Marktförmige Inszenierung und leibsozialisatorische Massnahmen (Friess, 2004)

Das Doppelgesicht der «International Christian Fellowship» ICF

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von Sonja Friess


Einleitung

Die ICF gibt sich als eine der erfolgreichsten Freikirchen der Schweiz. Mit ihren Mulitmedia-Gottesdiensten und ihrer Orientierung an der Jugendkultur zählt sie zu den «christlichen Trendgemeinden», die die Landeskirchen zunehmend unter Druck setzen und deren Zeitmässigkeit in Fragen stellen. ICF steht für «International Christian Fellowship». Mit dem Konzept einer «lebendigen Kirche» versucht sie, offen und trendig aufzutreten, und stösst damit vor allem bei Jugendlichen auf grosse Resonanz. Gleichzeitig handelt es sich bei der ICF um diejenige Gruppe, zu der infoSekta im letzten Jahr am meisten Anfragen bearbeitete. Besorgte Eltern berichten über eine zunehmende Entfremdung ihrer Kindern, die so schlecht zum medial vermittelten Bild einer «modernen Kirche» passt. Die ICF ist insofern Anlass dieser Tagung, weil diese Mischung zwischen vordergründiger Offenheit und verstecktem Fundamentalismus, die auf dem Erlebnismarkt so überzeugend erscheint, zum Denken anregt. Ich werde im Folgenden aufzeigen, weshalb diese Gemeinschaft trotz oder gerade wegen ihres funkelnden und attraktiven Äusseren als problematisch einzuordnen ist. Meine Darstellung wird sich in zwei Teile gliedern. Im ersten Teil werde ich einige Informationen zur Geschichte, Organisation und Ausrichtung der ICF vermitteln und im zweiten Teil auf den Aspekt der marktförmigen Inszenierung zu sprechen kommen. Mit ihrem trendigen Erscheinen erfüllt die ICF alle Anforderungen, um sich auf dem «Erlebnismarkt» behaupten und sich gegen konkurrierende Religionsanbieter durchsetzen zu können. Es wird sich allerdings zeigen, dass das moderne Auftreten und das Versprechen auf «Gotteserfahrungen» alleine nicht ausreichen, um den Erfolg der ICF zu erklären. Trotz ihres jugendkonformen Auftretens war auch die ICF von grosser Fluktuation betroffen und dazu gezwungen, Massnahmen zugunsten einer erhöhten Verbindlichkeit zu treffen. Ich werde zeigen, dass diese Massnahmen leibsozialisatorisch wirken. Durch sie erhalten die Gläubigen Anleitung zu einem «richtigen Empfinden» und zur «richtigen Gotteserfahrung» und verinnerlichen damit die Lehre im eigenen Empfinden. Die Beschränkungen der marktförmigen Inszenierung werden so durchbrochen und die Mitglieder in die Gemeinschaft sozialisiert. Anhand der beiden Elemente der marktförmigen «Inszenierung» und den leibsozialisatorischen Massnahmen lässt sich das Doppelgesicht der ICF zwischen Modernität und Fundamentalismus besonders pointiert aufzeigen. 

Die Organisation und Ausrichtung der ICF: 1. Geschichte und Grösse

Die ICF wurde im Jahre 1990 von Heinz Strupler als denominationsübergreifender Gottesdienst ins Leben gerufen. Sechs Jahre später übernahmen Leo Bigger und Matthias Bölsterli die Leitung und organisierten die ICF neu als feste Kirchgemeinde. Von Beginn an verfolgten Bigger und Bölsterli eine radikale Wachstumsstrategie, womit sich die ICF der von Amerika und der dritten Welt kommenden «Gemeindeaufbaubewegung» zuordnen lässt. Ihrer Lehre nach ist die ICF evangelikal ausgerichtet, integriert jedoch flexibel auch erfolgversprechende charismatische Elemente wie Geisttaufe oder die Gabenlehre, um auf möglichst viele Personen attraktiv zu wirken. Die Strategie zeitigt Erfolg: Derzeit veranstaltet die ICF in Zürich wöchentlich sechs Gottesdienste, die auf verschiedene Altersgruppen ausgerichtet sind und nach eigenen Angaben insgesamt von rund 2500 Menschen besucht werden. Seit kurzem hat sie ihren Sitz in einer Räumlichkeit im Maagareal am Zürcher Escher-Wyss-Platz, für die sie monatlich 50'000.- Franken Miete zahlt und für deren Umbau sie weitere drei Millionen Franken investierte. 

