Zwischen Skepsis und Glaube (Sträuli, 2001)

Vom richtigen Umgang mit symbolischen Wahrheiten

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von Dieter Sträuli


Die Botschaft der Geister

”Es braucht kein Geist dem Grabe zu entsteigen,
uns das zu sagen.
(Shakespeare, Hamlet, V 1)

In einer universitären Arbeitsgruppe zum Thema Parawissenschaften ging es um mögliche Beweise für das Leben nach dem Tod. Eine Studentin erzählte von einem Erlebnis, das für sie als solcher Beweis gelten konnte. Ihre Mutter war vor zwei Jahren gestorben, und kürzlich hatte sie geträumt, die Mutter stünde vor ihr und sage zu ihr: “Hör auf, nach mir zu rufen; du hast jetzt genug getrauert.
In der Gruppe entbrannte eine heftige Diskussion. War die Mutter tatsächlich aus dem Reich der Toten zurückgekehrt, um der Tochter die Botschaft zu überbringen? Oder war die Mutter nur eine Traumfigur aus dem Unbewussten der Tochter, der Traum eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Trauerprozess? Das Ende der Diskussion brachte keinen Entscheid für die eine oder andere Lösung, aber eine Überraschung. Die Gruppe entdeckte ein Paradoxon: Die Tochter war dermassen in weltanschauliche Grübeleien verstrickt, dass sie die Botschaft der Mutter gar nicht hörte. Ihr Fasziniertsein von einem möglichen Weiterleben der Mutter als Geist war also genau das, was die Mutter im Traum kritisierte.
Offensichtlich schliessen sich die beiden Haltungen – jene seltsame und für den Spiritismus typische Mischung aus Glaube und Zweifel, aus spekulativer Physik und alten Sagen, und andererseits das Ernstnehmen dessen, was die tote Mutter sagt – zumindest in diesem Falle aus. Wer die Botschaft hört und annimmt, für den hat die Mutter plötzlich eine eindrückliche Präsenz. Wir können uns vorstellen, dass sie im Traum genau so gesprochen hat wie als Lebende.

Grabenkämpfe

Und Israel und die Philister stellten sich auf,
Schlachtreihe gegen Schlachtreihe.
(Samuel 17, 21)

Diese Geschichte kann als Lehrstück für die Schwierigkeiten dienen, mit denen Seelsorger und Sektenberaterinnen konfrontiert sind. Auch sie verstricken sich manchmal in weltanschauliche Diskussionen (z. B. mit Sektenvertretern) und versuchen vergeblich den Punkt wiederzufinden, an dem das Gespräch eine falsche Wendung nahm. Auch sie fühlen sich durch die missionarisch vorgetragenen Überzeugungen ihrer Gesprächspartner herausgefordert und übernehmen reflexartig die Rolle der Verteidiger der Vernunft.
Das Ergebnis ist ein Territorialkampf um die richtige Deutung des Weltgeschehens, ausgetragen von zwei unversöhnlichen Lagern. Die einen sind die Gläubigen, die andern die Skeptiker. Tragisch ist, dass beide Haltungen ihre Berechtigung haben, und dass sich so zwei Wahrheiten gegenseitig blockieren, weil sich die Parteien gegenseitig immer mehr in Extrempositionen drängen.

  • Der Glaube beeindruckt als Haltung mit seinem Engagement, seinem Ernstnehmen der Faktoren Leben, Tod, Hoffnung und Wahrheit.
  • Die Skepsis ist biologisch betrachtet vermutlich ein Überlebensfaktor, weil sie die Vernunft ins Spiel zu bringen sucht, Distanz zwischen uns und unsere Überzeugung einschaltet und überstürztes Handeln verhindert.

Sobald diese beiden Wahrheiten aber auf zwei Subjekte verteilt sind, ist ein fruchtbares Gespräch nicht mehr möglich. Keiner will sehen, was der andere als echten Wert verteidigt; dieser Wert wird nur zum Anzeichen für die jeweils “falsche” Einstellung. Wie können wir aus einer solchen Sackgasse wieder herauskommen?
Die Wahrheit liegt in diesem Falle nicht in einer Art geometrischer Mitte zwischen den beiden Positionen. Wir kennen Sätze wie “Ich lasse jedem seine eigene Meinung!” (Ergänze:  “Ich weiss aber, wie es wirklich ist.”) Oder: “Vielleicht hat jeder von uns auf seine Weise Recht.” Das sind zwar anerkennenswerte Bemühungen, höflich zu bleiben und die Position des andern gelten zu lassen; sie erlauben aber keinen Erkenntnisfortschritt in der Diskussion, sondern zeugen von einem Festhalten am eigenen Standpunkt und einem Rückzug aus der Auseinandersetzung.

