "freiwilligen" Bekehrung die konstituierende Bewährung in jenem "ethischen Verhalten" zu sehen, "auf welches durch die Art und Bedingtheit ihrer Heilsgüter Prämien gesetzt sind" . Geradezu verherrlichend wirkt seine Typisierung der "Sekte" in einem anderen Aufsatz (1973, S. 390-392):
"Eine Sekte (...) ist dagegen eine freie Gemeinschaft lediglich religiös qualifizierter Individuen, in welche der Einzelne kraft beiderseits freier Entschliessung aufgenommen wird. (...) Für die genuine "Sekte" ist dagegen die "Reinheit" ihres Personalbestandes Lebensfrage: in der Periode der Bildung der pietistischen Sekten war das treibende Motiv stets das tiefe Grauen davor, mit einem "Verworfenen" das Abendmal zu teilen oder gar es aus der Hand eines Verworfenen, eines beamteten "Mietlings", dessen Wandel nicht die Zeit der Erwählung an sich trug, zu empfangen. Die "Sekte" will religiöse "Elite" sein, die "unsichtbare Kirche" sichtbar in der Gemeinschaft der "bewährten" Mitglieder dargestellt sehen. (...) Die Autonomie des Individuums erhielt so einen nicht im Indifferentismus, sondern in religiösen Positionen ruhenden Ankergrund, und der Kampf gegen alle Arten "autoritärer" Willkür wuchs zur Höhe einer religiösen Pflicht empor. Und zugleich gewann so der Individualismus in der Zeit seiner heroischen Jugend eine eminente gemeinschaftsbildende Macht."
Gerade weil Weber im Satz, dass man Gott mehr gehorchen müsse als den Menschen, eine der wichtigsten geschichtlichen Grundlagen des modernen Individualismus sieht, die wir den protestantischen Sekten zu verdanken hätten, ist nicht der Freiheitsgrad der Individuen, also die Art und Bedingtheit der Heilsgüter, sondern die protestantische Ethik, die dem Geist des Kapitalismus seiner Ansicht nach die Wege ebnete, der Ausgangspunkt seiner Sektenbetrachtung. Voluntarismus wird deshalb vor allem idealtypisch behauptet, aber weder theoretisch begründet noch empirisch belegt. Der Einfluss der sozioökonomischen Vorbedingungen (Lebensbedingungen, Zugang zu Ressourcen, gesellschaftlicher Wandel und Zukunftsperspektiven etc.) auf die kognitive Wahrnehmung und den emotionalen Haushalt einer neuumworbenen Person und die spezifisch auf Einflussnahme und Kontrolle ausgerichteten Milieubedingungen, unter denen die Bewährung erfolgt, gesteuert und qualifiziert wird, werden nebenbei zwar thematisiert, aber nicht in Relation gesetzt zum postulierten Voluntarismus. Die euphorische Vorstellung, dass die protestantischen Sekten die eigentlichen Vorreiter des kapitalistischen Geistes sind, verbaut ihm meiner Ansicht nach auch die Einsicht, dass Sekten als "Horte der Eigensicherung" (BEINERT 1991, S. 66) im harten gesellschaftlichen Wettbewerb gesehen werden können und eine Funktion erfüllen, wie sie ein Zeitgenosse Webers, der Amerikaner Thorstein Veblen bereits 1899 deutlich erkannt hatte (1989, S. 294f):
"Zugleich dienen die Sitten und Gebräuche (...) dazu, jene Denkgewohnheiten nach Möglichkeiten zu verewigen, auf denen ein anthropomorpher Kult beruht, mit anderen Worten fördern sie Denkweisen, die für die ständische Herrschaft typisch sind. Sie stellen deshalb ein Hindernis auf dem Weg zur höchstmöglichen Leistungsfähigkeit der Industrie unter modernen Verhältnissen dar und setzen in erster Linie der Entwicklung wirtschaftlicher Institutionen, wie sie die moderne Situation verlangt, Widerstand entgegen."

Weber muss zugute gehalten werden,

... dass seine Sektenbetrachtung auf einer Momentaufnahme beruht, die in ihrem Skizzencharakter durchaus spannende Erkenntnisse birgt. Nicht aufgearbeitet oder zuwenig einbezogen hat er die historische Entwicklung der Sektenszene; und dass er die weitere Entwicklung des protestantischen Fundamentalismus nicht voraussehen konnte, kann man ihm nicht vorhalten. Seine Auseinandersetzung mit der Sektenthematik wirkt denn eher als ein Versuch, die religiösen Wurzeln oder Legitimation für den Geist des Kapitalismus zu orten.
Zu einer harten Kritik kommen dagegen die beiden kalifornischen Religionssoziologen Rodney Stark und William Sims Bainbridge: Sie stellen fest, dass die Literatur bis heute dominiert wird durch Kirchen-Sekten-Typologien, die traurigerweise völlig nutzlos sind für die Konstruktion von Theorien, weil sie lediglich tautologische Substitute für echte Theorien sind und gute Theoriemodellierungen eher behindern. (4) Die Ursache orten sie in der Weberschen Methodik der Konstruktion von Idealtypen. Weber entwickelte das Konzept des Idealtypus nicht, um Wirklichkeit darzustellen, sondern um der Darstellung ein eindeutiges Ausdrucksmittel zu verleihen. Die Religionssoziologie hat in Anlehnung an dieses Konzept immer wieder neue, "verbesserte", "erweiterte" oder "differenziertere" Kirchen-Sekten-Typologien entwickelt, die letztlich aber alle an der selben Krankheit leiden: Dass sie in der Frage "Kirche oder Sekte?" die Vielfalt der Gruppen nur dank grosszügigen Ausnahmen von der Regel einigermassen kategorisieren können und keine Erklärungsmöglichkeiten bieten. Das Problem liegt gemäss Stark und Bainbridge darin, dass diese typisierenden Definitionen Korrelate, Zusammenhangsmasse beinhalten, also Werte, die gerade auf der Basis von Definitionen gemessen werden wollen. Nicht Korrelate, also Angaben von Tendenzen, Orientierungsmuster, Häufigkeitsangaben, die seit Tröltsch für die Unterscheidung von Kirche und Sekte immer wieder vorgeschlagen wurden, sondern Attribute gehören in eine gute Definition.

2. Die orthodoxe Perspektive

In seinem Standardhandbuch zu "Kirchen, Sondergruppen und religiösen Vereinigungen" in der Schweiz legt der Zürcher Theologe und reformierte Pfarrer Oswald Eggenberger der Bewertung und Einteilung der Gruppen die Basiserklärung des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) aus dem Jahre 1961 zu Grunde (1986, S. 20). Als "Kirchen" gelten dort jene,
"..., die den Herrn Jesus Christus gemäss der Heiligen Schrift als Gott und Heiland bekennen und darum gemeinsam zu erfüllen trachten, wozu sie berufen sind, zur Ehre Gottes, des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes."
Das sind neben den Landeskirchen oder "Volkskirchen" auch die Freikirchen oder "Freiwilligenkirchen" wie zum Beispiel Täufer, Baptisten, Darbysten, Quäker, Pietisten, Methodisten, Heiligungsgemeinden und evangelikale Gemeinden, also praktisch jene "voluntaristischen Verbände", die Weber als "Sekten" bezeichnet hat. Von diesem Kirchenbegriff leitet Eggenberger die weiteren Kategorien ab, wobei es ihm offensichtlich ein Anliegen ist, den Begriff der "Sekte" möglichst durch den der "Sondergruppe" zu ersetzen. "Sondergruppen" sind im weiteren Sinne des Wortes zwar "christlich", aber gegenüber den "Kirchen" gekennzeichnet durch Sonderlehren, Sonderämter und Sonderevangelien. Gerade diese Sondermerkmale würden jedoch den freien Zugang des Christen zu Gott, wie ihn Christus fern von aller Gesetzlichkeit ermöglicht habe, erschweren:
"Eine Gemeinde, die sich aufgrund eigener Sonderlehren als die letztlich allein wahre Kirche ausgibt, macht sich jedoch zur Sekte." (S. 21)
Damit macht Eggenberger die fundamentalistische Abschliessungsbewegung und den Exklusivitätsanspruch zum Kriterium einer "Sekte". Diesem Kriterium können sich Freikirchen aber offenbar dank dem übergeordneten Kirchenbegriff der ökumenischen Basiserklärung entziehen, nicht dagegen die Pfingstgemeinden, Endzeit-Gemeinden wie Adventisten, Jehovas Zeugen, Apostel-Gemeinden wie die Neuapostolische Kirche, die Mormonen, Christliche Wissenschaft und diverse Messias-Gemeinden, unter die er neben der Vereinigungskirche auch die Gralsbewegung einordnet. Versöhnlich meint Eggenberger jedoch, dass einige dieser Gemeinden als Grenzfälle zwischen Kirche und Sondergruppe bezeichnet werden könnten und bezeichnet in seinem Handbuch jene "umstrittenen" Gemeinden, deren weitere Entwicklungsrichtung - "Kirche" oder "Sondergruppe" - noch offen ist, mit einem "U". (5) Eggenberger formuliert damit einen interessanten Gedanken, auf den ich bei der Diskussion des Modells von Stark und Bain-bridge zurückkommen werde: Dass nämlich eine "Sekte" kein stabiler Endzustand einer sozialen Gruppe sein muss, sondern der Begriff lediglich einen bestimmten Ort in einer Bandbreite von Entwicklungsalternativen meint, deren Wahl und Richtung letztlich von internen (kollektiven) Entscheidungsprozessen abhängt.
Als "Religiöse Vereinigungen" fasst Eggenberger eine dritte grosse Kategorie von Gruppen. Dazu gehören synkretistische und neugnostische Vereinigungen (Neuoffenbarer, Geistheiler und Spiritisten, Theosophen und Antroposophen, Rosenkreuzer und UFO-Bewegung), freireligiöse und freigeistige Gemeinden, jüdische sowie islamische, buddhistische und hinduistische Vereinigungen (Yoga- und Guru-Bewegungen) und schliesslich ein Sammelkapitel für "Verschiedene Vereinigungen" mit unter anderem Scientology Kirche und Kinder Gottes. Ein Anhang zur "New Age-Spiritualität" macht den Abschluss des Handbuches. Spätestens da, wo die Gruppen nicht mehr eindeutig dem christlichen Diskurs zuzurechnen sind, macht die kapitelweise Zusammenstellung der verschiedenen Gruppen teilweise einen hilflosen Eindruck. Die orthodoxe Perspektive liefert zwar auf der Grundlage gemeinsamer Glaubenssätze gewisse Beurteilungskriterien für diskursverwandte Gruppen, wird aber diffus und entsprechend beliebig, wo sie mit Glaubenssätzen aus ganz anderen Kulturkreisen konfrontiert wird. (...)
Während Eggenberger dazu tendiert, im Gegensatz zum Begriff der "Sondergruppe" den Begriff der "Sekte" wertend einzusetzen, wird dieser im "Handbuch Religiöse Gemeinschaften" der Vereinten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD) als fest definierte Kategorie eingesetzt (RELLER / KIESSIG 1985, S. 15). "Sekten" sind demnach ...
"... Gemeinschaften, die mit christlichen Überlieferungen wesentliche ausserbiblische Wahrheits- und Offenbarungsquellen verbinden und in der Regel ökumenische Beziehungen ablehnen."
Die Gruppen, die darunter gefasst werden, entsprechen praktisch jenen bei Eggenberger. Die anthroposophisch orientierte Christengemeinschaft und die neuoffenbarerische Johannische Kirche wurden noch hinzugefügt. "Sondergemeinschaften" sind hier Gruppen,
"... in denen Doppelmitgliedschaften innerhalb der evangelischen Landeskirchen verbreitet sind, die zwar religiöses Sondergut pflegen, deren Mitglieder aber weiterhin Zugang zu den Sakramenten in den Landeskirchen besitzen."
Der Begriff der "Sekte" orientiert sich also auch in diesem Handbuch an der eigenen Glaubenspraxis und umfasst vor allem diskursverwandte Gruppen. Deutlicher als bei Eggenberger wird hier aber das zentrale Anliege der Kirchen zu ökumenischer Zusammenarbeit ausgesprochen und entsprechend zu einem vorrangigen Bewertungsmassstab gemacht. So formulierten Kirchenvertreter während der Amsterdamer Konsultation über "Neue religiöse Bewegungen" vom September 1986 im Kapitel "Ökumenische Zusammenarbeit" folgende Empfehlung (HUMMEL 1987 b):
"Es wird empfohlen, dass von Vertretern des LWB (PF: Lutherischer Weltbund), des ÖRK (PF: Ökumenischer Rat der Kirchen) und möglichst auch des Vatikans eine Konsultation mit Vertretern neuer religiöser Bewegungen organisiert wird, um das Problem der Menschenrechte in ihren wechselseitigen Beziehungen und anderen Aktivitäten zu diskutieren. Die Aufgabe der Konsultation würde darin bestehen, einige Leitlinien auszuarbeiten, die die Bedürfnisse und Interessen aller Beteiligten für den Schutz ihrer - individuellen und kollektiven - Freiheit und Integrität zum Ausdruck bringen. Zu solch einer Konsultation sollte eine gleiche Anzahl von Teilnehmern von seiten der christlichen Kirchen und von seiten der neuen religiösen Bewegungen eingeladen werden."

Eine neue, breitere und differenziertere Bedeutung

... erhält der Begriff im "Lexikon der Sekten, Sondergruppen und Weltanschauungen", das von den Katholischen Kirchen Deutschlands, Österreichs und der Schweiz gemeinsam herausgegeben wurde und in Zusammenarbeit mit Vertretern der Evangelischen Kirche entstanden ist (GASPER, MÜLLER, VALENTIN 1991). Obwohl etymologisch vom lateinischen "secta" (Schule, Lehre, Partei; Substantiv von sequi: nachfolgen) hergeleitet, wird aber auch hier der Begriff noch als eine "kirchliche (oder gesellschaftliche) Bezeichnung für eine religiöse Gemeinschaft" eingegrenzt. Doch geht die Darstellung des Begriffs von einer Beschreibung des Phänomens aus, um dann daraus die "Attraktivität der Sekten" erklären zu können. Friederike Valentin, Referentin für Weltanschauungsfragen in Wien, beschreibt "Sekten" in vier Punkten: 1. Trennung von einer grösseren Gemeinschaft, 2. kultische Komponente, d.h. keine blosse Weltanschauung, 3. kein ökumenischer Dialog mit den Kirchen, d.h. eine signifikant mangelnde Dialogfähigkeit aufgrund von Absolutheitsanspruch und Auserwähltheitsbewusstsein, und 4. klare Grenzen gegenüber anderen Organisationen in Lehre, Organisation und Praxis:
"Sekten sind soziologisch klar umrissene Gebilde mit einer entweder (international) zentralistischen oder einer föderalistischen Struktur, geschlossenem Lehrsystem und normierter (Lebens-)Praxis." (S. 953)
Am Anfang von "Sekten" stehen besondere Gründerpersönlichkeiten, unterstützt von eher organisatorisch-praktischen Gefolgsleuten, die z.T. für die Systematisierung der Lehre und den Aufbau einer tragfähigen Struktur sorgen. Was "Sekten" für einzelne Menschen attraktiv machen kann, skizziert Valentin in acht Schlüsselbegriffen wie "der gerettete Einzelne", "die perfekte Gemeinde", "die umfassende Heilung", "die prophetische Vollendung", "die nahe Erlösung", "der heilige Vater", "der glückliche Erleuchtete" und "die frische Quelle". Allerdings entgeht es Valentin nicht, dass die besondere Struktur einer "Sekte" auf ein bestimmtes Gebiet reduziert ist, das besonders hervorgehoben wird und dazu beiträgt, Spannungen durch Sünden, menschliche Unvollkommenheit, Krankheit u.a.m. anscheinend zu überwinden: nämlich durch eine systemimmanent schlüssige Lehre, Auserwähltheitsbewusstsein, engmaschige Organisationsstruktur und emotionale Bindung, Sinn- und Lebensentwürfe sowie intensive Formen der Inkulturation. Konflikthafte Auseinandersetzungen mit "Sekten" führt sie denn auch auf diese Organisationsstrukturen zurück. Kritische Punkte, die allgemein bei "Sekten" angesprochen würden, seien eine relativ hohe Emotionalität innerhalb der Gruppe, fehlendes Geschichtsbewusstsein in der eigenen Sondergemeinschaft, systemkonformes Verhalten der Mitglieder und enorme Ausschlussängste.
Natürlich steht auch bei Valentin im Hintergrund ihrer Beschäftigung mit "Sekten" ein apologetisches Handeln, das zu einer authentischen christlichen Verkündigung motivieren will, sowie eine durch die unterschiedlichsten "Sekten" in Lateinamerika herausgeforderte vatikanische Stellungnahme von 1986. Doch diese neue, nicht mehr orthodox zu nennende Perspektive vermag das Phänomen endlich so zu reflektieren, dass es auch den Problemen, Ängsten und Sorgen, die seit Jahren von Eltern- und Betroffenenkreisen immer wieder lautstark, aber oft hilflos artikuliert werden, gerecht werden kann.

