Die Seele ist tot. Es lebe das Seelische! (Hell, 2004)

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von Daniel Hell


Einführung

Die neuen christlichen Bewegungen kommen dem Zeitgeist entgegen, ohne in ihm aufzugehen. Sie passen sich äusserlich den technischen Möglichkeiten der Moderne an und suchen gleichzeitig inhaltlich dem seelischen Defizit der technisch-wissenschaftlichen Welt entgegen zu wirken. Um diese Dynamik zu verstehen, kann es hilfreich sein, einen Blick zurück zu werfen und die Folgen der technisch-wissenschaftlichen Revolution auf das Selbstverständnis der Menschen zu studieren. 

 

1.Von der Seele zum Gehirn

Die Vorstellung einer Seele spielt in der abendländischen Geistesgeschichte eine herausragende Rolle. So macht die Seele nach der Auffassung von Platon und Aristoteles die Lebendigkeit des Menschen und anderer Lebewesen aus. Aristoteles schreibt  z.B. in „de anima“: „Die Seele macht uns leben, fühlen und denken.“ Sie ist – modern ausgedrückt – das Organisationsprinzip des Lebendigen. Diese Vorstellung hat nicht nur tiefe Spuren in Philosophie, Theologie und Medizin hinterlassen. Sie hat auch das Alltagsverständnis der abendländischen Menschen geprägt. Noch Descartes widmet eines seiner Hauptwerke „den Leidenschaften der Seele“. Doch beginnt mit Descartes auch der Abschied vom jüdisch-christlich geprägten Leibverständnis, das Seele und Körper umfasst. Während die Seele immer mehr zum rational vorgestellten Geist und schliesslich verkürzt zur blossen Kognition, zum erkennenden Organ wird, reduziert sich gleichzeitig der Leib (durch Aufgabe des Beseeltseins) zum rein materiellen Körper.

Damit kommt der Höhenflug der Seele zu einem Ende. Heute scheint die Seele ausgespielt zu haben. So ist im wissenschaftlichen Diskurs kaum mehr von der Seele die Rede. Auch Psychologie und Psychiatrie, die ihren Namen von der griechischen Bezeichnung für Seele (Psyche) herleiten, sind weitgehend „seelenlose“ Wissenschaften geworden. Sie werden nicht mehr im wörtlichen Sinne als Seelenlehre und Seelenheilkunde verstanden, sondern immer häufiger als angewandte Neurowissenschaften – als Wissenschaften des Gehirns - definiert.

Die Abkehr von der Seele ist zum einen darin begründet, dass der Begriff historisch vieldeutig ist und heute unter Ideologieverdacht steht. Zum andern wird der Begriff mit Subjektivität, d.h. fehlender Objektivität, gleichgesetzt. Auch liess sich nie eine seelische Substanz feststellen - oder gar ein „Psychon“, wie noch John Eccles postulierte, der 1963 den Nobelpreis für hirnphysiologische Forschungen erhielt.

Die Abwendung von der Seele in Psychologie und Psychiatrie ist insofern konsequent, als beide Disziplinen zunehmend um eine Objektivierung ihrer Aussagen bemüht sind. Dadurch werden sie gezwungen, sich dem beobachtbaren Körper und seinem Verhalten zuzuwenden und das seelische Erleben in den Hintergrund treten zu lassen. 

 