Die Organisation und Ausrichtung der ICF: 2. Organisation und Hierarchie

Die ICF ist als Verein eingetragen und in zehn Geschäftsbereichen organisiert. Drei Geschäftsbereiche umfassen Gottesdienstangebote und Freizeitaktivitäten für spezifische Altersgruppen: der «Chinderexpress» für Kinder bis zu zwölf Jahren, der «Youth Planet» für Jugendliche zwischen dreizehn und neunzehn Jahren und der «Zwänzger» für die Altersgruppe von zwanzig bis fünfundzwanzig Jahren. Besonders zu erwähnen ist auch der Geschäftsbereich «ICF unlimited», ein eigener Verein unter der Leitung der icf-zürich, der die Gründung von weiteren Gemeinden zum Ziel hat und unter anderem Pastoren-Schulungen anbietet. Die ICF verfügt derzeit über rund 25 Partnergemeinden in anderen Städten, die ebenfalls unter dem Namen ICF laufen, jedoch rechtlich eigenständig organisiert sind. Die Gesamtleitung, das generationsübergreifende Angebot wie bspw. die Seelsorge und der Hauptgottesdienst für alle Altersgruppen, der GenX, liegen in der Verantwortung von Leo Bigger und Matthias Bölsterli. Sie sind die treibende Kräfte der ICF und besitzen die definitive Entscheidungsbefugnis im siebenköpfigen Leitungsteam. Zusammen mit Bruno Bigger und Daniel Linder bilden sie den Vorstand der ICF, zu viert sind sie zudem die einzigen Vereinsmitglieder, die die ICF besitzt. Die Gottesdienstbesucher sind demgemäss formal keine Mitglieder der ICF und werden auch nicht als solche bezeichnet, was zu einigen sprachlichen Schwierigkeiten führt. Die ICF selbst spricht von «Personen, die sich der ICF zugehörig fühlen».

Finanziert wird die ICF über Spenden jener Sich-Zugehörig-Fühlenden, die den «Zehnten», das heisst zehn Prozent ihres Einkommens an die ICF abliefern. Für Sonderausgaben wie den Umbau im Maag-Areal werden zusätzliche Sammlungen gestartet und von den Gläubigen «Commitments» abverlangt, womit Zugeständnisse und Einschränkungen in der Lebensführung gemeint sind. Für den Umbau verzichteten bspw. einige Gläubige auf Alkohol und Fleisch, andere zogen in Wohngemeinschaften zusammen und übertrugen das so gesparte Geld der ICF, wie ein Ehemaliger berichtete. Nach eigenen Angaben gelang es der ICF, in nur rund neun Monaten mehr als eine Million Franken zu sammeln. Auch die Umbauarbeiten wurden hauptsächlich von den Gläubigen geleistet, denn wie die finanzielle Beteiligung ist auch das Engagement in der Gemeinde vorausgesetzt.

Die Organisation und Ausrichtung der ICF: 3. Gemeindeaufbau

Die Gläubigen sind nicht nur durch Aktivitäten der Gesamtkirche und die Teilnahme an den Gottesdiensten in die Kirchgemeinde eingebunden. Bereits unter Heinz Strupler begannen sich einige Gläubigen in kleinen Gruppen von rund zwölf Personen zusammenzuschliessen und im privaten Rahmen zu treffen, um religiöse und ethische Fragen zu diskutieren. Unter Leo Bigger und Matthias Bölsterli wurden diese eher lockeren, unverbindlichen Zusammenschlüsse institutionalisiert und zentralisiert. Der Ablauf und die Inhalte der Treffen wurden seit der Einführung des «Workshopsmodells» im Jahre 1996 zunehmend vorgeschrieben. Vorläufiger Abschluss dieser Entwicklung bildete die Reorganisation der Gemeinde im Jahre 2002. Vorbild dazu lieferte das «g/12-Modell» der kolumbianischen Gemeinde von César Castellanos, mit dem die Gemeindestruktur nochmals strikter gefasst und eine «Vereinheitlichung zu einer ganzen Kirche» vollzogen werden sollte.
Das Konzept des g/12-Modells wird vom Leben Jesu abgeleitet. Wie sich dieser Jünger suchte, um sie zu unterrichten und auszusenden, sei auch jeder ICFler dazu berufen, seinen Glauben zu vertiefen und das Gelernte weiterzuvermitteln. Dies vollzieht sich mittels der Bildung von sog. g/12-Gruppen, die von einer Mentorin bzw. einem Mentor geleitet rund zwölf Personen umfassen. Der Kern der Gemeinde bilden die geschlechtsspezifisch getrennten Gruppen um Leo Bigger und seiner Frau Susanne, in der Themen lanciert und Weisungen erlassen werden. Die Teilnehmenden bzw. Jünger dieser inneren Gruppen vermitteln daraufhin die Leitsätze in weitere g/12-Gruppen, die von Ihnen als Mentorinnen und Mentoren betreut werden und deren Jünger wiederum eigene Gruppen unterhalten. Die Lehre wird so sternförmig nach aussen getragen, bis dass die ganze Gemeinde dieselbe Schulung erhalten hat. Die Gläubigen nehmen damit jeweils an einer Gruppen als Jünger teil und sind zugleich dazu beauftragt, ihrerseits eine Gruppe zu gründen und zu betreuen. Die ICF bestärkt mit dem g/12-Modell ihr Engagement im Gemeindeaufbau und bindet die Gläubigen in eine Strategie ein, die in vier Punkten darlegt ist: 1. Gewinnen, 2. Festigen, 3. Trainieren und 4. Beauftragen. In vier Büchern mit entsprechenden Titeln erläutert die ICF die Punkte im einzelnen und leitet die Gläubigen mit konkreten Schritten zu deren Umsetzung an. Die g/12-Gruppen sollen der Unterstützung dienen Diskussionsforen sein, in denen die Einzelnen die Umsetzung der Glaubenssätze in ihrer Lebenspraxis besprechen. Schwierigkeiten und Probleme werden offengelegt und «actionssteps» definiert, mit denen die Ziele erreicht und Probleme überwunden werden sollten.