3. JedeR ein Sonderfall?

Wenn in einer Nationalfonds-Studie zur Religion in der Schweiz des "Schweizerischen Pastoralsoziologischen Instituts" in St. Gallen (Alfred Dubach) und des "Institut d'éthique sociale" in Lausanne (Roland J. Campiche) Religion unter den Bedingungen der hochindividualisierten Moderne als eine Sache individueller Wahl und so "zunehmend nur mehr im Medium von Subjektivität oder gar nur als Subjektivität darstellbar" (DUBACH 1992, S. 6) gesehen wird, sollte das Ergebnis der Studie kaum erstaunen, dass in den letzten Jahrzehnten nicht ein Säkularisierungsprozess stattgefunden haben soll, sondern lediglich ein Wandel in den Ausdrucksformen von Religion im Sinne einer De-Institutionalisierung und Individualisierung (KRÜGGELER / VOLL 1993, S. 32, 43-47). Die Studie geht von der Luhmannschen Annahme aus, dass Individuen nicht Teile des Gesellschaftssystems sind, sondern zu dessen Umwelt gehören und meint, man könne ...
"... Religion ganz als gesellschaftliche Notwendigkeit festschreiben, während Religion für Individuen eine Angelegenheit persönlicher Option geworden ist. 'Für individuelle Menschen ist sie entbehrlich, nicht jedoch für das Kommunikationssystem Gesellschaft' (LUHMANN 1989, 350)." (ebd. S. 33)
Die Sozialstruktur funktioniere auch ohne Religion, nicht aber die Kultur moderner Individuen, so in der Studie.(6) Dem Aufbau einer religiösen Identität kommt in diesem Ansatz ausserhalb der Subjekte keine soziale Realität zu (CAMPICHE 1993, S. 53 f), das heisst, das Individum baut sich die eigene religiöse Identität selber auf, es ...
"... eignet sich jene Elemente an, die seine Bedürfnisse nach Kommunikation und religiösen Ausdrucksformen befriedigen können. Es wählt unter den angebotenen Identitätsmodellen die ihm am ehesten zusagenden Elemente aus."
Die Studie soll dabei einen Wandel nachweisen können, den Dubach (1993, S. 313) auf die Kurzformel bringt:
"Von institutionell festgelegter und vorgegebener, kollektiv-verbindlicher, konfessionell-kirchlich verfasster zu individualisierter, entscheidungsoffener, selbstreflexiver, pluriformer Religiosität."
Das Individuum werde zum religiösen Handlungszentrum und die Studie vermittle einen Einblick, wie Menschen heute in der Schweiz unter den Bedingungen struktureller Individualisierung selbstreferentiell religiöse Identität ausformen. An anderer Stelle spricht Dubach von einem Konzept der "subjektiven Multiperspektivität", welches darlege, dass für den einzelnen eine Vielzahl von religiösen Orientierungen denkbar und möglich scheint, wobei jede auf ihre Art religiöses Alltagserleben und -handeln zu legitimieren versucht. Sinnverarbeitung geschehe daher in Referenz auf sich selber und damit auf individuell einzigartige und unvergleichbare Weise. Der einzelne suche Sicherheit in der eigenen Subjektivität, und Synkretismus erweise sich so als die gesellschaftlich verbreitetste Form des Umgangs mit religiöser Pluralität. (7)

Die Entkoppelung von Gesellschaftssystem und Individuum

..., die mit einem solchen Ansatz einhergeht, kann jedoch nur noch schwer unterscheiden zwischen individuell-autonomer Religiosität und Religion als einer kollektive Identität stiftenden Institution, was sie ja gerade auch gemäss dieser Annahme sein will, nämlich ein Kommunikationssystem, das, wie ich annehme, letztlich zwischen den Individuen funktionieren muss und als solches Gesellschaft konstituieren soll. Und das Phänomen einer "Sekte" wird so definitionsgemäss ad absurdum geführt, eben weil die Ideologie einer Gruppierung als subjektiv und voluntaristisch gelebte Religiosität der einzelnen Individuen gesehen, d.h. individualisiert wahrgenommen wird. Wo bei jeder subjektiv formulierten Religiosität tendenziell auch schon von Religion gesprochen wird und der Schritt klein ist, bis Subjektivität generell schon als Religiosität erscheint, kann meines Erachtens der Einwand eines romantischen "Religionismus" erhoben werden, da so schon vom Ansatz her die Möglichkeit eines Säkularisierungsprozesses ausgeschlossen wird. "Romantische" Religionen, die sich automatisch schon aus der vermeintlich individuell-autonomen Religiösität ihrer AnhängerInnen legitimieren ohne ihre transzendenten Referenzpunkte im gesamtgesellschaftlichen Diskurs begründen zu müssen, verlieren die zentrale Funktion einer Religion. Für Stolz und Merten (1991, S. 39 f) besteht diese Funktion darin, der Gesellschaft einen Bestand an Wertressourcen und Codesystemen zur Verfügung zu stellen, die übergreifende Kommunikations- und Konsensbildungsprozesse erlauben. Aufgrund dieser Überlegungen kann es deshalb nicht erstaunen, dass die Studie über die "Religion in der Schweiz" die neuralgischen Punkte von Religion, nämlich Fundamentalismus und das Phänomen der "Sekten", praktisch nicht darzustellen vermag und die esoterische und multikulturelle Pluralisierung der religiösen Szene lediglich als "religiöse Neuansätze" thematisiert. Peter L. Berger bezeichnet diese Perspektive als charakteristisch für fast alle neoliberalen Richtungen (1988, S. 158 ff, 159): Der neue Liberalismus "subjektiviere" die Religion in radikaler Weise und verbünde sich so mit Existentialismus und/oder Psychologismus Freudscher, Neo-Freudscher und Jungscher Provenienz. Soziologie werde in der Weise verwendet, dass soziologische Daten vom kognitiven in den normativen Bereich übertragen werden:
"..., d.h. aus der empirischen Feststellung, dass in der modernen Gesellschaft gewisse Bewusstseinszustände vorherrschen, wird die erkenntnistheoretische Behauptung, diese Bewusstseinszustände seien für die Theologie gültige Kriterien. Die theoretische Möglichkeit, dass der kognitive 'Defekt' eher im modernen Bewusstsein als in der Religion zu suchen ist, wird dabei meistens übersehen."

4. ... oder beschaulich durch den religiösen Dschungel?

Viel konkreter als in der Nationalfonds-Studie wird der romantische Ansatz bei Georg Schmid, reformierter Pfarrer, Titularprofessor für allgemeine Religionsgeschichte, Kopräsident der Ökumenischen Arbeitsgemeinschaft "Neue religiöse Bewegungen", seit Beginn 1993 Leiter der sich mit Sektenfragen beschäftigenden Evangelischen Orientierungsstelle in Zürich sowie Vorstandsmitglied des Vereins infoSekta. Er thematisiert die "Sekten" vor dem Hintergrund einer "religiösen Anarchie" (1992, S. 7):
"In der religiösen Anarchie fehlt jede allgemein verbindliche spirituelle Erfahrung. Das heisst nicht, dass jede spirituelle Erfahrung ausbleibt. Im Gegenteil - religiöse Tradition gleicht einem gepflegten Garten, in dem nur erwünschte Pflänzchen gedeihen. Anarchie gleicht dem Urwald, in dem alles aufblüht, was Wurzeln schlagen kann. Das spirituelle Leben wird im Zeitalter der religiösen Anarchie nicht ärmer, sondern wilder, nicht karger, sondern lebendiger."
Die "wilde Pracht religiöser Möglichkeiten" zeigt Schmid jedesmal ein anderes Gesicht, das die Religionswissenschaft zumindest bruchstückhaft "verstehen" will. Letztlich sind es für ihn die Gesichter eines "grenzenlosen religiösen Individualismus" (ebd, S. 23, 27):
"Positiv betrachtet ist die Zeit des religiösen Pluralismus auch eine Zeit der unbedingten religiösen Mündigkeit. Ich wähle. Ich bestimme. Ich entscheide. Wie könnte der Ange hörige archaisch-geschlossener Gesellschaften religiös mündig sein? Jede Entscheidung erübrigt sich in der Geborgenheit in der einen Wahrheit. (...) Die Zeit der religiösen Anarchie ist auch die Zeit der unzähligen Neo-Mystiker und Neo-Propheten, der neuen Gottgesandten und der neuen erleuchteten Meister. Religiöse Anarchie ist das grosse Spiel des postmodernen Menschen mit allen Erlebnismöglichkeiten seiner Seele."

Offenbar aber ist dieser religiöse Dschungel grenzenlos ...

... und verschlingt selbst jene, die nichts mit Religion am Hut haben wollen. Schmid spricht von "anonymer Religion" bei jener Mehrheit, die sich mit keinem hörbaren oder gar tradierten Bekenntnis identifiziert, sich aber auch von keiner religiösen Gemeinschaft vereinnahmen lassen will (ebd. S. 30). Sie ist für ihn die Religion der religiös Einsamen, anonym, bekenntnisfern und im tiefsten Grunde spra chlos, die Religion jener, die "höchstens im Schweigen und im bewussten Verzicht auf jede religiöse Ausdrucksweise" manchmal spüren, wie nahe ihnen viele Zeitgenossen stehen (ebd. S. 32). Damit muss sich aber auch Schmid den Einwand von "Religionismus" gefallen lassen, denn wenn "Religion" das Leben des Menschen in den Fragen sein soll, "die er selber ist" , ist die Vorstellung eines Lebens ohne Religion schon per definitionem nicht mehr möglich und mit der Wertung verbunden, areligiöse Menschen könnten gar keinen Versuch unternehmen, sich selbst zu sein. Der Begriff "Religion" vereinnahmt und besetzt damit die Thematisierung vieler sensibler Bereiche des Menschen und seines Lebens, die mit anderen Begriffen und Vorstellungen eventuell viel differenzierter beschrieben und möglicherweise auch situationsgerechter verstanden werden können. Er unterstellt, dass die Artikulation von Innerlichkeit notwendigerweise religiös sein muss. Schmid schreibt (ebd. S. 37 f):
"Ausgesprochene Religion kümmert sich um eine gewissen Rangordnung der Werte. (...) Die Begeisterungsfähigkeit des anonym religiösen Menschen wird durch keine ausgesprochene Wertordnung mehr eingeschränkt. (...) Plötzlich erlebt der anonym religiöse Mensch ein Ergriffensein (...) Er wird plötzlich zum säkularreligiösen Menschen, zum Ergriffenen und Hingerissenen in der scheinbaren Banalität des Alltäglichen. Sportereignisse entarten zu metaphysischen Schlachten. (...) Ein Werk der bildenden Kunst (...) Manchmal wird sogar der politische Führer zum Gottgesandten schlechthin (...) Anonyme Religion ist der Boden. Säkularreligion ist der Baum und die Frucht. Anonyme Religion stellt sich dem säkularreligiösen Erleben nicht in den Weg. Säkularreligion gleitet in ihrer Ergriffenheit ohne Vorbehalt ins Grenzenlose. In der Regel gleicht die Säkularreligion dem Ausbruch eines Vulkans. Sie ist kein Zustand, sondern eine Eruption. (...) Säkularreligion ist oft kurzatmig. Aber sie ist deshalb durchaus nicht bedeutungslos."

Die wichtigste Weichenstellung

... ist damit für Schmids "Kausalanalyse" von Fundamentalismus, Esoterik und "Sekten" gegeben: Letztlich sind sie die Folgen von säkularen Entwicklungen, religiösem Traditionszerfall und religiöser Sprachlosigkeit. Im Fundamentalismus - er versteht den Begriff im engen Sinne als protestantischer Fundamentalismus - ist die entscheidende Erfahrung die Bekehrung, der Augenblick der Entscheidung, der die Person aufwühlt, aufrüttelt und bewegt, bis sie ganz Frage und Antwort ist. Die Fraglichkeit der Menschen ist ihr in dem Moment unmittelbar erlebbar und die befreiende Wahrheit gewiss. Die Person erfährt ein Gefühl grösster eigener Verantwortung und Bedeutung. Die fundamentalistische Person liebt diesen Augenblick als ewige Stunde der Wahrheit fast grenzenlos. Hier, so meint sie, ist jeder Mensch ganz sich selbst. Hier erkennt sie sich, wie sie wirklich ist. Hier entscheidet sich, wie sie wirklich fühlt. Niemand nimmt ihr die Entscheidung ab. Im Augenblick der Entscheidung, so nimmt die fundamentalistische Person an, ist der Mensch völlig frei und völlig wahr. Vorher und nachher unterliegt er tausenderlei Einflüssen, Stimmungen und Täuschungen (ebd. S. 44).
Diese Momentbeschreibung der subjektiven Erfahrung einer Bekehrung ist zweifellos einfühlsam und präzise. Der Fokus ist jedoch derart stark auf die Person gerichtet, dass der Bekehrungsmoment ohne Zeitdimension, hier und jetzt, und komplett losgelöst von den sozialen Bedingungen analysiert wird. Das Kollektiv, vor dem solche Bekehrung e n jeweils stattfinden, und der Einfluss dieses Kollektivs auf die subjektive Erfahrung einer Person, die sich ja immer auch im Bezug auf andere Menschen verhält, gewinnen in dieser Perspektive von Schmid keine Bedeutung für die Erklärung von Fundamentalismus. Letztlich ist es eine individuelle Entscheidung für die neue göttliche Ordnung und gegen das bedrohende Chaos in der Welt, das die fundamentalistische Person - in ihrer subjektiven Wahrnehmung - von aussen bedrängt und von innen bedroht und so die Entscheidung attraktiv macht. Und dann ist Fundamentalismus auch für viele die einzige Alternative zur eigenen religiösen Sprachlosigkeit in einer Zeit, in der Menschen, so Schmid, Innerlichkeit entweder nicht mehr aussprechen können oder sich in wilden Phantasien verlieren. Dieses intensive Durchbrechen der Sprachlosigkeit habe die fundamentalistische mit der esoterischen Person gemeinsam: Während sich die eine mit Bibelzitaten malträtiert, ergeht sich die andere in wilden Synkretismen.
Schliesslich - nachdem Schmid dem zeitgenössischen Christentum intensive Begegnungen mit dem christlichen Fundamentalismus und mit der neuen Esoterik gewünscht hat - bleibt für die Definition der "sogenannten neuen Sekten" übrig, was er mit den bisher eingeführten Begriffen nicht mehr beschreiben mag:
"... freiwillige und völlig überflüssige Ausflüge ins Reich der religiösen Phantasien oder in die schwüle Welt religiöser Ekstasen. (...) Eine zwanghafte Notwendigkeit führt den einzelnen Menschen in die Sekte und bindet ihn an seine Sekte. Der Eintritt ist nie das Resultat einer vernünftigen Überlegung und einer reifen Entscheidung, sondern das Ergebnis innerer Notwendigkeit und Zwänge. Das Mitglied der Sekte hat im Moment keine andere Wahl. Nur das Faktum, dass das Mitglied der Sektengemeinschaft genau zu dieser und nicht zu jener einzig rettenden Wahrheit fand, dass er Mo-Jünger, nicht Krishnadiener, nie Moonie und nicht Zeuge Jehovas wurde, ist vielleicht zufällig, das heisst vor allem durch äussere Umstände bestimmt. Das spätere Sektenmitglied ergreift - manchmal wie ein Ertrinkender - den Rettungsring, den man ihm zuwirft. (...) Es lebte in einer Welt, die ihm nicht erlaubte, es selbst zu sein. Die Sekte ist der letzte Versuch des Menschen, er selbst zu sein. Scheitert auch dieser Versuch, so bleibt im Grunde nur noch die Selbstzerstörung." (8)
Es bleibt wohl ein frommer Wunsch, dass auch ein Religionswissenschaftler die Behauptungen, die er so unbeschwert in die Welt setzt, empirisch zu belegen hätte: Dass nämlich der aktuelle "Sektenboom" letztlich auf die gesellschaftliche Produktion von Psychopathen zurückzuführen ist, und dass nur dank der Rekrutierungsmethoden der "Sekten" die Selbstmordrate in der "anonym religiös" gewordenen Gesellschaft auf einem einigermassen akzeptablen Level bleibt. (9) Schmid klammert jeden vereinnahmenden Einfluss eines Kollektivs auf das Individuum radikal aus seiner Analyse aus: Apokalyptische Szenarien einer Sekte spiegeln nur das Ausmass der Gefährdung der inneren und äusseren Welt der einzelnen Mitglieder. Und eine allgemeine und dauernde Entscheidungsmüdigkeit aufgrund von Schlafmangel, Missionierungsstress und wahren Gebetsorgien entsteht nicht aus den sanktionierten Forderungen des Kollektivs, sondern ist ein "freiwilliges Experiment in geistiger Unmündigkeit" (ebd. S. 70, 72). Die ständige Betreuung und Entscheidungsabnahme durch das Kollektiv sind nur "Versuche in vollkommener Geborgenheit" von Menschen, die im Grunde in eine Kindlichkeit zurückkehren, die an das Leben im Schutz des Mutterleibes erinnert (ebd. S. 77). Das Opfer wird selber schuld, zum Täter gemacht. Allenfalls honoriert Schmid die "Schönheit der Sektendoktrin" als ein Lehrgebäude, das "durch seine geniale Simplizität und seine naive Kühnheit" besticht:
"Mit einem Dutzend selbstverfertigter Begriffe erklärt Ron Hubbard das Grundproblem des menschlichen Geistes und den Weg, der diesen Geist befreit. (...) So simpel und so luzide wie Ron Hubbard hat noch kaum jemand den Weg zu einem befreiten Geist vorgezeichnet. (...) Natürlich sind die einzelnen Erkenntnisse Hubbards in der Sicht des kritischen Beobachters bloss Halbwahrheiten. Und Halbwahrheiten werden nicht dadurch wahrer, dass man sie lückenlos ineinanderfügt. Aber Halbwahrheiten wirken imposant und versprechen umfassende Erkenntnis, wenn sie der Meister als Architekt des neuen Welthauses fugenlos miteinander verbindet." (10)

