Das "Wohl-Behagen" in Sekten, religiösen Gruppierungen und Psychokulten (Lenzin, 1994)
von Esther Lenzin
Mitbestimmt durch den heutigen Stand der Technik ...
... leben wir in einer sehr hektischen, schnelllebigen Zeit, die leicht Gefühle von Sinn- und Hoffnungslosigkeit aufkommen lässt. Über die Medien erfahren wir im Detail alle Schrecklichkeiten eines Krieges, wir wissen von allen Umweltkatastrophen, vom Ozonloch und vom Waldsterben, und wir sind über die Intrigen, Machtspiele und Korruptionsgeschäfte auf dieser Welt informiert. Die zwischenmenschlichen Kontakte im Alltag sind mit Hilfe der Technik reduziert worden. Im Büro wird via Computer kommuniziert, man sitzt nebeneinander vor dem TV oder im Kino, geht in eine Disco, wo nicht geredet werden kann. Die Landeskirchen der Schweiz haben ihren Einfluss weitgehend verloren, und damit sind auch die Werte und die Moral, die uns durch die Kirche vermittelt wurden, in Frage gestellt. Diese Entwicklungen lassen uns heute in einer freieren und unabhängigeren Welt leben. Die Sekten, religiösen Gruppierungen und Psychokulte verzeichneten in den letzten Jahren einen regen Zulauf. Dies stellt uns zwangsläufig vor die Frage, ob wir diese Freiheit überhaupt ertragen und damit auch leben können, oder ob das Bedürfnis nach Abhängigkeit und klaren Hierarchien einer tiefen menschlichen Sehnsucht entspricht.
Was bieten Sekten, religiöse Gruppierungen und Psychokulte?
Sie bieten straffe Organisationen mit klaren Strukturen. In der Gruppe fühlt sich jeder einzelne an- und aufgenommen, geborgen und mitgetragen. Einsamkeit und die so oft mit Einsamkeitsgefühlen verbundenen Depressionen verschwinden. Zwischenmenschliche Auseinandersetzungen fallen weitgehend weg, da es ein wichtigeres übergeordnetes Ziel gibt. Dadurch reduzieren sich auch die Beziehungsängste und die Minderwertigkeitsgefühle. Die individuellen Unterschiede gleichen sich aus. Dank dem Kampf um das gemeinsame Ziel werden Aggressionen nach aussen (an den gemeinsamen Feind, die schlechte Aussenwelt, Menschen, die sie nicht mehr verstehen) abgeleitet. In der Gruppe entsteht eine symbiotische Harmonie.
Ein in der Gruppe oder Organisation Höhergestellter, Guru, Führer, bestimmt die klaren Regeln, entscheidet, was, gut und was schlecht, was recht und was unrecht, was weiss und was schwarz ist. Schwierige, problematische und vielfach sogar lebenswichtige Entscheide werden den Mitgliedern abgenommen. Entscheide werden von oben zielsicher und richtig gefällt. Auf alle Fragen und Unsicherheiten der Mitglieder gibt es eine klare, eindeutige Antwort. Das vereinfacht vieles und erübrigt jenes zeitaufwendige Vor-sich-Herschieben und Mit-sich-Herumtragen von Problemen und Entscheiden, die meistens auch im Nachhinein doch noch ungeklärte Unsicherheiten offen lassen.
Bei Lebens- und Sinnkrisen, No-Future-Gefühlen und Hoffnungslosigkeit bieten Sekten, religiöse Gruppierungen und Psychokulte eine wirksame Lösung. Sie haben ein klares Ziel, meistens geht es um bessere Menschen - und mit besseren Menschen gibt es eine bessere, eine "heilere Welt" (mehr Liebe, mehr Verständnis, weniger Aggression und Brutalität). Oft sind es Elite-Gemeinschaften, die Kriege, Weltuntergänge oder gar Atomkatastrophen überleben werden oder zumindest das Paradies im Jenseits abverdienen. Diese Gruppierungen zeigen, was das Leben lebenswert macht, wofür es lohnenswert ist, zu kämpfen und sich im Leben einzusetzen, wozu wir da sind, was der Sinn dieses Lebens ist. Sie zeigen uns, dass es sich lohnt, an das Gute zu glauben, dafür zu kämpfen und daran festzuhalten, dass wir das Böse in der Welt ausrotten und damit verschwinden lassen können.
Mitgliedern von Sekten, religiösen Gruppierungen und Psychokulten gelingt es nicht mehr, die eigene Abhängigkeit zu sehen oder zu spüren. Ihre Optik ist so auf das Schlechte der Aussenwelt, auf die Rettung der ganzen Menschheit eingestellt, dass der eigene Schatten und das Böse, das in der eigenen Gruppe geschieht, gar nicht mehr wahrgenommen wird. Von früheren Bekannten fühlen sie sich zusehends unverstandener, verlassen ihr altes soziales Umfeld und bewegen sich mit der Zeit nur noch innerhalb der Gruppe, die sie versteht. Kritiklos werden wieder die früher sogar oft bekämpften, straffen Organisationsstrukturen und die alten, einst verhassten Hierarchie-Modelle übernommen, die bei näherer Betrachtung nicht selten an die Zeit der Leibeigenen im Mittelalter erinnern.
Selbst wenn ein Mitglied sich nach einer gewissen Zeit mit der Gruppe und deren Zielen nicht mehr identifizieren kann und mit dem Gedanken spielt, die Gemeinschaft zu verlassen, ist der Schritt zu einem Austritt alles andere als einfach. Das Leben hat sich dann unter Umständen schon über Jahre in dieser Gemeinschaft abgespielt, deren Normen und Werte übernommen und integriert worden sind. Nach einem Austritt müssen wieder neue, eigene Werte und Ziele erarbeitet werden. Da sich die Beziehungen auf die Gruppenmitglieder beschränkten, entsteht nach dem Austritt ein Beziehungsvakuum, das durch neue Beziehungen und ein neues soziales Umfeld gefüllt werden muss.
Appendix
Dieser Text wurde im infoSekta-Tätigkeitsbericht 1991-93, S. 28 f. abgedruckt.
© Juni 1994. Verein infoSekta.
.