Die Organisation und Ausrichtung der ICF: 4. Glaubensinhalte

Ihrer evangelikalen Ausrichtung entsprechend gilt die Bibel in der ICF als inspiriertes Wort Gottes. Mit Hilfe des Heiligen Geists lasse sich die Bibel «entschlüsseln» und für alltägliche Fragestellungen nutzbar machen. Das Hören auf Gott wird damit zum zentralen Bestandteil der religiösen Erfahrung und Glaubensauslegung. Die ICF erhebt den Anspruch, die biblischen Aussagen prägnanter, klarer und schärfer zu formulieren als andere Kirchen und deren fundamentalen Positionen zu vermitteln. Es erstaunt daher wenig, dass die ICF ein streng dualistisches Weltbild vertritt, in dem das Leben mit Gott scharf vom sündigen Leben ohne Gott abgegrenzt wird. «Neutrale Zonen gibt es nicht in deinem Leben als Christ. Entweder beeinflusst dich Gott oder der Satan» (Bigger & Bölsterli, 2003b. 137). Durch die Bekehrung, so verspricht die ICF, entkomme man diesem bösen, von Satan beeinflussten Bereich und finde zu seiner wahren Identität. Besondere Aufmerksamkeit erhalten auch die von Gott verliehenen Gaben, zu deren Ermittlung die ICF eigens einen Gabentest einsetzt.

Die Organisation und Ausrichtung der ICF: 5. Problemfelder

Einige erwähnte Aspekte wären nun kritisch zu beleuchten und einige Fragen an die Verantwortlichen der ICF zu richten. Indem die ICF ihr vorrangiges Ziel im Gemeindeaufbau setzt, besteht die Gefahr, dass die Einzelnen diesem Bestreben untergeordnet werden. Wie ein Ehemaliger berichtet, entscheiden bspw. nicht die Interessen oder Gaben, sondern vor allem das Aussehen der Gläubigen darüber, wie sie in der Kirche eingesetzt werden. Menschen, die von den Leitenden als unvorteilhaft wirkend wahrgenommen werden, kämen kaum zu einem Auftritt in den Gottesdiensten.Des Weiteren führt die Vorstellung, dass die Umwelt von Satan beeinflusst wird und man sich von dieser hüten muss, viele Gläubige in die Isolation von der Aussenwelt. Der Kontakt zu nichtgläubigen Familienangehörigen und Freunden wird schwierig und der Ausstieg aus der ICF erschwert. Es ist zudem fraglich, ob die Spendentätigkeit und das Engagement in der Gemeinde wirklich auf Freiwilligkeit basieren. Indem in den Predigten gelegentlich darauf hingewiesen wird, dass «Gott alles sieht», wird ein subtiler Druck auf den Gläubigen ausgeübt. Nicht zuletzt wurde mit dem g/12-Modell ein zusätzliches Instrument der Einheit und Kontrolle eingeführt, das problematische Einbindungs- und Abhängigkeitsprozesse fördern und verstärken kann.