5. Ein Organisationsmodell für den Selbstschutz

Peter L. Berger sieht das Aufkommen von sektiererisch sozioreligiösen Organisationen im Gefolge einer energischen, neo-orthodoxen Bestätigung der Objektivität von Religion in einer säkularisierten, pluralistischen Situation. Das heisst, wenn die Objektivität der Religion als unabhängig von allen wissenschaftlichen Entdeckungen und Erkenntnissen der Geschichtswissenschaft definiert wird, kann sie sich eine gleichgültige Haltung gegenüber den wechselnden Moden säkularer Weltanschauungen leisten. Berger schrieb 1967 (1988, S. 155 f):
"Grob gesagt, wenn man heutzutage glauben soll, was die Neo-Orthodoxie einen glauben machen möchte, dann sollte man mit seinen Glaubensbrüdern tunlichst ständig eng zusammenhocken. (...) Die Sekte in ihrer klassischen religionssoziologischen Konzeption ist das Organisationsmodell für den Selbstschutz kognitiver Minderheiten gegen eine feindliche, oder mindestens anders- bzw. nichtgläubige Umwelt. Die Notwendigkeit zu dieser Organisationsform besteht ganz unabhängig von der jeweiligen religiösen Selbstauffassung der Minderheit . Sie besteht genauso für den Katholizismus (trotz seines universalistischen, tief antisektiererischen Charakters), wo immer er sich in einem ausgesprochen nichtkatholischen Milieu Bestand sichern will. Sie lässt sich auch bei protestantischen Gruppen mit freikirchlicher Tradition, bei denen es um Orthodoxie oder Nichtorthodoxie geht, nachweisen (die allerdings den Vorteil haben, das neue Sektierertum auf althergebrachte Weise legitimieren zu können). Das Gebot der "gesellschaftlichen Steuerung" führt jedoch zum Problem der Werbung - denn die Menschen müssen motiviert werden, Sektierer zu bleiben oder zu werden. Dies ist um so schwieriger, je attraktiver die "Aussenwelt" ist. In Europa wurde die Gesamtgesellschaft wenige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg wieder attraktiv. In Deutschland (noch immer Kernland der meisten protestantischen Neuerungen) lässt sich der Wendepunkt mit peinlicher Präzision auf das Jahr 1948 datieren - das Jahr der Währungsreform und des Beginns der wirtschaftliche Erholung (...). An einem solchen Punkt wird es schwierig, die "Aussenwelt" als "Feind", als Verkörperung "dämonischer Kräfte" und dergleichen anzusehen. Plötzlich tauchten neue theologische Legitimationen der "Säkularität" auf, und die Vorherrschaft der Neo-Orthodoxie begann sich ziemlich rapide aufzulösen, besonders unter den jüngeren Theologen, die den Kirchenkampf nicht miterlebt hatten."
Berger meint mit Neo-Orthodoxie eine Plausibilitätsstruktur, die für die legitimierenden Rahmenbedingungen sorgt, innerhalb denen sich "Sekten" formieren können. Interessant ist der Ansatz von Berger im Vergleich zu den vorhergehenden zudem, weil er "Sekten" organisatorische Kompetenz zugesteht. "Sekten" sind in dieser Perspektive also nicht einfach nur Orte des Schutzes, wohin labile und überforderte Menschen sich selbstbornierend flüchten, sondern werden in einen engen Bezug zu öffentlichen Diskursen gebracht und diese Diskurse entsprechend für die Entstehung von "Sekten" mitverantwortlich gemacht, weil sie - bezugnehmend auf gesellschaftliche Verhältnisse - bestimmte Erwartungen in die Zukunft prägen, Ängste schüren und damit für die Handlungen der einzelnen Menschen relevant werden, Handlungen, die sich so mobilisieren und organisieren lassen.

Orthodoxie und die Probleme der Kommunikation

Orthodoxie im Sinne der Rechtgläubigkeit ist eine voraufgeklärte Orientierung, in der das Sein als unwandelbar und unvergänglich gesetzt wird, zum Beispiel als von Gott gegeben, und nicht als eine Wahrnehmung und damit als eine Möglichkeit, d.h. als kontingent erkannt wird. Orthodoxie geht damit von einem "ontologischen Wahrheitsbegriff" (LUHMANN 1974, S. 56 ff) aus, bei dem die Frage nach dem "Warum" des Lebens bereits beantwortet ist. Eine solche Wahrheit ist nicht hypothetisch, das heisst, die ontologische Sinnhaftigkeit des Lebens ist nicht eine von alternativen Möglichkeiten gefährdete Variable, die in kommunikativer Auseinandersetzung immer wieder neu zu bestimmen ist. Die Wahrheit ist faktisch, und Sinn wird für eine qualitativ gegebene Konstante gehalten, die lediglich gesucht oder (wieder)entdeckt werden will: "Das ist mein Karma", "Gott ist die Wahrheit, die Bibel sein Wort", "Ich bin in Jesus wiedergeboren", "Dein Wille geschehe, Dein Reich komme" - quasi ein "Archimedischer Punkt", von dem aus sich alle widersprüchlichen Definitionen der Wirklichkeit relativieren lassen (BERGER 1988, S. 154). Handlungsrelevant wird Orthodoxie dann, wenn diese gesetzten Konstanten zu kausalen Grundlagen für die Wirklichkeitswahrnehmung werden und damit diese Wirklichkeitswahrnehmung unhinterfragbar machen, ohne dass gleichzeitig auch sie selber fragwürdig werden. Wer fest daran glaubt, dass Gott Vater der Schöpfer allen Lebens im engen, buchstäblichen Sinne ist, tut sich schwer mit der Vorstellung, dass sich Leben auch evolutionär entwickeln kann, denn diese stellt die geglaubte allumfassende Ursächlichkeit Gottes in Frage. Orthodoxie immunisiert die Wahrnehmung der Wirklichkeit gegenüber alternativen Deutungen und prädestiniert Konflikt, weil Vorstellungserklärungen, nach Luhmann (1974), dort destruktiv empfunden werden, ...
"..., wo ontologische Wahrheit erwartet wird (...); nur dadurch haben sie den Charakter fata-ler Enthüllungen, die unsicher und skeptisch machen."
Kommunikative Verständigung über die Grundlagen des Lebens wird in dieser Perspektive also nicht nur für überflüssig, sondern geradezu als blasphemisch erachtet. Orthodoxie trennt die Welt in Rechtgläubige und Ungläubige, prägt so die Wahrnehmung der sozialen Umwelt nachhaltig und kann Selbstschutz psychologisch zu einer organisatorischen Notwendigkeit werden lassen. Die katholische Kirchengeschichte macht sehr deutlich, dass Orthodoxie sich auch nicht von alleine erhält, sondern erhalten werden muss. Orthodoxie fordert ein bestimmtes organisatorisches Handeln unweigerlich heraus, denn sie ist auf "indoktrinierende Instruktion" der "rechten" Lehre angewiesen, die - wie der jesuitische Religionspsychologe Bernhard Grom schreibt (1992, S. 36) - auf die unreflektierte Übernahme und Einprägung der Lehre zielt, ...
"..., ohne der persönlichen Auseinandersetzung mit ihr Raum zu geben. Sie unterschlägt nach Möglichkeit dissonante Elemente, indem sie Einwände und Alternativen verschweigt oder nur verkürzt und abwertend erwähnt. Damit praktiziert und fördert sie meistens ein rigides, dogmatisches und autoritäres statt ein argumentierendes Denken."
Orthodoxie prägt über die indoktrinierende Instruktion nicht nur das Norm- und Wertgefüge der einzelnen Menschen im Sinne der "rechten" Lehre, sondern auch die Sprache in einer Weise, welche die Verständigung mit Aussenstehenden erschwert und zu zahlreichen Missverständnissen und Konflikten Anlass geben kann. Orthodoxe Sprache - auch in der Form einer eigentlichen Neusprache im Sinne von Georg Orwells "1984" - erfüllt damit zwei Funktionen, die sich im Hinblick auf eine effiziente Organisationsweise als höchst nützlich erweisen: Für die darin verhafteten Menschen erschwert bis verunmöglicht sie die Kommunikation mit der Aussenwelt, drängt die Mitglieder verstärkt in die Isolation der partikulären Gruppenwahrheit und sichert damit den Zusammenhalt der Gemeinschaften. Bestimmte "Reizwörter", Symbole, Riten oder Lieder können zu eigentlichen Konditionierungsinstrumenten werden, die unwillkürlich angenehme und unangenehme Gefühlsreaktionen hervorrufen, je nachdem, mit welchen früheren Erfahrungen sie verknüpft werden (ebd., S. 40).
Im gesellschaftlichen Diskurs eröffnet die orthodoxe Sprache zudem strategische Nischen durch verwirrte Einschüchterung und Täuschung. Verwirrte Einschüchterung kann entstehen, wo ein neusprachlich formuliertes Lehrsystem als "neueste" Erkenntnis verkauft wird, sich einen höchst komplexen und universellen Anschein gibt und damit gesellschaftlich diskussionswürdig und zuverlässig erscheint. Von Täuschung kann gesprochen werden, wenn in öffentlichen Auseinandersetzungen die in der Orthodoxie gesellschaftlich gebräuchliche Begriffe benutzt und undeklariert mit eigenen Sinnzusammenhängen versehen werden. Damit wird die Bedeutung gesellschaftlicher Diskurse für die Bildung von Selbstschutzorganisationen plausibel.

Organisationen ...

... sind in der Soziologie Sozialgebilde mit einem relativ hohen Grad an rationaler Formalisierung der Ziele und der Mittel, diese Ziele zu erreichen (SCHÄFER 1980, S. 23). Sie verfügen über Strukturen der Entscheidungs- und der Anordnungskompetenzen, in der Regel hierarchisch aufgebaute Rollendifferentiale mit klaren Abgrenzungen gegenüber der Aussenwelt. Zudem besteht eine soziale Organisation aus einer formalen und einer informalen Organisation. Während das Managment, der engere Kaderkreis die formale Organisation (Verhaltens- und Rollenmuster) und die Ziel-Mittel-Relation ("Wertsystem") bestimmen und kontrollieren, wird die informale Organisation der gewöhnlichen Mitglieder von der "Logik der Gefühle" bestimmt, das heisst von ihren persönlichen Interessen, ihren sozialen Einschätzungen, ihren Beziehungen untereinander und ihren gemeinsamen Erwartungen hinsichtlich der Ziel-Mittel-Relation der formalen Organisation.
In der Beschreibung der Ziel-Mittel-Relation einer "Sekte" nennt Berger das "Gebot der gesellschaftlichen Steuerung" als das Handlungsziel , das aus der Wahrnehmung einer bestimmten Bedrohung resultiert (gottlose "Aussenwelt als Feind"), dann das "Organisationsmodell für den Selbstschutz" als das wahrgenommene Mittel für die Zielerreichung auf kollektiver Ebene, sowie "Werbung" als Mittel auf individueller Ebene zur Motivierung zu kollektivem Handeln. Insofern ist als Organisationsmodell eine "Sekte" also durchaus vergleichbar mit einem Unternehmen. Auch betriebswirtschaftlich gesehen ist die vordringlichste Kaderfunktion jeder Organisation die optimale Ausrichtung der internen Rollenmuster, Normen, Handlungsabläufe und der "Unternehmensphilosophie" auf diese Ziel-Mittel-Relation. Diesen Aspekt der "Sekte" als einer Unternehmenskultur will ich hier über Berger hinaus systemtheoretisch etwas ausführen.