Erlebniskultur als Gegenbewegung

Der Mensch ist aber nicht nur ein Homo sapiens, sondern auch ein Homo sentiens. Es geht ihm nicht nur um Erkennen und Funktionieren, sondern auch um Empfinden, Fühlen und Handeln, kurz um das, was früher mit seelisch bedingter Lebendigkeit gemeint war. Dies zeigt sich gerade in unserer technisch-wissenschaftlich geprägten Zeit. Je mehr der Mensch mit biologischen Verfahren durchsichtig gemacht und mit physiologischen und molekularbiologischen Daten verrechnet werden kann, desto deutlicher macht sich ein eigentlicher Hunger nach seelischem Erleben bemerkbar. So wird nicht nur im Kino und Fernsehen Spannung gesucht, sondern immer häufiger auch das eigene Leben als Selbstexperiment inszeniert. Um sich intensiver zu spüren, wird der Körper z.B. im Sport bis zur Grenze herausgefordert. Wer hätte sich früher vorstellen können, dass sich Menschen freiwillig an einem Seil 100 Meter in die Tiefe stürzen, in Kanus Wildbäche hinunterpreschen, Hausmauern erklettern oder sich durch Ladendiebstähle einen „Kick“ holen? Von Manipulationen am eigenen Körper über gewagte Auftritte in der Öffentlichkeit bis zum Gebrauch stimulierender Drogen wird alles Mögliche eingesetzt, um sich besser zu spüren.

Der Erlebnishunger des modernen Menschen ist nicht nur Symptom einer Gesellschaft, für die Wohlbefinden, ja Spass das höchste Gut ist. Er ist auch als Gegenreaktion auf die Technisierung und Rationalisierung des modernen Lebens zu verstehen. Auf die Abschaffung der Seele und auf die Abstrahierung bzw. Digitalisierung des Körpers folgt der verzweifelte Versuch vieler Menschen, sich vermehrt leib-seelisch zu spüren. Statt wie eine Maschine zu funktionieren, möchten sie in Thrill oder Meditation sich selber erfahren.

Auf Grund der Beobachtung, dass Menschen eine bestimmte Intensität ihres Erlebens benötigen, um sich wohl zu fühlen, ist neuerdings eine sog. Risikokompensationshypothese entwickelt worden. Sie besagt, dass der Mensch ein abenteuerliches Risiko sucht, wenn er sich sinnlich unterfordert fühlt. Ist der Alltag zu informell oder zu stark materiell abgesichert, neigt der Mensch dazu, gezielt Gefahren einzugehen, um einen Thrill zu erfahren.

 

Dieser gesuchte Thrill entspricht einem leib-seelischen Erleben, in dem durch körperliche Stimulation und seelisch erfahrene Gefahr ein Gemisch aus Angst und Lust entsteht. Der Hunger nach intensivem Erleben nach dem „Kick“ kommt nicht von ungefähr. Die Berauschung und künstliche Intensivierung des Lebens droht zum Lebensstil zu werden, wenn der Mensch – nach Peter Sloterdijk – nicht auch Räume in sich spürt, von denen die Physik nichts weiss. Schon Sören Kirkegaard hat 1849 davon gesprochen, dass Menschen verzweifelt sich selbst suchen, wörtlich „verzweifelt man selbst sein wollen“, wenn sie in (oder ausser) sich keinen tragenden Grund mehr ahnen.

Wo herkunftsorientierte Sicherheiten fallen und traditionelle Riten an Einfluss verlieren, ergreifen Menschen andere und neue Wege, um sich selbst zu spüren. Die Provokation von Angst, Lust und Schmerz mittels unterschiedlichster Events tritt an die Stelle einer nach innen orientierten Suche, die auch in die Stille hört.

 

Diese Art der Selbstsuche erscheint charakteristisch für eine Zeit, die durch Mobilität und Flexibilität gekennzeichnet ist und in der Kontinuität und Treue keine prägenden Werte mehr sind.

 

Der Zwiespalt des spätmodernen Menschen

Das moderne Individuum erlebt sich zwiespältig. Auf der einen Seite verfügt es über technische Hilfsmittel und über soziale Annehmlichkeiten, die früheren Generationen noch unvorstellbar waren. Auf der andern Seite ist der moderne Mensch mit raschen und tiefgreifenden Veränderungen konfrontiert, die ihn ein fest verwurzeltes Leben nach traditionellem Muster fast unerreichbar machen. Besonders herausfordernd ist die Doppelbödigkeit von zunehmendem Autonomieanspruch und wachsender Fremdabhängigkeit. Einerseits wachsen in einer pluralistischen und individualistischen Gesellschaft die Wahlmöglichkeiten und damit der Druck, eigene Entscheidungen zu treffen. Anderseits verlangt die globale Entwicklung eine ständig grössere Anpassungsleistung an technische und organisatorische Anforderungen. Man vergleiche nur die Freiheit des frühen Wanderers oder Reiters mit den modernen Regelungen im Strassen- oder gar Luftverkehr.