Die erwähnten Aspekte sind problematisch, insofern die ICF bis in das Empfinden der Menschen einzudringen vermag, ihren Ideen dort umfassende Gültigkeit erlangen und die Gläubigen vereinnahmen. Solche Eingriffe stehen aber in einem seltsamen Kontrast zum nachfrageorientierten Auftreten der ICF und zu der Integration erfolgversprechenden charismatischen Anteilen in der Lehre. Ich möchte nun auf diese sich vordergründig widersprechenden Punkte näher eingehen.

Das Doppelgesicht der ICF

Aus der einst kleinen Gottesdienstgemeinde ist in nur acht Jahren eine straff organisierte Kirchengemeinde geworden, die über ein Millionenbudget verfügt und weiterhin zu wachsen scheint. Wie ist dieser Erfolg zu erklären? Vieles spricht dafür, dass die Inszenierung und das Auftreten als moderne, trendige Kirche massgeblich dafür verantwortlich sind. Die Multimedia-Gottesdienste und das breite Freizeitangebot wie Surfen oder Snowboard-Lager sind den Ansprüchen Jugendlicher angepasst. Die ICF bietet den Gläubigen zudem die Gelegenheit, an den Gottesdiensten als Schauspielerinnen, als Musiker oder Sänger aufzutreten. Auch Menschen mit Erfahrung im Webdesign, in der Animation oder Kinderbetreuung kommen zum Einsatz. Kaum ein Trend, der in der ICF keine Ent?sprechung fände. Damit erfüllt die ICF alle Vorgaben einer Kirche in der Erlebnisgesellschaft.

Exkurs: Die Erlebnisgesellschaft

Die These der «Erlebnisgesellschaft» basiert auf der Annahme, dass der ökonomische und technische Wandel neue sozio-kulturelle Muster mit sich bringt. Das Individuum wird zunehmend aus traditionellen Orientierungsmustern freigesetzt. Es bieten sich ihm neue, sich konkurrierende Alternativen zur Wahl an.In dieser Situation entsteht eine neue Rationalität des Wählens und Handelns, die sich zunehmend am subjektiven Empfinden bzw. an der Aussicht orientiert, positive Erfahrungen zu machen und Spass zu haben. Der «Erlebnisnutzen» steht im Zentrum der Wahl. Auf der Suche nach dem ultimativen Erlebnis greift das Individuum auf einen Markt der Ästhetisierung und Inszenierung zurück, auf dem derjenige Anbieter zu überzeugen vermag, der sein Produkt am besten in Szene setzt und das Versprechen auf eine unvergleichliche Erfahrung authentisch vermittelt. Das Individuum konsumiert damit Sinn und Kultur vom Markt und unterwirft seine Lebensführung zunehmend den darin geltenden Standards.

Von den Veränderungen in den sozio-kulturellen Orientierungsmuster sind auch die Kirchen betroffen. Sie werden durch neue religiöse Anbieter konkurriert, die sich an der Nachfrage orientieren. Es entsteht ein Markt der Sinnsuche, wodurch sich religiöse Anbieter zwischen individualisierten Lebenswelten und den Marktanforderungen bewegen und die Inhalte und Zielperspektiven der Erlebnisgesellschaft übernehmen.Um die Gunst der Gläubigen werben sie mit dem Versprechen auf «Gotteserfahrung» und Zugang zu individuellen Gaben, ihre Attraktivität erhöhen sie mittels religiösen Inszenierungen und Events. Die Ausrichtung auf das Erleben und die Ueberhöhung des Individuums scheinen damit Einzug in das religiöse Milieu zu halten.>