Exkurs: Unternehmenskultur

"Mit dem Begriff der Unternehmenskultur soll zum Ausdruck gebracht werden, dass Betriebswirtschaften in ihrem Agieren eine gewisse wert- und normbezogene Eigenständigkeit entwickeln können, durch welche sie sich voneinander und u.U. auch bis zu einem gewissen Grade vom Wert- und Normgefüge der Gesamtgesellschaft abheben können. Unternehmenskultur äussert sich - insbesondere, wenn sie stark ausgeprägt ist - in einer gemeinsamen Geisteshaltung und Denkweise der Organisationsmitglieder. Sie beeinflusst Entscheidungen und Handlungen auf allen Hierarchieebenen und in jeder Abteilung. Spezifische Unternehmenskulturen können für Erfolg und Wettbewerbsfähigkeit von ausschlaggebender Bedeutung sein." (HEINEN 1987, S. 2)
Edmund Heinen beschränkt den Begriff Unternehmenskultur "inhaltlich auf die unternehmensbezogenen Werte und Normen im Sinne eines gemeinsamen Ideensystems der Organisationsmitglieder" und meint damit nicht einfach ein weiteres funktionales Subsystem innerhalb einer Unternehmung, sondern vielmehr ein ideelles Metasystem für das Sozialsystem Unternehmen, auf das die einzelnen unternehmerischen Subsysteme bezogen sind und durch das sie optimal aufeinander abgestimmt werden (ebd., S. 22, 25, 43). Unternehmenskultur sozialisiert somit erstens über soziale symbolvermittelte Interaktionen zwischen den Mitgliedern unternehmensbezogene Werte als Ressource zur Beurteilung von Zuständen, Ereignissen und verfügbaren Handlungsalternativen. Und zweitens konstituiert sich Unternehmenskultur durch ein Set von unternehmensbezogenen Normen wie a) Verhaltensregeln, Vorschriften und technische Normen als Direktiven im Sinne von Wenn-Dann-Sätzen, und b) auf einer untergeordneten Ebene Gebräuche (Manieren, Moden etc. als anonyme, implizite Verhaltensvorschriften), moralische Prinzipien, die im engen Zusammenhang mit Vorschriften und technischen Normen stehen, sowie Ideal-Regeln, die den erwünschten Sollzustand bezeichnen (ebd., S. 23 f).
Allgemein wird Unternehmenskultur als Prozess interpretiert, dessen Verlauf und dessen Ergebnisse wesentlich von menschlichen Entscheidungen und Handlungen geprägt werden. Heinen schlägt eine Typologisierung von Unternehmenskulturen anhand der drei Dimensionen "Verankerungsgrad", "Übereinstimmungsausmass" und "Systemvereinbarkeit" vor (ebd., S. 26 ff). Der Verankerungsgrad (VAG) meint das Ausmass, mit welchem die unternehmensbezogenen Werte und Normen Eingang in das individuelle Werte- und Normengefüge gefunden haben und zwar in den Ausprägungen "vollständige Internalisation", "opportunistische Anpassung" und "vollständige Ablehnung". Das Übereinstimmungsausmass (ÜAM) bezeichnet, wieweit die einzelnen Mitglieder einer Unternehmung vergleichbare unternehmensbezogene Werte und Normen übernommen haben und zwar in den Ausprägungen "unternehmenskulturelle Desintegration", "Subkulturen" (im Gruppenvergleich heterogen, gruppenintern homogen) und "Einheitskultur". Die Systemvereinbarkeit (SV) besagt, ob die formalen Instrumente der Mitarbeiter- und Unternehmensführung durch das unternehmensbezogene Wert- und Normengefüge der Unternehmensmitglieder akzeptiert wird. Anhand dieser drei Dimensionen beschreibt Heinen schliesslich 16 Unternehmenskulturtypen, die er hinsichtlich ihrer Beiträge zum Unternehmenserfolg beurteilt. Ich will lediglich vier dieser Typen kurz vorstellen und zwar über drei heuristische und idealisierte Denkmodelle (vgl. unten Abbildung 1.1.).

Modell 1:
In einem ersten Denkmodell soll von der Systemebene der "Sekte" ausgegangen werden, die als Unternehmenskultur international verteilt aus verschiedenen Subsystemen bzw. Unterorganisationen und eng zusammenlebenden Gemeinschaften oder Subkulturen besteht. Davon ausgehend kann vermutet werden, dass die Internalisation der sektenbezogenen Werte und Normen relativ hoch (VAG) und im Mitgliedervergleich relativ homogen (ÜAM) ist und dass das internalisierte Wert- und Normgefüge der Sektenmitglieder das Autoritätssystem der "Sekte" auch voll und ganz akzeptiert (SV). In der Terminologie von Heinen pflegt damit eine "Sekte" eine "starke, systemgestützte Unternehmenskultur" (Typ 1). Sie verkörpert so ein "exzellentes" Unternehmen, ein Fall, der in der Realität anzustreben, jedoch nur schwer erreichbar ist (ebd., S. 29). Da manche "Sekten" den Anspruch erheben, an sich funktionierende Gesellschaftsmodelle zu leben, soll in den folgenden zwei Denkmodellen von einer höheren Systemebene, von der Gesamtgesellschaft ausgegangen werden.

Modell 2:
Ausgehend von der Unternehmenskultur einer "modernen" Gesellschaft soll in einer ersten Variante angenommen werden, dass in ihr wesentlich "antimoderne" Sektenorganisationen Subkulturen bilden. Es kann somit vermutet werden, dass das Wert- und Normengefüge der säkularen Gesellschaft von den Sektenmitgliedern opportunistisch akzeptiert oder abge-lehnt wird (VAG). Die Sektemitglieder bilden zudem eine homogene Subkultur in der Plurali-tät anderer Kulturen (ÜAM), und es soll angenommen werden, dass die Sektenmitglieder de-mo-kratische Institutionen und Werte für eine menschliche Anmassung gegenüber dem Willen Got-tes empfinden (SV). In der Terminologie von Heinen würde damit diese (post)moderne multi-kulturelle Gesellschaft dem Typ der "kulturlosen Unternehmung" entsprechen (Typ 8).
In einer zweiten Variante soll davon ausgegangen werden, dass die Unternehmenskultur der "modernen" Gesellschaft sich ebenfalls aus "modernen" Subkulturen zusammensetzt. Die Verankerung der Subkulturmitglieder im Wert- und Normengefüge der Gesellschaft dürfte damit relativ hoch sein (VAG), obwohl sehr heterogen im Gruppenvergleich (ÜAM). Demokratische Institutionen und Werte werden voll akzeptiert (SV). Die moderne Gesellschaft pflegt nach Heinen so eine "starke, systemgestützte Subkulturen-Kultur", die lediglich auf einem Minimum an Integration durch die Führungsinstrumente des Systems gewährleistet ist (Typ 3).

Modell 3:
Geht man von der Unternehmenskultur einer religiösen Gesellschaft aus, lässt sich das Denkmodell wiederum in zwei Varianten durchspielen. Nimmt man eine christlich-liberale Unternehmenskultur an, in der christlich-fundamentalistische "Sekten" eine oppos itionelle Subkultur bilden, bedeutet dies zwar eine relativ hohe Verankerung der Subkulturmitglieder im Wert- und Normengefüge der Gesellschaft ,und auch der Gruppenvergleich dürfte recht homogen ausfallen. Jedoch würde die liberale Systemkonzeption kaum von den fundamentalistischen Subkulturen akzeptiert werden (SV). Heinen spricht bei dieser Konstellation von einer "schwachen, systemkonkurrierenden Einheitskultur" (Typ 6).
In der zweiten Variante bildet christlicher Fundamentalismus die Unternehmenskultur. Es ist dabei kaum anzunehmen, dass sie andere als fundamentalistische Subkulturen akzeptieren würde. Die Verankerung der Subkulturmitglieder wäre damit hoch, der Gruppenvergleich homogen und die Systemakzeptanz optimal. Damit sind wir wieder bei Typ 1, bei der "exzellenten" "stark systemgestützten Unternehmenskultur".

Aufgrund dieser Überlegungen können folgende Thesen zusammenfassend formuliert werden:
"Sekten" sind als "exzellente" Unternehmen ernstzunehmen. Die Beobachtung und Bewertung des Beitrittsverhaltens und der oft zitierten Veränderung von Menschen in "Sekten" muss ...
erstens die Wirkung einer auf Entscheidungen basierenden und kollektiv getragenen Unternehmenskultur mitberücksichtigen 
und zweitens die Möglichkeit, dass "Sekten" als kollektive Akteure ihre diskursive Umwelt im Sinne ihrer Zielsetzung zu prägen versuchen - zum Beispiel durch Unterstützung einer energischen neo-orthodoxen Bestätigung der Objektivität von Religion.
Die Aussichten, die sich daraus erwarten lassen - postmoderne Kulturlosigkeit oder fundamentalistische Einheitskultur -, sind kaum ermutigende Alternativen zu den Mängeln der materialistischen Moderne.

Die drei Denkmodelle im Überblick

 

Unternehmenskultur: System/Subsystem

VAG bei Mitgliedern: Verankerung der Systemwerte


ÜAM zwischen Subsystemen/Gruppen: Mitgliedervergleich SV: Kooperation System/Subsystem

Modell 1

"Sekte" als "starke, systemgestützte Unternehmenskultur": Sektenorganisation /einzelne Gemeinschaften:

 

 

 

hoch

 

 

Einheitskultur

 

 

maximal 

 

Modell 2:

"Moderne" Gesellschaft als "kulturlose Unternehmung": moderne Gesellschaft / antimoderne Subkulturen:

 

 

 

tief

 

 

kulturelle Desintegration

 

 

 

Ablehnung

 

"Moderne" Gesellschaft als "starke, systemgestützte Subkulturen-Kultur: moderne Gesellschaft / moderne Subkulturen:

 

 

hoch

 

 

heterogene Subkultur

 

 

gewährleistet

 

Modell 3:

"Christliche" Gesellschaft als "schwache systemkonkurrierende Einheitskultur" christliche Gesellschaft / fundamentalistische Subkulturen:

 

 

 

 

opportunistisch

 

 

 

homogene Subkultur

 

 

 

Ablehnung

 

"Fundamentalistische" G. als "starke systemgestützte Unternehmenskultur": fundamentalistische Gesellschaft / fundamentalistische Subkulturen:

 

 

 

hoch 

 

 

 

Einheitskultur

 

 

 

maximal

 


 

 

 

 

 

 

Anmerkung: Modelle gemäss der Unternehmenstypologie von HEINEN 1987, 29-32.

 

6. Destruktive Kulte

Zwei Fachtagungen brachten im deutschsprachigen Raum eine neue Perspektive in die Diskussion der "Sekten". Die erste Fachtagung wurde im Februar 1978 in Hannover von der deutschen Bundeskonferenz für Erziehungsberatung und der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie unter dem Titel "Probleme im Zusammenhang mit den sogenannten Jugendreligionen" durchgeführt (MÜLLER-KÜPPERS / SPECHT 1979). Zur zweiten Internationalen Tagung lud im November 1981 die 1977 gegründete "Aktion für geistige und psychische Freiheit - Arbeitsgemeinschaft der Elterninitiativen e.V." (AGPF) nach Bonn ein. Dieses Tagung, gefördert und unterstützt von der deutschen Bundesregierung und verschiedenen gesundheitsfürsorglichen Institutionen, trug den Titel "Die gesellschaftlichen und gesundheitlichen Folgen neuer totalitärer religiöser und pseudoreligiöser Bewegungen". Die AGPF begründete einladend ihr Vorhaben wie folgt:
"Seit den 60er Jahren gewinnen neuartige religiöse Gruppierungen an Einfluss in allen Industriestaaten. Ihre Organisation und ihre Wirkungen entsprechen z.B. den Kriterien, die der amerikanische Psychologe Robert Lifton für totalitäre politische Gruppen entwickelt hat. In der Tat ist der Einfluss der sog. Neuen Jugendreligionen oder "destruktiven Kulte" auf ihre Mitglieder tiefgreifend und hat erhebliche Veränderungen der Persönlichkeitsstruktur des einzelnen zur Folge. (...) Die Tagung soll sich mit den Erfahrungen befassen, die mit den jungen Menschen in totalitär-religiösen Gruppen in der Bundesrepublik und in anderen Staaten bisher gemacht wurden. Insbesondere sollen folgende Probleme erörtert werden:
1. Inwieweit tragen die Gruppen durch ihr Verhalten, z.B. durch bestimmte Psychotechniken, dazu bei, dass Menschen sich von der Gesellschaft abwenden und sich dem Zwang einer Gruppe unterwerfen?
2. Welche Auswirkungen hat die Zugehörigkeit zu Kulten, auch solchen meditativen Charakters, auf die Psyche der Kultmitglieder? Bewirkt die Zugehörigkeit psychische Pathologien?
3. Welche Chancen bestehen, sich aus den Kulten zu lösen oder daraus gelöst zu werden? (...)
6. Welche Gefahren bestehen für die Gesamtgesellschaft, wenn totalitär-religiöse Gruppen weiter an Einfluss gewinnen?" (zitiert nach KARBE / MÜLLER-KÜPPERS 1983, S.5)
Die Anlehnung an den Begriff "destructive cult" macht deutlich, dass sich diese neue Perspektive auf eine Diskussion bezieht, die sich bereits vor geraumer Zeit in den USA zu entwickeln begonnen hatte. 1961 veröffentlichte Robert Jay Lifton seine Studie "Thought Reform and the Psychology of Totalism", in der er die Techniken und Prozesse der Gehirnwäsche beschrieb, wie sie im Koreakrieg von chinesischen Kommunisten an amerikanischen Kriegsgefangenen praktiziert worden waren. Seit dem Zweiten Weltkrieg wird das dahinterstehende Phänomen "mind control" oder Bewusstseinskontrolle intensiv erforscht und entwickelt. Die CIA gibt zu, seit Anfang der fünfziger Jahre Experimente mit Drogen, Elektroschocks und Hypnose durchgeführt zu haben. (11) 1963 erregte das sozialpsychologische Gehorsamkeitsexperiment von Milgram Aufsehen, das eine enorme Autoritätsgläubigkeit des Menschen zu belegen vermochte. In den 60er Jahren begann im Hintergrund der Hippie-Bewegung das "Human Potential Movement" in der Psychologie mit Techniken zur Steuerung individueller Verhaltensweisen und der Gruppendynamik zu experimentieren und entwickelte ein neues Instrumentarium der Bewusstseinskontrolle, das heute in vielen New Age-Seminarien eingesetzt wird. In den 70er Jahren begann schliesslich das öffentliche Bewusstsein für das destruktive Potential der Sektenzugehörigkeit zu wachsen. Ted Patrick gehörte zu den ersten, die den Hilferuf verzweifelter Eltern und Angehörigen ernst nahmen. A < script src="/media/sys/feinheit/tinymce/themes/advanced/langs/en.js" type="text/javascript"> ngesichts der subtilen Praktiken und Möglichkeiten der Sekten schreckte er jedoch selbst vor ethisch fragwürdigen "Hilfs"-Methoden nicht mehr zurück. Er entwickelte das sogenannte "De-Programming", die in verschiedener Hinsicht hoch problematische Methode, das Sektenmitglied gewaltsam zu entführen, um an einem isolierten Ort die "Gehirnwäsche" rückgängig zu machen. (12)

1978 erregten zwei Ereignisse die Aufmerksamkeit ...