Je mehr die Welt zum Dorf wird, desto mehr werden im modernen Leben Anpassungsleistungen an organisatorische Notwendigkeiten erforderlich. Wo früher in einem kleinen Dorf konkret fassbare Willkür geherrscht haben mag, herrschen heute in der Weltgemeinschaft abstrakte Regeln, denen organisatorische und politische Überlegungen zu Grunde liegen. Auch das moderne Weltverständnis basiert immer mehr auf Gesetzmässigkeiten, sei es in physikalischer, psychologischer oder soziologischer Hinsicht. Der technische Fortschritt der Moderne ist in erster Linie ein Triumph naturwissenschaftlich hergeleiteter Gesetze. Mit dieser Regelhaftigkeit gilt es umzugehen. Nicht nur Ethik und Recht, auch der Selbstanspruch des modernen Subjekts fordern Eigenverantwortlichkeit und Willensentscheide. Naturgesetzliche Heteronomie und individuelle Autonomie sind vom modernen Menschen in Einklang zu bringen. Dies drückt sich auch in der aktuellen gesellschaftlichen Erwartung aus, dass der Mensch vor allem flexibel und teamfähig zu sein habe. Flexibilität setzt schnelle und entschiedene Anpassung an äussere, zum Gesetz erhobene Verhältnisse voraus. Teamfähigkeit verlangt eine feine Abstimmung zwischen individueller Autonomie und zwischenmenschlicher Abhängigkeit.

Besonders eindrücklich hat der Soziologe Richard Sennett die Folgen beschrieben, die die technisch wissenschaftliche Revolution und der tiefgehende sozioökonomische Strukturwandel auf die Lebensführung und die Lebenseinstellung moderner Bürgerinnen und Bürger hat. Diese Folgen sind in den letzten Jahrzehnten zuerst in den USA, dann auch in Europa durch die Politik des Neoliberalismus noch extrem gesteigert worden.

In seinem Buch „Der flexible Mensch“ (mit dem treffenden englischen Titel: The corrosion of character) legt Sennett am Beispiel der USA empirisches Material vor, das belegt, wie grundlegend sich der Lebensentwurf moderner Menschen in den westlichen Industrienationen in den letzten 25 Jahren verändert hat.

 

Sennett beobachtet, wie sich die klassische Berufslaufbahn – die wie eine geradlinige Wagenspur (franz. carrière) das Arbeitsleben geprägt hat – in kurzfristige berufliche Engagements auflöst und wie die ehemals mehr oder weniger festen familiären und freundschaftlichen Verbindungen immer stärker auseinanderdriften. Gleichzeitig beschreibt er, wie der Arbeits- und Wohnort an heimatlicher Bedeutung verliert. Die berufliche Anstellung wird zu einem vorübergehenden und meist kurzfristigen Unternehmen. Begrenzte Arbeitsprojekte werden immer häufiger ohne längerfristige Perspektive eingegangen. Anstelle von Kontinuität oder Loyalität gegenüber Beruf und Kollegenschaft sind Flexibilität, Teamfähigkeit und schnelle Auffassungsgabe gefordert. Diese Eigenschaften erlauben es, kurzfristige Ziele effizient zu verfolgen und sich flexibel einer sich schnell verändernden Ökonomie anzupassen. 

 

Die psychische Deregulierung und Flexibilisierung an einem Beispiel

Sennett illustriert seine Thesen mit statistischem Material und besonders eindrücklich mit Fallbeispielen, wie demjenigen von Enrico als Vertreter der Nachkriegsgeneration und seinem Sohn Rico, der die jüngere Generation der heute 25-40 Jährigen repräsentiert.