Die Inszenierung und Ästhetisierung in der ICF

Auf vielerlei Arten bestätigt der Erfolg der ICF die These der Erlebnisgesellschaft. «Wir stehen Music Star in keiner Weise nach» war die provokante Aussage von Leo Bigger im Zischtigsclub vom 24. Februar 2004. Damit spricht er einerseits die Inszenierung als Event, andererseits aber auch professionellen Strategien der Vermarktung an. Dass sich die ICF an solchen Kriterien orientiert, zeigen sich bspw. an den aufwändigen gestalteten Gottesdienstflyers oder an dem für Werbezwecke produzierten DVD «Church for a New Generation: exciting, inspiring and moving», in dem die ICF zehn Minuten lang äusserst professionell angepriesen wird. Die Gottesdienste entsprechen den Anforderungen eines Events. Mit Musik, Theatereinlagen und Erlebnisberichten wird für Abwechslung gesorgt und die Zuschauer werden zum Mitsingen, Mittanzen und Mitlachen angehalten. Auf der Bühne wird locker agiert und gescherzt, so dass man nicht umhin kommt, die Exponenten sympathisch zu finden. Die Predigt ist kurz und eingänglich. Lässt man sich auf Gott ein, dann findet man Glück und Sinn im Leben, so die Botschaft. Erfahren könne man dies unmittelbar, indem man an der Gemeinschaft teilhabe. Im Mittelpunkt der Show steht damit die Gotteserfahrung, die die Authentizität der Botschaft bestätigen soll. Gefördert werden sie durch die Inszenierung emotionaler Zustände wie Ekstasen und Ergriffenheit. So kommt es schon mal vor, dass Leo Bigger begleitet von mystischen Keybordklängen auf die Knie sinkt und zu einer «Prophezeiung» anhebt. Bei meinem letzten Gottesdienstbesuch richtete er sie an eine Person im Publikum, die angeblich die ICF an jenem Tag zum ersten Mal besuchte und mit Ängste und Zweifel kämpfte. Wenn sie jedoch – so der Rat von Leo Bigger - ganz auf sich selbst höre, würde auch sie zu Gott finden, nach dem sie sich eigentlich sehne. Solche direkten Ansprachen wirken beeindruckend und werden von vielen Gottesdienstbesuchenden als ein Zeichen für das Wirken des Heiligen Geistes erfahren.

Das professionelle Auftreten der Pastorinnen und Pastoren ist das Resultat einer sorgfältigen rhetorischen Schulung. Eine solche erhalten bereits auch die Teilnehmenden einer g/12-Gruppe. So ist bspw. die Selbstverständlichkeit, mit der über die Bekehrung gesprochen wird, sorgfältig eingeübt. In einem kurzen Statement wird das Leben vor der Bekehrung klar vom neuen «Leben mit Gott» abgegrenzt. Dieses so genannte «Zwei-Minuten-Zeugnis» ist Teil der g/12-Strategie und soll dazu dienen, weitere Gläubige zu gewinnen. Das Zeugnis wird von jedem Gläubigen vorbereitet und auswendig lernt, um es jederzeit vortragen zu können.

Was unterscheidet nun den Gottesdienst der ICF von einem professionellen Event? Ist der Gottesdienst eine Art «Music Star», durch den marktförmige religiöse Erfahrungen ermöglicht werden und der Glauben in moderner Form präsentiert wird, wie uns Leo Bigger weiszumachen versucht? Die These der Erlebnisgesellschaft wird selbst von der ICF gerne bestätigt: die Menschen finden aus eigenem Antrieb zur ICF und erfahren dort an eigenem Leibe, wie es ist, mit Gott zu leben. Natürlich haben sie dann auch keinen Grund mehr, die ICF zu verlassen oder an den vermittelten Inhalten zu zweifeln. Die von der ICF gebotenen «Gotteserfahrungen» waren allerdings doch nicht ganz ausreichend, um die Gläubigen in der ICF zu halten. War die erste Begeisterung verpufft, distanzierten sich vielen Gläubige wieder von der ICF. Mit der Einführung des g/12 Modells versuchte die ICF, dieser Tendenz entgegenzuwirken. Denn letztlich hat die ICF eine klare Vorstellung davon, wie Gott zu erfahren ist und welches Fühlen, Denken und Handeln einer solchen Erfahrung folgen. Die Gotteserfahrung ist damit nicht dem Einzelnen überlassen. Es lohnt sich hier, die Perspektive zu wechseln und einen Blick auf das Erleben der Personen zu werfen. Wie kann Gott eigentlich «erlebt» werden?

Exkurs: Das leiblich-affektive Empfinden

In einer phänomenologischen Perspektive, wie sie bspw. von Gugutzer (2001; 2002) vertreten wird, kann das «Gotteserlebnis» als leiblich-affektive Empfindung beschreiben werden. In solchen Empfindungen vereinigen sich affektive Momente mit bestimmten körperlichen Zuständen und Wahrnehmungen. Solche Erfahrungen sind für Menschen von zentraler Bedeutung, weil sie durch sie Wissen darüber erhalten, was wirklich ist. Denn erst durch die Erfahrung wird die Welt zur Gewissheit, zum tatsächlich Existierenden. Die leiblich-affektiven Empfindungen sind jedoch zugleich abhängig von Wissensbeständen. Um einen Lufthauch als solchen zu identifizieren und ihn von anderen Berührungen abzugrenzen, ist ein Ahnung davon nötig, wie sich ein Lufthauch anfühlt. Leiblich-affektive Empfindungen sind nicht möglich, ohne über kulturelle Wissensbestände zu verfügen, gleichzeitig machen sie diese Wissensbestände als Erfahrungen evident. Dies gilt auch für religiöse Erfahrungen. Sie vermitteln dem Menschen Gewissheit von der Existenz eines Nicht-Alltäglichen, eines Heiligen und Allmächtigen und setzen den Menschen mit dieser Wirklichkeit in Verbindung. Das dabei aufkommende Gefühl wird oft als feierlich, zärtlich, überwältigend, absolut und alles umfassend bezeichnet. Es handelt sich um ein ozeanischen Weitegefühl, indem sich das Individuum verliert und gleichzeitig selbst bewusst wird.