... zuerst die der amerikanischen, dann die der Weltöffentlichkeit und veränderten die Wahrnehmung der "Sekten": Am 31. Oktober 1978 veröffentlichte eine parlamentarische Kommission unter der Leitung von US-Kongressmitglied Donald Fraser einen Untersuchungsbericht zum sogenannten "Koreagate", einem Skandal um 93 Millionen Dollar Militärhilfe an Südkorea. Zentraler Mittelsmann war Bo Hi Pak, südkoreanischer Militärattaché, Geheimdienstler und Missionsleiter der Vereinigungskirche und engster Vertrauter des südkoreanischen Messias San Myung Mun. (13) Der Bericht befand, der südkoreanische CIA habe die Mun-Organisation für Demonstrationen zur Unterstützung der koreanischen Regierungspolitik durch die USA benutzt. Zudem habe die Organisation systematisch gegen zahlreiche Steuer-, Einwanderungs-, Bank-, Devisen- und Aussenhandelsgesetze verstossen. Der Abschnitt über die Mun-Organisation nimmt im Bericht rund 80 Seiten ein. Daraus wurde deutlich, dass die "Sekte" ein politisches Instrument ist, ein Eindruck, der sich in den Folgejahren in Amerika aufgrund eines breiten politischen Schulterschlusses fundamentalistischer Kräfte verstärkte.
Als Messias Mun 1984 tatsächlich für rund ein Jahr wegen Steuerhinterziehung ins Gefängnis musste, verstand er es, das protestantisch-fundamentalistische Lager in einer "Coalition for Religious Freedom" mit Fernsehpredigern wie Jimmy Swaggart und Jerry Falwell hinter sich zu scharen. Die verschiedenen fundamentalistischen Lager einigten sich im Protest gegen die angebliche Unterdrückung einer unpopulären Religion. (14) Umgekehrt konnte die "New Religious Political Right" mit der finanziellen, personellen und medientechnischen Unterstützung der Mun-Organisationen rechnen. (15) Die Fundamentalisten sind im Schatten von Ronald Reagan trotz zahlreicher spektakulärer Skandale um Sex, Geld und Macht zu einem bedeutenden politischen Faktor in der amerikanischen Politik herangewachsen. Der Fernsehprediger und Präsidentschaftskandidat von 1988 Pat Robertson meinte 1986: "April 29, 1980, was the beginning of a spiritual revolution." (zitiert nach HADDEN / SHUPE 1988, S. 36). Das Datum verweist auf den Marsch der 200'000 "Born agains" - auch evangelikale Christen genannt - nach Washington ("Washington for Jesus"), organisiert von Robertson und William R. Bright, dem Präsidenten der "Campus Crusade for Christ International". Obwohl die säkularen Medien die Veranstaltung marginalisierten, erreichte sie Millionen von Fernsehzuschauern über evangelikale Satelitennetzwerke. Aus anderer Perspektive markierte das Datum "a religious happening unlike any that occured before in America" (HADDEN / SHUPE 1988, S. 20-37) oder - dramatischer - den formalen Einbruch von "Holy Terror" in die Politik. Flo Conway und Jim Siegelman (1982, S. 25 f) meinen mit "Terror" nicht eigentlich Gewalt, aber Furcht: Das Klima von Einschüchterung, Repression und Chaos, das Furcht erzeugt, ein Klima, das ihrer Meinung nach dann entsteht, wenn religiöser und politischer Absolutismus zum Hauptmachtinstrument erkoren wird. William R.Bright erwies sich auch in den Folgejahren als Organisator der sog. EXPLO 85 und 90 als die zentrale Person in einer weltweiten christlich-fundamentalistischen Massenevangelisation. EXPLO 85 war ein medientechnisches Grossereignis ersten Ranges. Von London aus wurden über 18 Satelliten simultane Evangelisationsveranstaltungen an 90 verschiedenen Orten in 45 Nationen miteinander verbunden (HADDEN /SHUPE 1988, S. 26).
Kurz nach dem Fraser-Report schreckte im November 1978 der Massenselbstmord von rund 900 AnhängerInnen der "People's Temple"-Gemeinde von Jim Jones im südamerikanischen Staat Guyana die Weltöffentlichkeit auf. Die Gläubigen folgten ihrem fundamentalistischen Führer aus Kalifornien ins südamerikanische Exil in der Vorstellung, die dem Endgericht verfallene Welt hinter sich zu lassen und ins gelobte Land zu ziehen. Mit dem Selbstmord wollten sie sich dem vernichtenden Angriff ihrer vermeintlichen Feinde entziehen - "motiviert" durch subtile gruppendynamische "Zuckerbrot und Peitschen"-Prozesse. Die ethische Dimension von "mind control" wurde damit unübersehbar und hat ein akutes Interesse an Konversions- und Manipulationsprozessen geweckt. (16)

Die beiden Fachtagungen

...in Hannover und Bonn und schliesslich der 1. Internationale Kongress im November 1987 in Barcelona, Spanien, zum Thema "Cults and Society - Cults as a Social Problem" (APJ ed. 1988) müssen vor diesem Hintergrund gesehen werden. Zahlreiche Eltern- und Bürgerinitiativen entwickelten sich daraus nicht nur im gesamten deutschsprachigen Raum. Karbe und Müller-Küppers schreiben:
"Die Destruktivität totalitärer Heilsbewegungen braucht in Deutschland nach den Erfahrungen des Dritten Reiches nicht näher erläutert zu werden. Diese Erfahrung hat allerdings die Deutschen nicht gegen die Verführung durch Heilsbewegungen, ob sie nun religiös verbrämt sind oder nicht, immun gemacht." (1983, S. 6)
Wie die "Destruktivität" dieser Kulte gesehen wird, lässt sich nur schon aus den Referatstiteln der Bonner Fachtagung ersehen: Louis J. West, Professor für Psychiatrie und Verhaltensforschung in Los Angeles, thematisierte "Kulte als Problem der öffentlichen Gesundheit"; Eberhard Lungershausen, Professor in Ulm und Direktor des Bezirkskrankenhauses in Günzburg, sprach zu den "psychiatrischen Problemen im Zusammenhang mit den sog. Jugendsekten"; Arzt und Professor Hermann Lang aus Heidelberg ging der Frage nach: "Können Jugendsekten krank machen?"; Claus Haring, Professor an der Psychiatrischen Universitätsklinik in Düsseldorf, beschäftigte sich mit den "psychischen Störungen bei Mitgliedern von totalitären religiösen Gemeinschaften", und der Mediziner Klaus Thomas reflektierte die "Psychomutation", wie der Pfarrer und Münchner Sektenfachmann Friedrich-Willhelm Haack den Bekehrungsprozess genannt hat, aus psychopathologischer Sicht: "Persönlichkeitsveränderungen junger Menschen in destruktiven Kulten. Von der überwertigen Idee bis zur hypnotischen Gehirnkontrolle."
Dieser Themenkatalog wurde am Kongress 1987 in Barcelona durch die Erörterung der Folgen der Sektenexpansion für die Gesellschaft erweitert. Allerdings blieb "mind control" das Kernthema des Kongresses mit Referaten vor allem amerikanischer SpezialistInnen wie Louis J. West, Michael D.Langone, Psychologe und Forschungsleiter der American Family Foundation (AFF), und Margaret T.Singer, Psychologin und Dozentin an der Universität in Berkeley, Kalifornien, ebenfalls AFF-Mitglied. Singer und West verorteten in ihren Beiträgen die Krankheitsbilder, die "Sekten" mit ihrem Lebensstil und ihren Praktiken verursachen können, nun präzise im Standardhandbuch der Amerikanischen Psychiatrischen Gesellschaft, dem sog. "DSM III-R", als "Post-Traumatic Stress Disorder (PTSD)", "Atypical dissociative dissorders" und "Relaxation Induced Anxiety (R.I.A.)". Langone und Marsha Addis setzten sich mit den Problemen sektenbetroffener und -geschädigter Familien und der damit verbundenen Beratungsarbeit auseinander. Marsha Addis leitete jahrelang die Öffentlichkeitsarbeit des Neuropsychiatrischen Instituts der Universität in Los Angeles, war 1979 beteiligt an der Einrichtung des ersten professionell gesponsorten Beratungs- und Erziehungsprogramms für Familien von Sektenmitgliedern und gehört dem Beirat der American Family Foundation an. Shirley Landa, Spezialistin in der Beratung von ehemaligen Sektenmitgliedern und Mitbegründerin des amerikanischen "Cult Awareness Network" (CAN), einer "non profit organization dealing with destructive cults", machte eindringlich auf den Einfluss aufmerksam, den totalitäre Strukturen von "Sekten" auf Familienbeziehungen und die Erziehung von Kindern in "Sekten" haben kann. Vier weitere Beiträge beleuchteten "Sekten" aus der Sicht von Legalität und Recht: die Beiträge der spanischen Staatsanwältin Teresa Compte, der Juristin Julia Nyssens, die 1976 die belgische "Association de Défense de l'Individu et de la Famille" (ADIF) gründete, von Gerd Meyer, Hauptkriminalinspektor in Berlin und Vizepräsident der Elterninitiative Leverkusen, sowie von Richard Ofshe, Professor für Soziologie in Berkeley, Kalifornien. Und in drei Beiträgen unter dem Stichwort "Cults and Drugs" wurde schliesslich Sektenabhängigkeit mit Suchtverhalten verglichen.

Gruppierungen mit vereinnahmender, totalitärer Tendenz

Wie nur schon die thematische Entwicklung der Fachtagung von 1981 zum Kongress von 1987 deutlich macht, steckt die kritische Diskurslinie, die mit der Beobachtung der "Destruktivität" bestimmter Gruppierungen begonnen hat, mitten in einem Lernprozess, der die anfänglich noch eher holzschnittartigen Analysen und plakativen Begriffe zusehends überwindet und differenziert. Wie auch schon im obigen Ansatz von Karbe und Müller-Küppers ersichtlich geworden ist, erkennt man, dass das "Sektenproblem" nicht auf ein religiöses Problem reduziert werden kann und dass es auch nicht mit der gesundheitlichen Problematisierung der Mitgliedschaft alleine schon gelöst ist, sondern dass die komplexen gesellschaftlichen Verhältnisse mitberücksichtigt werden müssen. Der Fokus richtet sich dabei immer stärker von den Folgen auf die eigentlichen Ursachen, die Prozesse, die in solchen Gruppierungen ablaufen. Aus dieser neuen Perspektive wird eine Gruppierung vor allem als "totalitär" wahrgenommen, wenn sie ...
"... die Rechte ihrer Mitglieder verletzt und sie durch unethische Praktiken der Bewusstseinskontrolle schädigt (...) unter anderem dadurch, dass sie ihre Mitglieder mit Druck überredet oder anderen schädlichen Einflüssen unterwirft, um sie in der Gruppe zu halten." (HASSAN 1993, S. 68)
Der amerikanische Psychologe und Beratungsspezialist in Sektenfragen Steven Hassan schlägt vor, Gruppen nicht theologisch, sondern psychologisch in drei Kernbereichen zu beurteilen: Führung, Doktrin und Mitgliedschaft. Er schreibt:
"Mein Bezugssystem im Umgang mit Sekten sind die Prozesse der Einflussnahme durch Bewusstseinskontrolle, Hypnose und Gruppenpsychologie. Ich schaue mir an, was eine Gruppe tut, und nicht, woran sie glaubt. Ich versuche zu analysieren, wie die Kommunikation zwischen Sekte und Mitgliedern abläuft (bzw. misslingt), während andere Analytiker und Kritiker einem Sektenanhänger oft mit dem Anspruch begegnen, dass ihre Interpretation der Bibel oder ihre politische Ansicht die richtige sei." (ebd., S. 174)
In seinem 1988 erschienen Buch entwickelte Hassan ein psychologisches Modell der Bewusstseinskontrolle (mind control), das wesentlich auf der sozialpsychologischen Theorie der Dissonanzreduktion von Leon Festinger aufbaut und vier Kontrollebenen unterscheidet: die Ebenen des Verhaltens, der Gedanken, der Gefühle und der Informationen (ebd., S. 92-125). Mit seinem Modell hat er einen wichtigen Beitrag für ein vertiefteres Verständnis solcher Gruppenprozesse geleistet, die nun zunehmend als "Vereinnahmung" erkannt werden. Für den Zürcher Kontext erwähnenswert ist, dass auch das Aufklärungsbuch, das 1992 mit Unterstützung der Erziehungsdirektion des Kantons Zürich herausgegeben wurde, diese Entwicklung mitreflektiert hat: "Das Paradies kann warten. Gruppierungen mit totalitärer Tendenz." (VONTOBEL u.a. 1992)

Auf politischer Ebene

... ist diese Kritik der "Sekten" nicht unbemerkt geblieben und hat zu entsprechenden Initiativen geführt. So fasste das Europaparlament in Strassburg am 22.5.1984 eine Resolution mit dem Ziel, auf die Sorgen der Öffentlichkeit über Sektenaktivitäten zu reagieren und den Willen zur Gewährleistung von Religions- und Meinungsfreiheit und zum Schutze der Arbeits- und Sozialgesetze der EG zu bekunden ("Cottrell-Report"). Die Resolution plädiert dafür, nicht die Glaubensinhalte, sondern Ausübungsformen religiösen Glaubens der verschiedenen Gemeinschaften aufmerksam zu analysieren, das internationale Ausmass des Untersuchungsgegenstandes zu beachten und diesbezüglich ein internationales Informationssystem aufzuziehen. Zudem empfiehlt es Kriterien, die bei der Untersuchung, Darstellung und Einschätzung der Aktivitäten von Sekten angewandt werden sollen.
Die Resolution bewirkte dann einen ersten "Bericht über Sekten und Neue religiöse Bewegungen" des britischen Torry-Abgeordneten Sir John Hunt an das Europaparlament (29.11.1991), in dem er herauszuarbeiten versuchte, ob eine besondere Gesetzgebung gebraucht würde, um die Aktivitäten von Sekten zu regulieren oder sie, wie einige Leute sicher vorziehen würden, zu verbieten. Nachdem Hunt detailliert den rechtlichen Status von Sekten und die Sanktionierungsbesonderheiten in den Mitgliedstaaten des Europarates dargestellt hat, kommt er bei der Beurteilung von verschiedenen Fallurteilen zu "Sekten" ...
"... zu dem springenden Punkt des ganzen Sektenproblems, nämlich zur Tatsache, dass sie an dem Punkt lügen, wo das Gleichgewicht zwischen Freiheit (entweder individuelle oder kollektive) und öffentlicher Ordnung gestört ist." (HUNT 1992, S. 24)
In diesen untersuchten Fallurteilen ging es gar nie um die Religionsfreiheit der Sekten oder ihrer Mitglieder, sondern um Praktiken, die gegen die Menschenrechte verstossen, Rechte, die gemäss Absatz 2 des Artikels 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention auch Einschränkungen für die Religionsfreiheit vorsehen, wenn diese in einer demokratischen Gesellschaft im Interesse der öffentlichen Sicherheit als notwendig erachtet werden und gesetzlich fixiert sind. Auf den Punkt gebracht meint damit die Sektenproblematik das Problem der "heavenly deception" (18), der religiösen Verschleierung eingesetzter Machttechniken, wobei Macht ganz im Sinne von Max Weber als jede Chance verstanden werden kann, in einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstand durchzusetzen. Die Kritik an "Sekten" richtet sich aus dieser Perspektive nicht generell gegen die "Religionsfreiheit" eines Kollektivs, wie das oft und z.T. auch gerne verkannt wird, sondern gegen Praktiken eines Kollektivs, die die Glaubens- und Gewissensfreiheit des Individuums verletzen und damit auch nicht mehr "innerhalb der Schranke der Sittlichkeit und der öffentlichen Ordnung" (Eidg.BV Art. 50,1) sind.
Für die offizielle Wahrnehmung der "Sekten" in der Schweiz erwähnenswert ist eine Erklärung des Eidgenössischen Departements für Auswärtige Angelegenheiten EDA vom 18. Juni 1987:
"Eine im letzten Jahrzehnt in unserer Gesellschaft festzustellende bemerkenswerte Erscheinung ist die fast explosionsartige Entwicklung und Ausbreitung neuer religiöser Bewegungen. (...) Natur und Tätigkeit dieser neuen Kulte oder Sekten sind sehr beunruhigend, denn dahinter verbergen sich nicht nur religiöse Schwärmerei oder gar Fanatismus, sondern oft auch betrügerische finanzielle Machenschaften grossen Stils. (...) Die Eltern beklagen vor allem den Verlust des Kontaktes mit dem Sohn oder der Tochter während vieler Jahre, oft auch für immer. (...) Mit raffinierten Methoden wird der Neuling nach und nach in eine umfassende Abhängigkeit von der Gemeinschaft und deren Heilslehre getrieben. Zum geforderten bedingungslosen Gehorsam gesellt sich in der Regel auch die fast völlige existentielle Abhängigkeit von der religiösen Bewegung. (...)"
Am 14. Dezember 1988 stellte Nationalrat Gilles Petitpierre zudem eine kleine Anfrage an den Bundesrat zu den Bestimmungen und Mitteln des Persönlichkeitsschutzes im Zusammenhang mit der Zugehörigkeit zu religiösen Sekten. Petitpierre beschäftigte sich bereits in der Juristischen Kommission des Europarates mit Sekten. Ansonsten muss die Thematisierung der "Sekten" in der Schweizer Politik als eher zaghaft bewertet werden und hat erst in den letzten Jahren durch die nicht weiterhin übersehbaren Versuche der politischen Einflussnahme durch Scientology und den Verein zur Förderung der Psychologischen Menschenkenntnis, VPM, an Bedeutung gewonnen. Noch am 10.März 1993 lehnte zum Beispiel der Zürcher Stadtrat eine Petition der zürcherischen "Aufklärungsgruppe über Scientology und Dianetik" ab, die gegen Scientology "ein Verbot von Werbung und Verkauf auf öffentlichem Grund, die Beschränkung der Verkaufsaktivitäten auf die gesetzlichen Ladenöffnungszeiten, Aufklärung an Schulen und Vorschläge zur Errichtung einer unabhängigen Kommission zwecks Überprüfung der wirtschaftlichen Aktivitäten, der Tarnorganisationen und der eventuellen Verstösse gegen das Heilmittelgesetz" forderte. Der Stadtrat verwies darauf, "dass die zur Rede stehende Gemeinschaft gemäss herrschender Lehre und Rechtsprechung vorderhand als religiöse Vereinigung eingestuft wird", ihr Verteilen von Informations- und Werbematerial deshalb nicht bewilligungspflichtig und auch der Tatbestand der Belästigung durch Ansprechen von Passantinnen /Passanten noch nicht erfüllt ist. Eine überraschende Wende in dieser Politik signalisierte der Stadtrat erst am 15. Juni 1994. Der Tages Anzeiger titelte am Tag darauf: "Sanktionen des Polizeivorstandes gegen Scientology-Sekte. Die Scientologen dürfen nicht mehr auf öffentlichem Grund werben." (19)