Enrico war in den 50er-Jahren aus Italien in die USA eingewandert und hatte sich den amerikanischen Traum erfüllt, mit Putzarbeit das Geld für ein Haus zusammenzusparen, das er sich schliesslich in einem Vorort von Boston kaufen konnte. Solange er mit seinen Nachbarn zusammenlebte war er ein ruhiger, unauffälliger Bürger. „Kam er jedoch in seine alte italienische Umgebung zurück, so genoss er als jemand, der es draussen zu etwas gebracht hatte, sehr viel mehr Aufmerksamkeit“. Er war ein angesehener, engagierter Familienvater, der jeden Sonntag zur Messe ging. Sein Leben schien berechenbar. Er mass seinen Erfolg an den verschiedenen Verbesserungen und Anschaffungen, die er an seinem Holzhaus anbringen konnte. Mit 40 Jahren wusste er schon genau, wann er in Rente gehen und über wie viel Geld er dann verfügen würde. „Um seine Zeit nutzbringend anzulegen, brauchte Enrico das, was Max Weber ein „Gehäuse“ genannt hat, eine Art bürokratische Struktur, welche den Zeitablauf regeln lässt. „In Enricos Fall stellten das ans Dienstalter geknüpfte Lohnsystem seiner Gewerkschaft und die Regelung seiner staatlichen Pension dieses Gerüst dar ... Er formte sich eine klare Lebensgeschichte, innerhalb derer sich seine Erfahrung materiell und psychisch ansammelte; so wurde ihm sein Leben als lineare Erzählung verständlich.“[1]

Ganz anders sein Sohn Rico, der den Wunsch seines Vaters nach sozialem Aufstieg erfüllte hat und ein Consulting-Büro führt. Rico verachtet Leute, die wie sein Vater „Dienst nach Vorschrift“ machen und den Schutz einer Bürokratie suchen. „Statt dessen ist er der Überzeugung, man müsse offen für Veränderungen sein und Risiken eingehen.“[2] Rico hat die Business-School in New York absolviert und dort eine Kommilitonin geheiratet. Seit dem Abschluss hat er als Berater in verschiedenen Firmen in Los Angeles, Chicago und Missouri gearbeitet, bevor er sich – nach einer schmerzhaften Entlassung – selbständig machte. In vierzehn Arbeitsjahren ist Rico viermal umgezogen. Er versucht über elektronische Kommunikationsmittel jenes Gemeinschaftsgefühl herzustellen, das er von zu Hause kennt, doch findet er die Online-Kommunikation kurz und gehetzt. „Die Flüchtigkeit von Freundschaft und örtlicher Gemeinschaft ist der Hintergrund für die tiefste von Ricos Sorgen, seine Familie.“[3] Während er sich mit der nötigen Flexibilität beruflich erfolgreich durchschlagen kann, tauchen Fragen für Rico vor allem auf, wenn es um die Erziehung seiner Kinder geht. Wie können seine Kinder zu sich selber finden, wenn sie ständig wechselnde Bezugspersonen haben und alle paar Jahre Wohnort und Schule wechseln? Wie können sie Vertrauen zu sich und andern entwickeln, wenn die Konstanz fehlt? Das Motto „nichts Langfristiges“ das sich beruflich für Rico auszahlt, erscheint ihm ein verhängnisvolles Rezept für die Entwicklung von Vertrauen und Selbstsicherheit bei seinen Kindern. Würde seine Arbeitsmoral „Bleibe in Bewegung, geh keine Bindungen ein und bringe keine Opfer“ auf die Familie übertragen, so hätte das katastrophale Folgen. „Wie kann ein Mensch in einer Gesellschaft, die aus Episoden und Fragmenten besteht, seine Identität und Lebensgeschichte zu einer Erzählung bündeln. Die Bedingungen der neuen Wirtschaftsordnung befördern vielmehr eine Erfahrung, die in der Zeit von Ort zu Ort und von Tätigkeit zu Tätigkeit driftet.“[4]