Die Gotteserfahrung ist aber ebenfalls von bestimmten Wissensbeständen geprägt, mit deren Hilfe der erfahrende Mensch bestimmte Empfindung als «Gotteserfahrung» typisiert. Der Kontext spielt dabei eine zentrale Rolle, indem Situationen definiert werden, in denen «Gotteserfahrungen» möglich sind und solche, in denen sie unpassend sind, bzw. unmöglich auftreten können.
Ähnliche Empfindungen werden damit je nach Situation anderes gedeutet.

Um Gott zu erleben, braucht es also Wissen darüber, wie sich Gott anfühlt und in welchen Situation ein solches Gefühl eintreten kann. Aus den Aussagen und Schriften der ICF lassen sich nun klare Vorstellungen herleiten, wie sich Gott erfahren lässt und welche Wirkungen eine solche Erfahrung nach sich zieht. Solche Vorstellungen werden den Gläubigen in den g/12 Gruppen vermittelt und gestützt von der Gruppe ins leibliche Empfinden zu übersetzen versucht. Ist die Lehre erst verinnerlicht, wird sie durch die Erfahrung evident und zur sinnlichen Gewissheit. Die Richtigkeit der Lehre wird durch das eigene Erleben bestätigt. Eine solche Schulung kann nach Gugutzer (2002) als «Leibsozialisation» bezeichnet werden, mit der die These der Erlebnisgesellschaft kritisch ergänzt werden soll. Ich werde im Folgenden darlegen, welche Erfahrungen die ICF den Gläubigen verspricht und wie die Normen des richtigen Empfindens vermittelt werden. 

Versprechen und leibsozialisatorische Massnahmen

Vorrangiges Ziel der ICF ist es, Menschen in eine Beziehung zu Gott zu führen. Demnach kommt die Gotteserfahrung häufig zur Sprache und ist meist mit dem Zusatz «krass» oder «brutal» kommentiert. Nach Bigger und Bölsterli (2003b) ist Gott pure Liebe, die jedem offensteht, der sich entschliesst, diese anzunehmen und zu erwidern.  Und weiter: «Durch deine Entscheidung für Jesus bist du in eine persönliche Beziehung zu Gott getreten. Du hast dadurch anerkannt, dass du Jesus als deinen Erlöser brauchst. In deinem Leben ohne Jesus hast du selber auf dem Thron deines Lebens gesessen. Jesus möchte aber sowohl dein Erlöser als auch dein Herr sein. Dies bedeutet, dass er in all deinen Lebensbereichen die erste Stelle einnehmen und dein ganzes Leben führen möchte» (ebd, 19). Es zeichnet sich damit ab, dass das Versprechen eines mit Liebe überfluteten Lebens eng mit der Verpflichtung zur Unterordnung und mit der Übernahme einer «richtigen» Einstellung verbunden ist.

Welche «Gotteserfahrungen» verspricht die ICF nun den Gläubigen und welche Folgen haben diese Erfahrungen deren Leben? Gemäss der ICF verändert die Beziehung zu Gott das Leben der Bekehrenden um 180 Grad. Die Sünde habe Gewalt über den Menschen verloren und man erhalte Erlösung von allen Verfehlungen. Die ICF verspricht, dass der Heilige Geist von den Gläubigen Besitz nimmt, ihnen Liebe, Freude, Weisheit, Hoffnung und inneren Frieden schenkt und sie mit der unnatürlichen Kraft Gottes erfüllt. Diese zeige sich dem Einzelnen insbesondere darin, dass er «mit Vollmacht und Autorität beten kann, so dass konkrete Auswirkungen erlebt werden» (ebd., 23). Mit Beten oder in hartnäckigen Fällen auch Fasten können gemäss Bigger und Bölsterli (2003a) Leute bekehrt oder gar von Krankheiten geheilt werden.Dass dem so ist und dass Menschen dies auch tatsächlich erleben, bestätigen Erlebnisberichte während der Gottesdienste. Bei meinem Gottesdienstbesuch bezeugten zwei Personen solche Erlebnisse. Das Versprechen ist damit nicht bloss eine Metapher, sondern eine erlebbare Wirklichkeit. In einem gewissen Sinne handelt es sich dabei um das Versprechen der Allmacht. Denn Gott sei unlimitiert und wer glaube, dem gelänge alles.