Die Voraussetzungen kollektiven Handelns

Während vielen Jahren wurde vorwiegend die verwunderte Frage gestellt, was denn (junge) Menschen zum Beitritt in eine "Sekte" bewege, was denn für sie so attraktiv an einer "Sekte" sei. Die Antworten, die zum Teil darauf gegeben wurden, deckten - mehr oder weniger realistisch - beinahe den ganzen Bereich der analytischen Phantasie ab - von Labilität und Orientierungslosigkeit über jugendlichen Protest und Ablösungsprobleme vom Elternhaus bis hin zu Idealismus, Selbstfindung und asketischer Wahrheitssuche. Soziale Differenzierungsprozesse der Nachkriegszeit haben natürlich die Unübersichtlichkeit der gesellschaftlichen Sphären und Sub-Systeme enorm erhöht, haben die Sozialstrukturen stark deinstitutionalisiert und verdünnt und damit dem Individuum Freiheiten eröffnet und auch aufgebürdet, die nicht nur als Glück, sondern in Form (zeitweiser) Überforderung sehr wohl auch als "Unbehagen in der Modernität" empfunden werden. Soziale Beziehungen als wichtige Möglichkeiten der interaktiven Identitätsbildung sind für viele Menschen zu einer prekären, knappen Ressource geworden. Schnelle gesellschaftliche Veränderungen vor dem Hintergrund stark pluralisierter und individualiserter Lebenswelten lassen zudem Menschen heute oft nur noch eine brüchige, nervöse Identität aufbauen, geben ihnen oft nur noch ungenügend Zeit und Ruhe, die Welt über ihren Nabel hinaus wahrzunehmen. Zu stark sind sie mit der eigenen Identitätsbildung beschäftigt und mit der Frage: Was will ich eigentlich? Heilsangebote kommen da wie gerufen.
Dennoch: Lange Zeit wurde die umgekehrte, ebenso wundernswerte Frage kaum gestellt, nämlich wie es denn eine "Sekte" schafft, ihre Mitglieder zu derart geschlossenem kollektivem Handeln anzuleiten. Das aber ist das entscheidende Grundproblem jeder Organisation, um Mitglieder für ihre Ziel-Mittel-Relation zu mobilisieren, wie ich bereits in Abschnitt 5 (Ein Organisationsmodell als Selbstschutz f.) hingewiesen habe. Mancur Olson (1992) hat gerade mit Kritik an Karl Marx eingehend darauf aufmerksam gemacht. Marx war der Meinung, sobald die Proletarier nicht mehr ausgebeutet würden und sie sich vom "falschen Bewusstsein" befreit hätten, würden sie ihre ureigensten Interessen verfolgen und aus freiem Willen im Sinn einer sozialen Kooperation eine proletarische Diktatur errichten.
Dahinter steht folgende, gemäss Olson falsche Grundlogik: Wenn jedes Individuum einer Gruppe über ein genügendes Mass an Eigeninteressen verfügt - Eigeninteressen als lebenswichtige Eigenschaften für einen freiheitsfähigen Menschen verstanden - und sie alle in bestimmten gemeinsamen Interessen übereinstimmen, dann handelt die Gruppe auch in einer eigen- oder gruppeninteressierten Weise. Gruppen sind in dieser Logik dann tatsächlich "voluntaristische Verbände". Eigeninteressiert heisst jedoch, dass das Individuum für sich immer auch einen bestimmten Gewinn von einer Handlung erwartet. Wenn aber die Wirkung jener Handlungen, die im gemeinsamen Interessen sind, allen Gruppenmitgliedern zugute kommt, also auch denen, die nichts dazu beigetragen haben, dann schwindet der Anreiz für das einzelne Mitglied, etwas für die Gruppe zu tun. Es neigt zum Trittbrettfahrertum. Warum soll es denn einen Beitrag leisten, wenn auch ohne diesen seine Interessen erfüllt werden? Nur - und das ist das Paradox, auf das Olson aufmerksam macht - dann handelt die Gruppe auch nicht mehr in ihrem Gruppeninteresse und verliert an Kraft oder erhält eine Eigendynamik. Die Logik kollektiver Handlungen bedarf also eines Sets an selektiven Handlungsanreizen für die Mitglieder, wenn die Gruppe ihre kollektiven Interessen gewahrt haben will. Das können sowohl negative (Verlust, Bestrafung, Ausschliessung etc.) wie positive Handlungsanreize sein (Belohnung, Prestige etc.). Organisation heisst somit, über ein solches für die Zielsetzung optimales Set an Handlungsanreizen für die Mitglieder zu entscheiden und ist insofern - wie bereits ausgeführt - Unternehmens-Kultur. Damit liegt den Entscheidungen einer Organisation aber immer auch eine moralische Dimension zugrunde, nämlich: Wie weit rechtfertigt das angestrebte Ziel die eingesetzten Mittel? Wie legitim wird die Organisation von den Mitgliedern gehalten bzw. wieviele Sanktionsmittel muss sie einsetzen, damit die Mitglieder loyal bleiben. Das ist exakt die Achillessehne, auf die diese neue Diskussion der "Destruktiven Kulte" zielt: Mit welchen Anreizmitteln löst eine Gruppe das Grundproblem des kollektiven Handelns und zu welchen Kosten für wen? Matthias Mettner bringt es schonungslos auf den Punkt:
"Autoritär strukturierte Gruppierungen mit vereinnahmender, totalitärer Tendenz operieren geschickt und perfid mit den vielschichtigen Ängsten verunsicherter und ichschwacher Menschen. Ihre neue gefährliche Qualität besteht in dem systematischen Einsatz von psychologischen Techniken und Praktiken, die letztlich alle darauf zielen, den Willen des Individuums zu schwächen oder zu brechen, Gewalt über sein Denken, Fühlen und Handeln zu erlangen." (METTNER 1993, S. 218)
Mettner verweist diesbezüglich auf die besondere Bedeutung der informalen Organisation für die Auseinandersetzung mit "Sekten", indem er in seiner Beschäftigung mit der Katholischen Kirche und insbesondere mit der innerkatholischen "Sekte" Opus Dei von "mafiosen" Verhaltensmustern spricht. Er meint dabei nicht einfach die sizilianische Organisation, sondern fasst den Begriff "Mafia" allgemein in einer Weise, die den Begriff auch für andere Organisationen zulässt. Er schreibt:
"Die Benutzung des Wortes "Mafia" (...) misst der informalen Organisation, die auf Mentalitäten und tradierten Herrschaftstechniken basiert, mehr Bedeutung zu als die formale - kriminologisch erfassbare - Organisation, die nur die sichtbare Spitze des Eisberges ist. Mafia im sozialwissenschaftlichen Verständnis von Henner Hess ist (...) eine Verschärfung in der Analyse der Ursachen, Mechanismen und Methodik von Mafia. Mafia meint vor allem auch ein bestimmtes Verhaltensmuster." (ebd, S. 22 f; auch S. 218-277)
Mettner sieht mafioses Handeln charakterisiert durch "Diskretion" (Geheimnisse, Schweigepflicht), Familienideologie, Lobbyarbeit und "Kolonisierung" wichtiger gesellschaftlicher Schlüsselfunktionen durch Mitglieder, Anhäger und Sympathisanten der "Familie", sowie durch Denk- und Verhaltensmuster, die aufgrund fehlender oder mangelhafter Strukturen staatlicher und gesellschaftlicher Institutionen entstanden sind oder begünstigt werden und für den einzelnen eine grosse Rechtsunsicherheit bedeuten. Mafioses Verhalten erweist sich damit als eine Lösungsvariante für ein zentrales Problem, auf das auch Peter L.Berger hingewiesen hat: das Problem der Werbung und Motivierung, der Mobilisation der Mitglieder für die Ziel-Mittel-Relation der Gruppe. Vor einem solchen Hintergrund verliert die "familiäre Gemeinschaft" den Unschuldscharakter eines Raums, der von den Mitgliedern mitgestaltet wird oder werden kann, eines Forums der sozialen Auseinandersetzung. Sie erweist sich als stark emotionalisiertes Milieu, in dem eine kleine Elite oft bis in die kleinsten Alltäglichkeiten bestimmt, was von den Gläubigen gefordert werden soll, und das sich als optimal zur Rekrutierung neuer Mitglieder und der Motivierung zu kollektivem Handeln erweist. Sie wird damit zum Instrument übergeordneter Ziele, die im Vergleich zu dem, was die gutgläubigen Gemeinschaftsmitglieder wahrzunehmen vermögen, ganz anders gelagert sein können.

7. Kompensation als soziologischer Erklärungsversuch

Die beiden kalifornischen Religionssoziologen Rodney Stark und William Sims Bainbridge erklären "Sekten" aus dem Kompensationsverhalten der Menschen. Grundlegend für ihren Ansatz ist ihr Religionsbegriff. Religionen definieren sie als menschliche Organisationen, deren Funktion in erster Linie darin besteht, allgemeine Kompensatoren bereitzustellen, die auf übernatürlichen Annahmen beruhen, wobei gilt:

"A compensator is the belief that a reward will be obtained in the distant future or in some other context which cannot be immediately verified." (STARK / BAINBRIDGE1985, S. 6, 8)
Dahinter steht das austauschtheoretische Verhaltensaxiom von George C. Homans, Menschen würden Bedarfsgüter, Belohnungen, Vergeltungen, Privilegien (rewards) anstreben und gleichzeitig versuchen, deren Kosten zu vermeiden. Doch solche Güter sind in einer Gesellschaft knapp und ungleich verteilt, und einige der tiefsten Vergeltungswünsche sind zudem überhaupt nicht erfüllbar (z.B. Unsterblichkeit oder das Nach-dem-Tod-Wissen). Der Glaube, dass einem eine Vergeltung in fernerer Zukunft zuteil wird, oder - in einem anderen Kontext - , dass eine Vergeltung nur nicht sofort erkennbar ist, erhält damit eine besonders attraktive kompensatorische Funktion. Kompensatoren lassen sich ihrer Ansicht nach auf einem Kontinuum von spezifisch bis allgemein unterscheiden und beschränken sich keineswegs auf die religiöse Dimension, sondern treten in allen menschlichen Institutionen auf. Stark und Bainbridge orten das Religiöse in drei Dimensionen, die je einen bestimmten Zusammenhang von Religiosität und der Fähigkeit reflektieren, benötigte und gewünschte Güter zu erwerben oder Bedürfnisse zu befriedigen ("power of an individual or a group"; ebd., S. 12):
Die "worldly dimension" reflektiert die Religion in ihrer Verteilungsfunktion von Privilegien. Sie geht von der Annahme aus, dass privilegiertere Menschen dazu tendieren, knappe Vergeltungen, welche die Religion bereitstellt, ebenso zu monopolisieren, wie sie andere Güter monopolisieren. Der Zugang zu Privilegien hängt dabei positiv zusammen mit der Kontrolle über religiöse Organisationen und den Vergeltungen, die religiöse Organisationen bereitstellen. Privilegierte haben damit ein geringeres Bedürfnis nach Kompensatoren, welche die Religion für knappe Vergeltungen bereithält. Diese "Welt-Dimension" sei in "Kirchen" dominant und zeige, dass Religion nicht nur eine Antwort auf Deprivation ist.
Die "other-worldly dimension", die vor allem in "Sekten" dominant sei, reflektiert Religion als Trostspender für Defizite an knappen Belohnungen, als Kompensator für Deprivierte. Sie geht von der Annahme aus, dass die von der Religion bereitgestellten Vergeltungen weniger privilegierten Menschen nicht ausreichen können und sie sich deshalb mit den Kompensatoren zufrieden geben müssen, die die Religion für die mangelnden Vergeltungen bereithält. Oder anders formuliert: Wenn die gewünschten Vergeltungen existieren, dann hängt die Fähigkeit, diese zu erreichen, negativ zusammen mit der Akzeptanz religiöser Kompensatoren.
Und die "universal dimension" reflektiert die Tatsache, dass hinsichtlich der tiefsten menschlichen Wünsche alle Menschen potentiell depriviert sind. Das heisst, sie geht von der Annahme aus, dass Individuen und Gruppen ungeachtet der Zugangsmöglichkeiten zu knappen Gütern und Privilegien dazu tendieren, religiöse Kompensatoren zu akzeptieren, wenn die ersehnten Vergeltungen gar nicht existieren.
Mit den drei Dimensionen kann somit ein "innerer Widerspruch" in allen (religiösen) Organisationen vermutet werden, nämlich zwischen (organisationsinternen) Gruppen mit Interessenskonflikten: Die einen wollen stärker die Andere-Welt-Dimension betont haben, die anderen die Welt-Dimension. Dabei sind diese beiden Dimensionen nur schlecht kompatibel. Umgekehrt versuchen wiederum andere, die die universelle Dimension betonen, sich aus dem Konflikt herauszuhalten oder zu schlichten und träumen von der universalen Kirche. Kompensationsbedürfnisse und -möglichkeiten bestimmen damit das Verhältnis einer Gruppe zu ihrer Umwelt und lassen "Kirche" und "Sekte" an diesem Spannungsverhältnis messen.