Richard Sennett schliesst aus Ricos Dilemma, dass der kurzfristig agierende Kapitalismus besonders jene Charaktereigenschaften bedroht, die Menschen aneinander binden und dem Einzelnen ein stabiles Selbstgefühl vermitteln. Wichtiger als Technisierung und Globalisierung sei die Auswirkung der durch die neue Wirtschaft geforderten Flexibilität, „die das Gefühlsleben des Menschen ausserhalb des Arbeitsplatzes am tiefsten berührt.“[5] Oder in den einfachen Worten Ricos: „Du kannst Dir nicht vorstellen, wie dumm ich mir vorkomme, wenn ich meinen Kindern etwas über Verpflichtungen erzähle. Es ist für sie eine abstrakte Tugend, sie sehen sie nirgendwo.“[6]



[1] R. Senett 1998 S. 16f

[2] ebd S. 19

[3] ebd S. 23

[4] ebd S. 31

[5] ebd S. 29

[6] ebd S. 29

 

 

Religiöse Erlebnissuche

Solche Menschen, wie sie Sennett am Beispiel Ricos schildert, sind auch in der Schweiz – und besonders wohl in der amerikanischsten Stadt dieses Landes, in Zürich – zu finden. Es ist kaum überraschend, dass die hiesigen Ricos nach Lösungen suchen, die sich schon in den USA aufgedrängt haben. Im kirchlich-religiösen Raum richtet sich das Interesse in erster Linie auf Angebote, die sinnlich erlebbar sind. Sie sollen aber nicht nur den Tastsinn befriedigen, sondern auch religiöse Grundbedürfnisse stillen, allerdings nicht so, dass die Sinnerfahrung durch zuviel Reflexion oder gar Dogmatik getrübt wird.

Dem modernen Trend des religiösen oder spirituellen Haltsuchens liegt ein spürbares Verlangen nach tieferem Selbsterleben und nach Sinnfindung zu Grunde. Dieser Seelenhunger wird aber zunächst auf eine Weise zu befriedigen gesucht, die der flexiblen und mobilen Lebensführung entspricht. Dadurch droht eine gewisse Oberflächlichkeit. Wer gewohnt ist, seine Bedürfnisse rasch zu sättigen und schnelle Anpassungsleistungen zu erbringen, wird auch im religiösen Erlebensbereich eher auf stimulierende Events setzen. Unverbindliche Teilnahme an Grossanlässen dürfte ihm oder ihr leichter fallen, als das verbindliche Integriertwerden in eine strukturierte Gemeinschaft. Wenn sich Menschen wie Rico einer Gruppe anschliessen, dürfte es für sie leichter sein, sich entsprechend den herrschenden Markt- und Marketinggesetzen nach einem Label bzw. einen Trendsetter zu richten, als sich für eine Gemeinschaft zu erwärmen, die auf geschichtlichen Erfahrungen basiert und eine komplexe Leitungsstruktur hat.

Es scheint mir eine hohe Kunst zu sein, das echte Anliegen vieler moderner Menschen nach Sinnhaftigkeit und religiösem Erleben aufzugreifen, ohne bei der punktuellen Befriedigung stehen zu bleiben. Die Gefahr unmittelbarer religiöser Sinnsättigung sehe ich weniger darin, dass Kirchen und Gemeinschaften diesen Bedürfnissen entgegenkommen, als darin, dass sie sie nur kurzfristig zu befriedigen vermögen, auch weil sie beim Event Charakter ihrer Angebote stehen bleiben und Fast Food anbieten. Dann sind die Reiz und Befriedigung suchende Menschen gezwungen, nach einer gewissen Zeit, wenn das Angebot zur Gewohnheit wird, weiter zu ziehen, um neue Thrill-Erfahrungen zu machen.