Die Inbesitznahme durch den Heiligen Geist ist gemäss der ICF mit bestimmten Haltungen und Handlungen im Leben verbunden:

•            Auf Gott hören, um das Richtige zu entscheiden.

•            Das Herz prüfen und beichten, um weiterhin mit Gott in Kontakt zu bleiben.

•            Zeit für die Kirche investieren, um Jesus zu dienen.

•            An einer g/12-Gruppe teilnehmen, um den Glauben zu trainieren.

            Den Zehnten abgeben, um es Gott gleichzutun, der alles schenkt.

            Mission betreiben, um Menschen zu erretten.

Werden diese Anleitungen nicht umgesetzt, kann dies als Zeichen für die Abwesenheit von Gott verstanden werden. Denn die Gläubigen sollten durch Gefühle wie Liebe, Dankbarkeit, Sehnsucht nach Gott und dem Streben nach Weiterentwicklung geleitet werden. Mit der Definition von solchen «richtigen» Empfindungen legitimiert die ICF zahlreiche Forderungen, die mehr als fraglich sind.

Wie begründet es die ICF nun, wenn trotz der übernatürlichen Kraft des Heiligen Geistes diese Aufgaben zur Belastung werden? Wenn sich trotz allen Bemühungen keine Glücksempfindung einstellen will? «Wenn du Jesus um Vergebung gebeten hast und doch keinen inneren Frieden findest, ist es vielleicht nötig, dass du etwas in Ordnung bringen musst» (ebd. 20). Unzufriedenheit, Zweifel und Misserfolg werden damit auf eine angebliche Unzulänglichkeit und eine falsche Haltung der Gläubigen abgeschoben. Diese steht gemäss der ICF im direkten Zusammenhang mit dem Wirken böser Mächte, indem sie deren Wirken ermöglicht, bzw. bereits eine Inbesitznahme durch solche anzeigt. Die ICF definiert verschiedene Wirkungsbereiche und Einfallstore:

            «aktiv: Sünden (z.B. Lügen, Hass, Ehebruch...), okkulte Praktiken, Gegenstände

            passiv: Weihung, Fluch, Vererbung, Missbrauch,traumatische Erlebnisse

            Emotionen (Angst, Eifersucht, Unvergebenheit...)

            Gedanken (Zweifel, Unglaube, Kompromisse...)

            Zunge (Lügen, Gotteslästerung...)

            Sex (Ehebruch, Pornographie, Homosexualität...)

            Sucht (Alkohol, Drogen, Essen...)

            Körper (verschiedene Krankheiten & Gebrechen).»

            (ICF, 2003b)

Was kann nun der Gläubige tun, um sich vor solchen negativen Impulsen, Gedanken und Praktiken zu bewahren? Das Kapitel «Wie überwinde ich die Feinde meines neuen Lebens?» im Buches «g/12. Festige» gibt Antwort:

            «Sei radikal und kompromisslos in deinem Leben als Christ!

            Pflege jeden Tag die Beziehung mit Gott!

            Umgib dich mit guten Freunden!

            Achte auf deine Augen!

            Achte auf deinen Mund!

            Überwinde im Namen Jesu!»

            (Bigger & Bölsterli, 2003b, 97-99)

Mit solchen Anweisungen benennt und kategorisiert die ICF klar zulässige und unzulässige Empfindungen und betreibt damit Leibsozialisation, wie sie oben beschrieben wurde. Sie lenkt die Wahrnehmung und Aufmerksamkeit und greift tief in die Lebenswelt der Gläubigen ein. Durch die Kontrolle über Augen und Mund soll das Böse zwar ausgeblendet werden, gerät aber gerade dadurch dauernd in den Fokus der Erfahrung. Satan wird zu einer steten Bedrohung, wodurch das dualistische Weltbild der ICF umfassende Gültigkeit im Leben der Gläubigen erhält. Die mögliche Erfahrung der Allmacht ist durchbrochen von der möglichen Inbesitznahme durch Satan: Alles was gelingt, ist gottgewollt und in der Gemeinschaft verankert. Alles was misslingt, wird individualisiert. Eine solche Leibsozialisation kann bei den Gläubigen schwere Ängsten und Schuldgefühle auslösen.