Messbarkeit von "Kirche" und "Sekte"

Bereits in der Diskussion der Sektentypisierung von Max Weber habe ich auf die Kritik von Stark und Bainbridge hingewiesen, die beklagten, dass durch die Dominanz des von Weber ausgehenden Sektendiskurses "echte" Erklärungsansätze kaum beachtet wurden. Sie verweisen dabei auf das klassische Werk von H.Richard Niebuhr (1929), The Social Sources of Denominationalism. Niebuhr hielt die "Sekte" für einen unstabilen Typ religiöser Organisation, der über die Generationen dazu tendiert, zu einer "Kirche" zu werden, damit aber viele Bedürfnisse nicht mehr befriedigt, die vorher die "Sekte" befriedigt hat und so Anlass zu Absplitterungen, zu neuen Sektenbildungen gibt. Niebuhr identifiziert damit die "Sekte" als eine schismatische Bewegung. Als weiterer wichtiger Ansatz für Stark und Bainbridge sticht auch jener von Benton Johnson aus der theoretischen Hegemonie der Weberianer hervor. Johnson reduziert deren Sektentypologien auf ein einziges Attribut:
"A church is a religious group that accepts the social environment in which it exists. A sect is a religious group that rejects the social environment in which it exists. (...) A sect tends to be in a state of tension with its surroundings." (zitiert nach STARK / BAINBRIDGE 1985, S. 23, 48)
Die "Sekte" steht damit am einen Pol eines Spannungskontinuums zwischen einer Gruppe und der Gesellschaft, an dessen anderem Pol die "Kirche" steht. "Sekte" und "Kirche" werden damit zu variablen und messbaren Grössen. Stark und Bainbridge präzisieren die These von Johnson dahingehend, dass ja nicht nur "Sekten" die Gesellschaft ablehnen, sondern auch umgekehrt die Gesellschaft "Sekten" zurückweist (ebd., S. 50-66). Für die Messung dieses gegenseitigen Spannungszustandes greifen sie zurück auf das soziologische Konzept der subkulturellen Devianz mit den drei Elementen "Differenz", "Antagonismus" und "Separation", das heisst: Die "Sekte" und die umgebende Gesellschaft unterscheiden sich in bestimmten Glaubensinhalten, Normen und Verhaltensweisen (Differenz). Sie urteilen übereinander hart, jeder die eigene Überlegenheit über den anderen hervorhebend (Antagonismus). Und "Sekten" ziehen sich in relativ geschlossene, kohäsive Gruppen zusammen und kapseln sich im Falle extremer Spannung sozial ab (Separation). Angaben zur sozialen Distanz gegenüber bestimmten Religionsgemeinschaften verweisen zudem auf den Grad der Zurückweisung, den eine "Sekte" von der Gesellschaft erfährt. Studien hätten gezeigt, dass Gruppen mit dem Etikett "geringe Spannung" in Wahrheit am besten in der Schichtungsstrukur der Gesellschaft plaziert sind. Der geringe Spannungszustand verweist damit auf die relative Nähe zum Zentrum sozietaler Macht. In einer theokratischen Gesellschaft würde deshalb "low tension" hohes religiöses Engagement indizieren, während in einer säkularen Gesellschaft "low tension" eine relative geringe Neigung für religiöses Engagement bedeutet.

"Sekten", "Kulte" und die Referenzbasis "Gesellschaft"

Der "state of tension" wird natürlich stark mitbeeinflusst vom aktuellen Wertesystem der Gesellschaft, an dem man die Differenz der "Sekte" misst. Dieses Wertesystem ist selber einem steten Wandel unterzogen, und es ist nicht anzunehmen, dass die "Gesellschaft" um jeden Preis den Spannungszustand zu einer "Sekte" aufrechterhalten will. Sekteneinfluss kann durchaus auch das Wertesystem einer Gesellschaft verändern bis hin zu einer annähernden Kongruenz, wie das zum Beispiel Länder veranschaulichen, in denen der religiöse Fundamentalismus dominant geworden ist. Es ist zu vermuten, dass Stark und Bainbridge bezüglich dieser Frage wiederum auf die eigentliche Basis der Sektenbildung verweisen würden, auf die Deprivation. Insofern wären dann die eigentlichen "Sekten" die verschiedenen Résistance-Gruppen und Oppositionen in den fundamentalistischen Ländern. Bis zu einem gewissen Grade nehmen Stark und Bainbridge diese Problematik der gesellschaftlichen Referenz natürlich schon auf. Den Begriff "Sekte" führen sie als Oberbegriff vor allem in ihrem Konzept des "state of tension". Im Hinblick auf die dominante religiöse Kultur in einer Gesellschaft typisieren sie dann aber von ihrem Kompensationsmodell abweichend zwischen einer "Sekte" im engeren Sinne und einem "Kult":
"We define sects as high tension, schismatic religious movements within a conventional religious tradition (...). That is, sects are groups that break off from other religious bodies and remain within the society in which the sect arises. Groups within deviant religious traditions, whether they occur by innovation or by schism, are identified as cults. In consequence, with two exceptions, we have counted only groups within the Christian tradition as sects in the United States. Thus, although a particular group, such as a snake-handling Pentecostal group, might be extremely deviant - that is, in a very high state of tension with its surrounding environment - it is not a cult because it remains within a nondeviant religious tradition: Christianity. Conversely, a Spiritualist group might experience comparatively lower tension with its environment, but it is still a cult because it constitutes a deviant tradition.
In addition to Christian groups, we coded groups in two other traditions as sects. Considerable research indicates that the American public regards Judaism as a legitimate and respectable faith. We therefore coded schismatic Jewish groups as sects rather than as cults. We also coded Utah-born Mormon schismatic groups as sects on the grounds that they arose in a cultural setting where Mormonism is the dominant and most legitimate religious tradition. That is, schismatic Mormon groups in Utah are no more deviant than are schismatic Baptist groups in Texas." (ebd., S. 128)

Magie und drei Kultformen

Bei der Beschreibung unterschiedlicher Kultformen kehren Stark und Bainbridge allerdings zu ihrem ursprünglichen Konzept zurück. "Kulte" können ihrer Meinung nach unterschieden werden nach der Qualität und der Allgemeinheit der Kompensatoren, die sie anbieten (ebd. S. 30). Entscheidend ist dabei die Unterscheidung zwischen spezifischen und allgemeinen Kompensatoren, und damit zwischen Magie und Religion, wie sie schon Emile Durkheim definiert hat: Magie beschäftige sich nicht mit Sinn und Bedeutung des Universums wie die Religion, sondern nur mit der Manipulation des Universums für spezifische Ziele. Magie sei deshalb auch viel elementarer, weil sie den technischen Nutzen suche und sich nicht in reiner Spekulation verliere. Magie, die sich aber mit spezifischen Kompensatoren beschäftigt, ist ausserordentlich verwundbar durch Überprüfung und unterscheidet sich von Wissenschaft auf der Basis der Ergebnisse empirischer Tests. Dies führt Stark und Bainbridge zu folgenden Thesen (ebd., S. 31 f, 34 f):
Magie floriert, wenn es Menschen an effizienten und ökonomischen Mitteln zu solchen Tests fehlt. Wissenschaft ist ein effizienter Evaluationsprozess von spezifischen Erklärungen, die die Magie anbietet. (Ergänzend kann natürlich auch gesagt werden, dass Magie dort floriert, wo die Effizienz der Wissenschaft, z.B. der Schulmedizin, in Frage gestellt wird).
Magie vermag nicht Organisationen aufrechtzuerhalten. Spezifische Kompensatoren können nur Kurzzeit-Mitgliedschaften bewirken. Diese These geht auf Emile Durkheim zurück.
Magische Kulte, also Klientenkulte können sich zu eigentlichen Religionen, also Kultbewegungen entwickeln. Scientology zum Beispiel begann als begrenzte psychotherapeutische Dienstleistung. Im Lauf der Zeit bot sie aber immer allgemeinere Kompensatoren an und wurde zur hochentwickelten Kultbewegung.
Kulte provozieren relativ geringe Widerstände im soziokulturellen Umfeld, solange sie sich nicht zu einer religiösen Bewegung formiert haben. Es sind vor allem Kultbewegungen, die heute gesellschaftliche Opposition, zum Beispiel als Elterninitiativen, erfahren.
Aufgrund dieser Thesen unterscheiden Stark und Bainbridge neben der "Sekte" drei Kultformen: Publikumskulte, Klientenkulte und Kultbewegungen. Publikumskulte (audience cults) verkörpern den diffusesten Kulttypus, der über praktisch keine formale Organisation verfügt und konsumistisch ausgerichtet ist. Das Publikum dieser Kultform ist interessiert an allen "neuen" Ideen, vor allem an exzentrischen und mystischen: einfache Mythologien, UFOs, Astrologie, Spritismus, Esoterik etc. Personen mit solchen Kultideologien bieten diese in einer unsystematischen Weise über verschiedene Medien, Bücher, Magazine, Souvenire unter anderem einem breiten Publikum an, jedoch ohne erkennbare Anstrengung, dieses Publikum auch organisieren zu wollen. Als Kompensatoren bieten sie denn auch nur bescheidene, anspruchslose Glaubensinhalte zu vergleichsweise bescheidenen Kosten an. Es sind relativ schwache Formen der Magie (Erich von Däniken, Uri Geller etc.).
Klientenkulte (client cults) sind im wesentlichen TherapeutInnen-PatientInnen- oder BeraterInnen-KlientInnen-Verhältnisse. Sie verfügen durchaus über eine formale Organisation und vermögen ihre Klientel auch stärker zu mobilisieren als Publikumskulte. Ihre Angebote decken jedoch nur partielle Bedürfnisse ab und sind nicht allumfassend. Die meisten AnhängerInnen bleiben KlientInnen und sind nicht Mitglieder. Sie können daneben meistens gleichzeitig in weiteren Kultgruppierungen oder gar in einer Kirche mitmachen. Zahlreiche sogenannte "alternativmedizinische" Heilmethoden werden von eigentlichen Klientenkulten propagiert. Die Kompensatoren, die Klientenkulte anbieten, sind relativ zentrale, aber spezifische, d.h. nicht umfassende Glaubensvorstellungen. Dazu können durchaus auch Kompensatoren gehören, die von Publikumskulten noch in informeller Weise verbreitet werden, z.B. Astrologie, Vorstellungen von einem feinstofflichen Astralkörper, Reinkarnationsvorstellungen etc. Die eingesetzten Formen von Magie sind dabei meist bedeutend schwerwiegender als in Publikumskulten, zum Beispiel die zahlreichen Techniken zur Veränderung des Bewusstseinzustandes, angefangen von Reizentzug oder -überflutung zu Suggestion und Hypnose bis hin zum Einsatz von Halluzinogenen.
Kultbewegungen (cult movements) sind vollentwickelte, umfassende religiöse Organisationen, die sämtliche religiösen Bedürfnisse der Konvertierten zu befriedigen suchen. Sie können allerdings in ihrem Organisationsgrad variieren zwischen schwach organisierten Studiengruppen, Organisationen, die traditionellen christlichen Sekten ähnlich sind und Organisationen, die einen totalen Lebensweg verlangen. Das Leben der Mitglieder einer solchen totalen Organisation wird gänzlich durch die Bedürfnisse des Kultes festgelegt. Kultbewegungen können durchaus auch Magie anbieten. Jedoch sind sie die einzigen, die auch Religion, d.h. allgemeine Kompensatoren vorsehen.

Zur Allgemeinheit der Kompensatoren

Religion als Bereitstellerin von allgemeinen Kompensatoren löst jedoch noch lange nicht alle Definitionsprobleme. Stark und Bainbridge unterscheiden mit dem Allgemeinheitsgrad nur sehr undifferenziert zwischen Magie und Religion. Vergleicht man dies zum Beispiel mit den faktoranalytisch herausgearbeiteten Dimensionen religiöser Orientierung in der Nationalfonds-Studie zur Religion in der Schweiz, erscheint dort Magie als "neureligiöse Praktiken" wie Wahrsagen, Hellsehen, Horoskope, Astrologie, heilende Steine, Pendeln, Yoga, Atem- und Körpertherapien etc. (KRÜGGELER 1993, S. 128) Die dahinterstehenden Kompensatoren, also der "synkretistisch-neureligiöse Glaube" wie zum Beispiel "Es gibt übersinnliche Kräfte im Universum, die das Leben der Menschen beeinflussen", sind dabei keineswegs weniger allgemein als zum Beispiel das, was Stark und Bainbridge religiös nennen: "God's love is behind everything that happens." (STARK / BAINBRIDGE 1985, S. 80) Neureligiöse Praktiken kann man wissenschaftlich ad absurdum führen, doch damit sind die dahinter stehenden Glaubensvorstellungen noch keineswegs widerlegt, das heisst, diese haben durchaus den Allgemeinheitsgrad, den Stark und Bainbridge für "religiöse" Kompensatoren fordern. Umgekehrt lassen sich auch herkömmliche religiöse Rituale mit neureligiösen oder magische Praktiken vergleichen, man braucht dabei keineswegs auf den heute wieder renaissancegefährdeten Exorzismus zu verweisen. Das tägliche Gebet erfüllt für viele Gläubige oft eine sehr spezifische, nützlichkeitsorientierte Funktion. Und fragen kann man sich zum Beispiel auch, ob die "religiösen" Vorstellungen der 51% "Religiösen Humanisten" in der Schweiz nicht doch zu spezifische Glaubensvorstellungen haben, als dass sie noch als "religiös" gelten können im Sinne von Stark und Bainbridge. Zum Beispiel: "Gott - das ist für mich nichts anderes als das Wertvolle im Menschen", oder "Solidarität und Gleichberechtigung unter allen Menschen sind entscheidend für unsere Zukunft", oder " Wissenschaft und Technik führen die Menschheit in eine bessere Zukunft" (KRÜGGELER 1993, S. 127).

Religiöse oder soziale Kompensation?

Interessant am "Sekten"-Modell von Stark und Bainbridge ist meiner Ansicht nach vor allem das Deprivationskonzept, ihr Verweis auf den Konflikt zwischen Gruppen mit unterschiedlichen Kompensationsbedürfnissen und -möglichkeiten. Grundsätzlich erscheint mir jedoch die Gegenüberstellung "Kirche - Sekte" überdenkenswert und damit die Sektenthematik als ein überwiegend religiöses Problem. Der Eindruck bleibt, dass auch Stark und Bainbridge die Webersche Kirchen-Sekten-Dichotomie noch nicht vollständig überwunden haben. So analysieren sie den Integrationsgrad in Kirchen als zentralen Indikator für Sekten- und Kultanfälligkeit, weil dies einen Mangel an organisierter Glaubensunterstützung und einen Mangel an organisiertem sozialem Glaubensausdruck bedeute (STARK / BAINBRIDGE 1985, S. 70). Empirisch konnten sie zwar den viel zitierten "Bible Belt" im Süden der USA nicht ausmachen, dafür einen erstaunlichen "Unchurched Belt" an der Pazifikküste, nicht mangels Religiosität, wie sie meinen, sondern als Folge einer überdurchschnittlichen Mobilität der Bevölkerung. Dennoch kann ich ihrer These der Sekten- und Kultanfälligkeit mangels kirchlicher Bindungen nur bedingt folgen. Die Gegenüberstellung ihrer Ergebnisse ergeben folgendes Bild: 

Abbildung 2: Kirchen-, Sekten- und Kultmitgliedschaftsraten in den USA. Eine Auswahl.


Kirchenmit-gliedschaft

Rang

Sektenrate

Rang

Kultrate

Rang

Utah

836

1

4.17

2

1.7

17

Louisiana

814

2

0.26

42

0.3

41

New Mexiko

640

12

0

44 u.a.

9.1

2

Tennessee

581

24

5.48

1

1.0

27

Nevada

394

45

0

44 u.a.