Wie aber kann es den Kirchen gelingen, ein sinnlich-sinnhaftes Angebot zu machen, ohne Konsum orientierte Menschen einfach auf ein Produkt – und sei dieses ein religiöses Bewusstsein – zu verpflichten, sondern sie einzubeziehen in einen schöpferischen Prozess, an dem sie teilhaben und den sie mitverantworten?

Diese Frage stelle ich, weil sie mich auch für mein eigenes Fachgebiet beschäftigt. Die Psychiatrie hat z.Zt. Zulauf, auch weil sie Produkte anbietet, die das Leben erleichtern und die z.T. eine Arbeitsleistung oder eine Genussfähigkeit ermöglichen, die in leicht depressivem oder ängstlichem Zustand nicht zu haben wären. Mit diesen Angeboten lässt sich aber weder vermeiden, dass psychisches Leiden nicht mehr auftritt, noch lässt sich gar eine tiefer liegende Unzufriedenheit mit dem Leben beseitigen.

 

Auch für die Psychiatrie und Psychotherapie bleibt die Herausforderung bestehen, den um Identität und Sinnhaftigkeit ringenden Menschen einen inneren seelischen Raum zugänglich zu machen, in dem sie sich bei sich selbst fühlen können. Um das zu erreichen, genügt es nicht, Hilfe suchende Menschen als Träger von spezifischen krankhaften Störungen zu behandeln. Medikamentöse und Verhaltenstherapien können zwar eine wichtige Hilfe sein, aktuelle Not zu mildern. Auch können sie bei schwer erkrankten Menschen die Voraussetzung schaffen, dass sich diese mit den sie bedrängenden Fragen besser auseinandersetzen können.

 

Diese psychotechnischen Verfahren vermögen aber das leibseelische Suchen der einzelnen Menschen weder zu befriedigen noch zu ersetzen. Erst eine tragende Beziehungen bzw. eine Begegnung von Ich und Du kann dieses Suchen unterstützen. Dies erfordert Therapeutinnen und Therapeuten, die Anteil nehmen am persönlichen Erleben ihrer Patienten und Klientinnen und in der therapeutischen Beziehung eine Art Resonanzraum für das seelische Erleben zur Verfügung stellen.

Die heutige Eventkultur ist nicht einfach schlecht zu machen. Sie zeigt auf, dass Menschen einen Hunger nach Seelischem haben. Sie wird aber zur Gefahr, wenn sie dazu dient, der Unzufriedenheit den Stachel zu nehmen – oder mit andern Worten: Wenn „Brot und Spiele“ als „Opium des Volkes“ angeboten wird, um nötige Reformen zu vermeiden.

 

Das Leiden als Aufschrei

Als Psychiater und Psychotherapeut habe ich die Erfahrung gemacht, dass seelische Probleme auch ein Spiegel der Gesellschaft sind. Sie spiegeln gesellschaftliche Entwicklungen aber nicht nur wider. Sie stellen sie auch in Frage. Seelisches Leiden ist nicht bloss eine lineare Folge der sozialen oder körperlichen Umstände. Es ist auch Protest und Aufschrei und damit potentieller Ausgangspunkt einer Gegenbewegung, die sich mit der Anpassung an das äussere Geschehen nicht begnügt.

So haben in der Geschichte des Denkens Menschen das leidvolle Erleben immer auch als Kristallisationspunkt für eine individuelle Geschichte, die sich vom blossen sozialen oder biologischen Geschehen emanzipiert, verstanden. Auch in den modernen Ausgestaltungen psychischer Leidensformen ist ein Widerspruch zum Bestehenden auszumachen. Da der Einspruch aber die aktuellen Verhältnisse aufnimmt und sie z.T. karikierend betont, kann das Widerständige des seelischen Leidens übersehen werden.