Die «richtige» Haltung dient auch der Hierarchisierung der Gemeinde. So legitimiert sich das Leitungsteam der ICF durch besondere Gaben und einen besonderen Zugang zu Gott. Die g/12-Gruppen bilden im Folgenden einen guten Rahmen, um die Rangordnung zu etablieren und die Lehre in den Empfindungen der Gläubigen zu verankern. Indem sich die Einzelnen in den Gruppen öffnen und ihre Probleme darlegen, entsteht eine diffuse Mischung zwischen Empathie, freundschaftlichem Vertrauen und sozialer Kontrolle. Besonders heftige Verstösse werden nach oben weiter gemeldet und haben Gespräche mit höher gestellten Verantwortlichen zur Folge.

Schlussworte

Ich habe in meinem Beitrag die Inszenierung und Äesthetisierung in der ICF thematisiert und diese Aspekte um die leiblich-affektive Empfindungen ergänzt. Obschon die ICF vordergründig durch ihr trendiges Auftreten und mit dem Versprechen auf «Gotteserfahrung» zu überzeugen versucht, vollziehen sich im Hintergrund subtile Prozesse, mit denen die Menschen in die Gemeinschaft eingebunden werden. Die ICF überlässt die religiöse Erfahrung nicht dem Einzelnen. Mittels den g/12-Gruppen und einem dualen Weltbild wird versucht, den Mitgliedern ein Leben «wie Gott es will» näher zu bringen. Damit lässt sich das Doppelgesicht der ICF besonders gut aufzeigen: mit der marktförmigen Inszenierung versucht sie, junge Menschen zu gewinnen, deren Wahrnehmungen und Empfindungen im weiteren sorgfältig geschult werden. Leibsozialisatorische Massnahmen sind diffuse Prozesse. Die Verinnerlichung von der Lehren geht einher mit der Erfahrungen von deren Richtigkeit, wodurch sich die Lehre legitimiert. Damit geht allerdings vergessen, dass es sich um eine ursprünglich von der ICF konstituierte Realität handelt. Schuld und Scham werden in den Gläubigen festgesetzt und in deren leiblichen Empfindungen eingeschrieben. Allerdings verfügen die Menschen bereits über Lebenerfahrungen, wenn sie in die Welt der ICF eintreten. Leiblich-affektive Umerziehung funktioniert nur innerhalb bestimmter Grenzen und braucht eine gewisse Bereitschaft von Seiten der Gläubigen.  Genauso wie leibliche Empfindungen Gewissheit über die Richtigkeit des Weltbildes vermitteln, können sie auch zur Gewissheit führen, dass dieses eben doch nicht zutrifft. So machen die Menschen vielfältige und einander widersprechende Erfahrungen in ihren Leben. Dennoch plädiere ich dafür, dass die ICF ihre Verantwortung verstärkt wahrnimmt. Leibsozialisatorische Massnahmen sollten reflektiert und kritisch hinterfragt werden. Vielleicht gelänge es so, Menschen vor sehr schmerzhaften Erfahrungen zu bewahren. 

 

Bibliographie

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Bigger, Leo & Hack, Kerstin (2001): Nr. 1. Entdecke, wer du bist – finde deinen Platz. Zürich: icf-media store.

Friess, Sonja (2003a): Darstellung und Stellungnahme zur «International Christian Fellowship» ICF. Zürich: infoSekta. (Der Beitrag ist Teil der Dokumentationsmappe der infoSekta zur ICF)

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 Gugutzer, Robert (2001): Grenzerfahrungen. Zur Bedeutung von Leib und Körper für die personale Identität. Psychologie & Gesellschaftskritik, 97 (1), 69-102.

Gugutzer, Robert (2002): Der Leib, die Nonne und der Mönch. Zur leiblich-affektiven Konstruktion religiöser Wirklichkeit. In: Hahn, Kornelia & Meuser, Michael (Hg.). Körperrepräsentationen. Die Ordnung des Sozialen und der Körper. Konstanz: UVK.

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SFDRS. «Trendy und fromm: Junge suchen Gott». Zischtigsclub zum Thema vom 24. Februar 2004.

 

 

Sonja Friess

lic.phil; Sozialarbeiterin und Religionswissenschaftlerin; ehemalige Mitarbeiterin von infoSekta/Fachstelle für Sektenfragen.

 

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