10.0

1

Kalifornien

364

48

1.37

29

7.9

3

 

Quelle: Ergebnisse von STARK / BAINBRIDGE 1985, 74, 145, 192. Kirchenmitgliedschaftsrate: Kirchenmitglieder /1000 Einwohner u. Staat; Sekten- und Kultrate: Anzahl Sekten oder Kulte / 1 Mio. Einwohner u. Staat

Dass der Mormonenstaat Utah - hohe Kirchenmitgliedschaftsrate, hohe Sektenrate, relativ hohe Kultrate - ein Sonderfall ist, war eigentlich zu erwarten, bleibt aber dennoch erklärungsbedürftig. Zu beachten ist, dass in Utah die Mormonen-Splittergruppen als "Sekten" gezählt wurden und nicht als "Kulte". Voll und ganz mag die These für Lousiana (hohe Kirchenmitgliedschaftsrate, tiefe Sekten- und Kultrate) und zum Teil für New Mexiko zutreffen. Zu New Mexiko ist zu sagen, dass dort gemäss der These die Kirchen die christlich-religiösen Bedürfnisse offenbar soweit zu decken vermögen, dass schismatische Entwicklungen ausgeblieben sind. Die hohe Kultrate ist dagegen erstaunlich und verweist gemäss der These auf ungestillte Kompensationsbedürfnisse in kirchlich ungebundenen Kreisen (vgl. auch STARK / BAINBRIDGE 1985, S. 498). Ähnliches lässt sich wohl auch zu Nevada sagen, obwohl dort zusätzlich die geringe Kirchenmitgliedschaftsrate auffällt und dies offenbar auch kein Grund für schismatische Erweckungsbewegungen ist, was gemäss der These eigentlich überraschen müsste. Nur sehr begrenzt geht die Theorie für mich in Tennesse und Kalifornien auf. Trotz der im Vergleich zu Kalifornien noch relativ hohen Kirchenmitgliedschaft in Tennessee schützt diese offensichtlich nicht vor schismatischen Erscheinungen. Und Kalifornien fällt trotz geringer Kirchenmitgliedschaft nicht aus dem Mittelmass der Sektenrate und ist bezüglich der Kultrate hinter New Mexiko.
Meine Argumentation zielt darauf hin, dass es offensichtlich neben der Kirche noch andere gesellschaftliche Institutionen gibt, die einerseits (quasireligiöse) Kompensatoren anbieten können und andererseits ähnlich wie die Kirchen Deprivationsprobleme kennen. Stark und Bainbridge verweisen zwar kurz auf den Zusammenhang zwischen dem "state of tension" und der Nähe zur sozietalen Macht, dem Status einer Person. Doch führen sie diese Überlegungen nicht weiter aus. Auch den zu vermutenden Einfluss von Mobilität und sozialer Entwurzelung auf Sekten- und Kultanfälligkeit schneiden sie nur kurz an. Sowohl Stark als auch Bainbridge haben die Bedeutung von face-to-face Interaktionen für die Kultszene erkannt, verfolgen leider aber auch diese Spur im Hinblick auf die individualisierte und partikularisierte moderne Gesellschaft viel zu wenig konsequent.
Es kann deshalb wohl kaum erstaunen, dass politologische Untersuchungen in Amerika zum "Bible Belt" im Süden zu anderen Ergebnissen kommen als Stark und Bainbridge. Tod A. Baker (1982) beschreibt dieses Phänomen "Southerness" mit einer relativ hohen Akzeptanz in militärischen Fragen, mit der konservativ-kritischen Opposition gegenüber Frauenrechtsfragen sowie mit einer starken Verbindung von Konservativismus und religiösem Fundamentalismus. Und Ted Jelen (1982) findet im Süden ausgeprägte politische Spuren des religiösen Fundamentalismus in einer grossangelegten Meinungsumfrage zwischen 1972 und 1978, in der er die Toleranz gegenüber Atheisten, Kommunisten und Homosexuellen untersuchte. Religiöser Fundamentalismus korreliert negativ zu Toleranz und hat die grösste Erklärungskraft für den Nord-Süd-Unterschied gegenüber anderen Variablen wie Rasse, Einkommen oder Erziehung.

Zusammenfassung: Zum Wertekonflikt im Fachdiskurs

Die unterschiedlichen Wertannahmen, die im Fachdiskurs zum Phänomen der "Sekte" kontrovers werden, lassen sich wie folgt zusammenfassen: Deutlich zeigt sich bei Max Weber seine ambivalente Verwendung des Begriffs "Sekte", die er vor allem als "voluntaristische Verbände" idealtypisch definiert, ohne aber diesen Voluntarismus empirisch hinreichend zu belegen. Weber scheint bei den "Sekten" vor allem die religiösen Wurzeln für den Geist des Kapitalismus zu suchen. Zwar erkennt er die machtambitiöse Dimension in den "Sekten", für ihn zentral bleiben sie aber als Verbände, in denen Gleichberechtigte sich in Kokurrenz um religiöse oder wirtschaftliche Vorteile gemeinsam zu bewähren suchen.

Dagegen definieren die Kirchen "Sekten" als von ihrer orthodoxen Position deviante Gemeinschaften, betonen also den Machtaspekt, indem sie feststellen, dass "Sekten" sich weltanschaulich ihrer Autorität entziehen. Bei Oswald Eggenberger macht diese Devianz der ausschliessende Wahrheitsanspruch einer solchen Gemeinschaft aus, und im Handbuch der Vereinten Evangelischen Kirchen Deutschlands ist es die Ablehnung ökumenischer Beziehungen, die Aufkündigung kompromissorientierter Verständigung. Die postmoderne Auseinandersetzung mit dem Phänomen der "Sekte" hat zwar die orthodoxe Position der Kirchen aufgegeben, dennoch bleibt auch hier die Machtdimension zentral: Statt einer institutionalisierten Lehrmeinung wird nun die Autonomie oder Freiheit der einzelnen Subjekte, die Subjektivität der Individuen zur massgebenden Referenzbasis. Die Verbände und Gemeinschaften lösen sich in dieser Perspektive weitgehend in einen impressionistischen Haufen autonom Handelnder auf. In der neuesten Nationalfonds-Studie zur Religion in der Schweiz erscheint der Begriff "Sekte" praktisch nicht, und das Phänomen gliedert sich allenfalls unter "religiöse Neuansätze". Eine extrem negative Bedeutung erhält der Begriff "Sekte" beim Religionswissenschaftler Georg Schmid, der ihn neben die Begriffe "Fundamentalismus" und "Esoterik" stellt und all das unter "Sekte" fasst, was er mit seinen beiden anderen Begriffen nicht mehr beschreiben will. Sein negative Verwendung des Sektenbegriffs impliziert damit eine Aufwertung von fundamentalistischen und esoterischen Positionen ohne zu berücksichtigen, dass gerade solche die besonderen Merkmale von "Sekten" ausmachen können.
Anders als die Postmodernen löst sich auch die Referentin für Weltanschauungsfragen in Wien, Friederike Valentin, im "Lexikon der Sekten, Sondergruppen und Weltanschauungen" von der orthodoxen Perspektive und formuliert eine problemorientiert kritische Sicht des Sektenphänomens, in der sie bestimmte Organisationsstrukturen als Ursachen für die konflikthaften Auseinandersetzungen mit "Sekten" beschreibt. Organisierte Machtstrukturen geraten in dieser Perspektive nun in Konflikt mit den Gleichheits- und Selbstentfaltungsansprüchen der einzelnen Menschen. Diese Perspektive teilt Valentin mit einem kritischen Diskurs über "destructive cults", der zuerst zu Beginn der 70er Jahre in den USA und ab 1978 auch im deutschsprachigen Raum einsetzte und vor allem von Bürgerrechtsbewegungen getragen wurde. Im Fokus dieses Diskurses stehen die Auswirkungen von Gruppenstrukturen auf die Psyche von Menschen sowie die gesellschaftspolitischen Auswirkungen von "Sekten", die nun als Gruppierungen mit vereinnahmender und totalitärer Tendenz thematisiert werden.
Zuerst anhand der Sektendefinition von Peter L.Berger, dann mit der umfassenden Analyse von Rodney Stark und William Sims Bainbridge habe ich verschiedene soziologische Dimensionen des Phänomens der "Sekte" erarbeitet. Berger macht auf die Rolle der "Sekten" als Schutzanbieter aufmerksam und verweist gleichzeitig auf die sozialpsychologische Bedeutung von neo-orthodoxen Wertvorstellungen und Bedrohungsszenarien. Die Ausführungen zur Orthodoxie verdeutlichten allgemein den stark normativen Einfluss eines Diskurses und im besonderen die enormen kommunikativen Barrieren, die in orthodoxen Erwartungshaltungen und Sprachregelungen enthalten sind. Bergers Organisationsmodell für den Selbstschutz kognitiver Minderheiten lenkte schliesslich die Aufmerksamkeit auf organisationssoziologische Überlegungen und auf die Bedeutung von bestimmten Unternehmenskulturen für den Unternehmenserfolg. Fazit dreier dort durchgespielter systemtheoretischer Denkmodelle ist, dass eine "Sekte" als eine "starke, systemgestützte Unternehmenskultur" ernstgenommen werden sollte. Wenn "Sekten" als Unternehmenskulturen verstanden werden können, so macht gerade der kritische Diskurs auf den damit verbundenen latenten oder manifesten Konflikt aufmerksam, mit dem sich jede Unternehmensführung konfrontiert sieht: Auf die Schwierigkeit, die Organisationsziele mit den für die Erreichung notwendigen Aufwendungen optimal zu verbinden und auf die besondere informale oder "mafiose" Ausgestaltung, die diese Verbindung in "Sekten" erhalten hat.
Der religionssoziologische Erklärungsansatz von Stark und Bainbridge geht austauschtheoretisch davon aus, dass Menschen in "Sekten" bestimmte Bedürfnisse kompensieren, die in "Kirchen" zu kurz kommen. Kompensationsbedürfnisse und -möglichkeiten bestimmen in ihrer Perspektive denn auch das Verhältnis einer Gruppe zu ihrer Umwelt, und die "Sekte" wird so an ihrem hohen Spannungsverhältnis zur Umwelt erkenn- und messbar. Allerdings erfährt damit die Wahrnehmung der "Sekten" wieder eine Subjektivierung auf ein natürliches menschliches Bedürfnis, welche die diskursiv geprägte Wertedimension und den sozialen Kontext, den Sekten bilden, stark abschwächen und als Legitimierungsversuch für religiöse und kirchliche Institutionen interpretiert werden kann.

Fussnoten

(1) HUNT 1992. Vgl. z.B. Norbert Thiel 1986, Der Kampf gegen neue religiöse Bewegungen. Anti- "Sekten"-Kampagnen und Religionsfreiheit in der Bundesrepublik Deutschland. Mörfelden-Walldorf : Kando-Verlag. Thiel ist Pressesprecher der Munschen Vereinigungskirche in Deutschland und der Kando- Verlag ist ein sekteneigener Verlag. Oder Albert Cornelius Scheffler 1989, "Jugendsekten" in Deutschland. Öffentliche Meinung und Wirklichkeit. Eine religionswissenschaftliche Untersuchung. Frankfurt : Peter Lang. Es ist davon auszugehen, dass die fachliche Auseinandersetzung um das Phänomen der "Sekte" von "neureligiösen Bewegungen" nachhaltig beeinflusst wird. Auf die Aufarbeitung solcher Diskursbeiträge musste ich jedoch im Rahmen dieser Arbeit aus pragmatischen Gründen verzichten.

(2) Alfred Schütz, 1962, Collected Papers, Bd. I, Den Haag. Zitiert nach BERGER / LUCKMANN 1990, 17.

(3) WEBER 1988, 211. Weber hat dabei vor allem die "universalistische katholische Gnadenanstalt" im Auge, zu der er die protestantischen Sekten als "einzig konsequente Antithese" sieht (234).

(4) STARK / BAINBRIDGE 1985, 19 - 22; 20. Auf ihren Ansatz komme ich unten in Kapitel 7 ausführlich zu sprechen.

(5) In der 4. Auflage von 1986. In späteren Auflagen hat Eggenberger dann darauf verzichtet.

(6) Vgl. diesbezüglich die kritischen Ausführungen zum System der gesellschaftlichen Strukturen bei ESSER 1993, 459-467.

(7) DUBACH 1993, 304, 301. Dem steht die bereits zitierte These von BEINERT 1991 entgegen, der nicht die eigene Subjektivität, sondern das Kollektiv als "Hort der Eigensicherung" sieht.

(8) SCHMID 1992, 69 f. "Mo-Jünger" sind Mitglieder der im Untergrund lebenden "Kinder Gottes" oder "Familie der Liebe", deren Markenzeichen es ist, dass sie die von Jesus gepredigte Liebe fleischlich ernst nehmen wollen. "Krishnadiener" sind Anhänger der Internationalen Gesellschaft für Krishnabewusstsein, genannt "Hare Krishnas", die die moderne Gesellschaft gerne durch eine vedantische Kastenordnung ersetzt sähen. "Moonies" sind die Anhänger des südkoreanischen Messias San Myung Mun und seiner Vereinigungskirche, dessen Programm des "Godismus" für die Welt eine Theokratie unter seiner totalitären Herrschaft ist. Und auch die Zeugen Jehovas, eine adventistische Splittergruppe mit allen Merkmalen des protestantischen Fundamentalismus, sind intensiv am Aufbau einer theokratischen Gesellschaft.

(9) Als Gegenargument z.B. der Aufsatz von PESCOSOLIDO / GEORGIANNA 1989.

(10) SCHMID 1992, 74 - 76. LRH Ron Hubbard entwickelte 1950 "Dianetics - The modern Science of Mental Health" und gründete 1954 die Scientology Kirche, die heute wohl zu den machtambitioniertesten Sekten gezählt werden kann.

(11) John Marks 1979, 72, 133, 182-192: The Search for the Manchurian Candidate: The CIA and Mind Control. New York : Time Books, zitiert nach HASSAN 1993, 70.

(12) Ted Patrick / Tom Dulack 1976, Let Our Children Go. New York : E.P. Dutton and Company, Inc. (Vgl. als Alternative dazu HASSAN 1993)

(13) Fraser-Report 1978, Investigation of Korean-American Relations. R.Boettcher / G.L. Freedman 1979, Gifts of deceit. Sun Myung Moon, Tongsun Park and the Korean scandal. New York : Holt, Rinehart and Winston.

(14) HAACK 1991, 54, 164; Time, 31.5.1982; Time, 22.4.1985; Newsweek, 2.9.1985; HADDEN / SHUPE 1988, 15f.

(15) HAACK 1991, 157; Newsweek 2.9.1985; WoZ, 28.11.1986. Vgl. auch David G. Bromley 1985, Financing the Millenium: The Economic Structure of the Unificationist Movement. Journal for the Scientific Study of Religion, 24, 253-274.

(16) Vgl. für Amerika CONWAY / SIEGELMANN 1979, 1984; GALANTER 1982; CLARK 1983; DELGADO 1984; LOFLAND / STARK 1985, 125-157; SINGER 1979 a, 1988; CIALDINI 1987; HASSAN 1993; HOCHMAN 1990; und für den deutschsprachigen Raum: HAACK 1979; JENNRICH 1985, 46-54; SIEPER 1988; HEMMINGER 1989, 141-168; ROSINA 1989.

(17) Vgl. die deutsche Übersetzung: H.-U.Wittchen u.a.(Hg.) 1989, Diagnostisches und Statistisches Manual Psychiatrischer Störungen DSM-III-R. Übersetzt nach der Revision der dritten Auflage des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders der American Psychiatric Association. Stichworte: 309.89 Posttraumatische Belastungsstörung (304ff), 300.02 Generalisierte Angststörung (308f), 300.14 Multiple Persönlichkeitsstörung (329ff) und 300.60 Depersonalisationsstörung (337ff).

(18) Die Vereinigungskirche begründet beim Training neuer MissionarInnen mit dem Begriff "heavenly deception" die Legitimität unlauterer Beeinflussungstechniken: Lügen, täuschen, bedrängen im Kampf um die Errichtung des "heavenly kingdom on earth", für den Messias San Myung Mun, dem rechtmässigen Sohn Gottes und damit zum Wohle der Menschheit.

(19) Nachtrag vom Juli 1999: Diese Arbeit ist 1994 entstanden. Inzwischen wäre dieser Abschnitt "öffentliches Sektenbewusstsein" stark zu erweitern, zumal inzwischen die Regierungen verschiedener europäischer Länder Berichte zur "Sekten"-Situation in ihren Ländern veröffentlicht haben. Und auch in der Schweiz hat die Auseinandersetzung mit "Sekten" einen neuen Stand erreicht. Zu erwähnen sind insbesonders: ein Gesetz in Basel, das sektiererischen Gruppen das Werben auf öffentlichem Grund seit November 1998 verbietet (mehr dazu hier), sodann der Bericht vom Juli 1998 und herausgegeben vom Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartement zum Thema "Scientology in der Schweiz", und schliesslich der Bericht der Geschäftsprüfungskommission des Nationalrates vom Juli 1999 zum Thema.

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Appendix

Auszug aus der nicht-publizierten Lizentiatsarbeit "Fundamentalistische Gruppen als soziales Phänomen und Problem", S. 7-48, eingereicht 1994 bei Prof. Dr. Volker Bornschier, Soziologisches Institut der Universität Zürich.

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