So ist das moderne Aufkommen einer Persönlichkeitsproblematik, die hauptsächlich durch Instabilität und Identitätsmangel charakterisiert ist und wegen eines zeitweisen Verlustes der Ich-Grenzen Borderline-Störung[1] genannt wird, nicht nur als Folge einer Epoche zu sehen, die kaum mehr einheitliche Wertvorstellungen und immer weniger stabile Familienverhältnisse kennt. Sie kann auch als Versuch verstanden werden, trotz biographischer Brüche und sozialer Uneinheitlichkeit durch Intensivierung der momentanen Erlebnisse und Beziehungen sich wenigstens vorübergehend als einheitliche Person zu spüren und dadurch der drohenden Leere bzw. der biographischen Geschichtslosigkeit zu entgehen.

Am deutlichsten verweist die Zunahme der Behandlungsfälle von Depressionen, die zu den häufigsten, leidvollsten und kostspieligsten Krankheiten unserer Zeit geworden sind, auf eine widerständische Autonomie des seelischen Erlebens. Während Wirtschaft und Wissenschaft auf einen rationalen Austausch von Informationseinheiten drängen und der globale Handel eine möglichst bindungsarme Abwicklung von Sachgeschäften fördert (weil familiäre oder nationale Gefühlsbindungen dem grenzenlosen Handel nur hinderlich scheinen), drückt das depressive Geschehen zwar Gefühllosigkeit aus, doch setzt das Leiden an dieser Gefühllosigkeit gerade einen Erlebenshunger voraus.

Es scheint das Paradoxon unserer Zeit zu sein, dass in unserem rationalen Zeitalter nicht etwa kognitive bzw. geistige Störungen im Vordergrund stehen, sondern Gemütsveränderungen wie die Depression zum postmodernen Störungsbild par exellence geworden sind. Im Leiden an der depressiven Leere drückt sich eine Sehnsucht aus, die weder mit Informationen noch mit Fiktionen zu stillen ist. Der technischen und virtuellen Welt, die letztlich empfindungslos ist, wird ein schmerzhaftes Bewusstsein um die eigene Gefühlseinschränkung entgegengesetzt. Der zeitgemässen Beschleunigung antwortet das depressive Geschehen mit einer Behinderung der Leistungsfähigkeit bzw. mit einer Verlangsamung vieler mentaler Funktionen, die zur Ausführung von Aufgaben nötig sind. Ist es angesichts dieser Situation überraschend, dass die depressive Not zum Hauptfeind einer auf Flexibilität und Mobilität setzenden Gesellschaft geworden ist? Kaum eine andere Störung trifft den Nerv unseres Zeitgeistes so schmerzlich wie die depressive Blockade. Sie behindert die immer rascher geforderte berufliche und private Anpassung und fordert den Einzelnen auf, einen Zwischenhalt einzuschalten.

Die Situation erinnert an eine bekannte afrikanische Fabel. Sie handelt von einem weissen Forscher, der seine afrikanischen Träger von Tag zu Tag mit zusätzlichen Lohnzahlungen antreibt, schneller zu gehen, um ihn rascher zu seinem Ziele zu führen. Am fünften Tag lassen sich jedoch die Träger nicht mehr zum Weitergehen bewegen. Nach dem Grund ihrer Verweigerung gefragt, geben sie zur Antwort: „Wir sind so schnell gegangen, dass wir nicht mehr recht wissen, was wir tun. Darum warten wir, bis unsere Seele uns eingeholt hat.“



[1] Die Weltgesundheitsbehörde bezeichnet seit 1991 als emotionale instabile Persönlichkeit vom Boderline Typus eine meist anhaltende Problematik mit emotionaler Instabilität und unklarem Selbstbild. „Die Neigung zu intensiven, aber unbeständigen Beziehungen kann zu wiederholten emotionalen Krisen führen mit Suiziddrohungen oder selbstschädigenden Handlungen.“ (WHO 1991)

 

Anmerkung

Eine vertiefte Auseinandersetzung und detaillierte Literaturangaben finden sich in D. Hell: „Seelenhunger – Der fühlende Mensch und die Wissenschaften vom Leben“, 2. Auflage, Huber Bern 2003.

 

 

 

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