 

Analysieren

Symbolum habentibus, facilis est transitus.
Wer das Symbol besitzt, dem fällt der Übergang leicht.
(Nach C. G. Jung, Psychologie und Alchemie)

Die Wahrheit kann nur in einer neuen, dritten Position liegen, die dem je Nützlichen der beiden Positionen “Glaube” und “Skepsis” Rechnung trägt und gleichzeitig ihre gegenseitige Blockierung aufhebt. Diese Position ist eine analytische.
Die analytische Position verlangt einen neuen Blick auf das Verhalten und die Glaubensinhalte der Gesprächspartner. Sie geht davon aus, dass entgegen allen Überzeugungen nichts selbstverständlich ist an den Positionen und Argumenten der Konfliktpartner, sondern alles erst zu erarbeiten.
Der psychoanalytische Blick auf ein Gespräch beispielsweise zeigt zwei Menschen, von denen keiner weiss, was er eigentlich sagt, noch sagen beide ausschliesslich das, was sie eigentlich sagen wollten. Die Psychoanalyse nimmt politische Schlagwörter und religiöse Überzeugungen als Platzhalter für ein verborgenes Begehren; sie symbolisieren das, worum es uns in unserem Sein eigentlich geht. Vor eine echte Auseinandersetzung muss also Übersetzungsarbeit treten. Als Gesprächspartner können wir sie nur gemeinsam leisten, da wir als Einzelne durch Ängste und Abwehrmechanismen daran gehindert werden, unverstellt das zu sehen, was uns in unserem Innersten antreibt. Auch müssen wir unser Wissen kombinieren. Das Unbewusste tut zwar sein Bestes, unsere subjektiven Konflikte symbolisch darzustellen. Es kann dabei aber noch so kreativ vorgehen – es bleiben immer Elemente, die wir ohne fremde Hilfe nicht verstehen. Und beim Versuch, die Beweggründe des je andern für sein Sprechen und Verhalten zu verstehen, gehen wir am besten davon aus, dass es sehr menschliche und den unseren ähnliche Beweggründe sind.
Die erwähnte Diskussionsgruppe verstand die Bedeutung des Traums von der toten Mutter in jenem Augenblick, in dem sie die momentane Lebenssituation der Träumerin und die Botschaft ihres Traums ernst nahm.

Eindeutigkeit und Vieldeutigkeit

Dies alles scheint so klein und unerkennbar
Wie ferne Berge, schwindend im Gewölk.
(Shakespeare, Sommernachtstraum, IV 1)

Das grosse Hindernis bei dieser Übersetzungsarbeit ist der Fundamentalismus. Er geht davon aus, dass Texte wörtlich genommen werden können, und dass sie sogar nur auf diese Weise ihre Wahrheit offenbaren. Das ist ein grundlegender Irrtum. Das Kernereignis des Christentums und anderer Religionen liegt darin, dass Gottes Wort Menschensprache wurde. Menschensprache aber beruht darauf, dass Wörter immer zwei Funktionen haben: Sie erlauben Eindeutigkeit (“Wir treffen uns morgen um Viertel nach Drei am Haupteingang”; “Deine Rede sei ‚Ja, ja‘ und ‚nein, nein‘”) und sie evozieren gleichzeitig eine unglaubliche Fülle an ausgesprochenen und nicht ausgesprochenen Assoziationen.
Sprache bleibt nie stehen; um Bedeutung zu erzeugen, ist sie auf poetische Gleichnisse angewiesen und kommt so vom Hundertsten ins Tausendste. (“Manchmal habe ich das Gefühl, den Boden unter den Füssen zu verlieren…“; “Es ertönte aber ein Rauschen wie von den Wellen des Meeres, ein Rasseln wie der Marsch eines Heeres”). Ohne diese Vieldeutigkeit des Gesprochenen würde es keine Wirkung entfalten. Wenn wir aber aus Sätzen und Texten Hinweise für unser Verhalten im Leben ziehen wollen, müssen wir uns auf eine Lesart festlegen. Das ist jeweils der Moment, in dem wir einen Schritt tun, einen Entscheid fällen. Andere Menschen werden hier vielleicht eine andere Wahl treffen, die von ihnen aus gesehen besser passt.
Auch Fundamentalisten treffen diese Wahl; sie lesen und interpretieren ihre heiligen Bücher genauso wie jene, die einen freieren Umgang mit Texten pflegen. Dass sie leugnen, was sie tatsächlich tun – “Gottes Wort bedarf keiner Interpretation” –, entspringt einer tiefen Unsicherheit der Doppelnatur des Wortes gegenüber. Thora, Bibel, Koran sind Texte von grosser poetischer Kraft. Es ist kaum zu bemessen, welche Fülle an Lebensweisheit in ihnen steckt. Wenn wir ihnen Spielraum geben, ein Feld auftun, in welchem sie mit unserer Lebenswirklichkeit in Wechselwirkung treten können, kann dies unser Leben verändern. Es liegt auf der Hand, dass auch die Möglichkeit, zu bestimmten Sätzen Nein zu sagen, ein zentrales Element dieser Freiheit ist.
Das Symbolische – die Welt der Zeichen, Wörter und Texte – stellt uns immer wieder vor die Aufgabe, seine Wahrheit neu zu bestimmen. Diese Ethik des Symbolischen ist ein Paradox. Sie besagt, dass wir aus einem Glauben nicht dann am meisten Trost ziehen, wenn wir ihn für fraglose Wirklichkeit halten. Erst die Distanznahme, das Hinterfragen verleiht ihm eine plötzliche Tiefe und eine Verbindlichkeit ganz anderer Art, als Fundamentalismus und verbissenes Sich-Klammern an vermeintliche Absolutheiten es je möglich machen. 

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