Strategien gegen den Weltverschwörungswahn (Petri, 1999)

Die sogenannten «Weltverschwörungstheorien» erleben zur Zeit eine Renaissance. In ihnen mischen sich esoterische und politische Ideen, die der Feindbestimmung dienen. Sie transportieren oft rassistische, antisemitische und negationistische Inhalte und erinnern stark an (vor-)nationalsozialistische und totalitäre Ideologien. Ohne Aufklärung über die Hintergründe, Wirkungsweisen und möglichen Folgen dieser wahnhaften Geschichtsbilder setzen sich solche Mythen leicht in den Köpfen der Menschen fest.

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von Franko Petri


Einleitung

Weltverschwörungstheorien sind meist von einer stark irrationalen und mythischen Denkweise geprägt. Politische Verhältnisse und deren Regelung werden nicht aus sozio-ökonomischen Fakten abgeleitet, sondern aus mythischen, angeblich göttlichen oder biologistisch-rassistischen Lebenszusammenhängen, die als überzeitliche Prinzipien für den Lauf der Welt bestimmend seien. Grundbausteine dieses Denkens sind völkisch-nationale, pseudoreligiöse und rassistisch-chauvinistische Kategorien. Ein stereotypes Freund-Feind-Denken liegt dieser esoterischen Geschichtsinterpretation kategorisch zugrunde. Man könnte hier von einer «politischen Esoterik» sprechen, die, wenn deren Vertreter an die Macht kommen, zur esoterischen Politik mutiert.
Von der Französischen Revolution bis zur russischen Oktoberrevolution 1917 waren es vor allem Klerikale, Monarchietreue, rechtskonservative und völkische Gruppen, die behaupteten, dass Juden, Freimaurer und Bolschewiken an einem geheimen Plan zur Übernahme der Weltherrschaft arbeiten würden. Deren «Bibel», die Protokolle der Weisen von Zion, gelten bis heute als das meistgelesene Buch nach der Bibel. Sowohl für die stalinistische Terrorherrschaft in der Sowjetunion als auch für die deutschen Nationalsozialisten war der Verschwörungsmythos essentiell zur Erringung und Erhaltung der Macht. Nach 1945 tauchten die Protokolle vor allem in arabischen Staaten auf und avancierten zur ideologischen Kampfschrift gegen den neuen Staat Israel. Der rassistische Antisemitismus wandelte sich zum politischen Antizionismus, der sich heute auch in vielen europäischen und amerikanischen «Verschwörungstheorien» wiederfindet - von esoterischen Okkultautoren bis hin zu gewaltbereiten Milizionären in den USA.

Enttäuschte Esoteriker suchen Sündenböcke

Besonders seit dem Fall des Eisernen Vorhangs haben «Verschwörungstheorien» in Europa und in den USA heute wieder Hochkonjunktur und bilden einen eigenen Bereich der Esoterik. Als sich das Feindbild des Kommunismus auflöste, tauchten alte Sündenböcke wieder aus der Mottenkiste der Geschichte auf.
Während Neuheidentum, neogermanischer Runenkult, Okkultismus und magische Praktiken auf kleinere Kreise beschränkt bleiben, ist der sogenannte «Konspirationismus», der Glaube an eine überzeitliche Macht, die die Geschicke der Welt lenkt, von grosser politischer Relevanz, weil nicht zu hinterfragende Behauptungen mit politischen Forderungen verknüpft werden. In der Schweiz, in Österreich und in Deutschland haben esoterische Buchhandlungen längst eigene Abteilungen für Anhänger von Verschwörungstheorien eingerichtet. Auf Esoterik-Messen findet man die einschlägigen Bücher oft gleich neben neuheidnischer Runenmagie und okkulten Werken. In den jüngsten «Verschwörungstheorien» kommt manchmal die Enttäuschung zum Ausdruck, dass das versprochene «Goldene Zeitalter», das «New Age», nicht eingetreten ist. Daran muss doch jemand schuld sein! Während manche Verschwörungsautoren in Juden, Freimaurern und anderen mehr oder weniger geheimen Gesellschaften die Sündenböcke sehen, orten sie andere in okkulten Mächten oder ausserirdischen Wesen. Kritik an der Machtkonzentration multinationaler Konzerne wird mit religiöser Science-Fiction, altbekannten Rassentheorien und ewiggestrigen Geschichtsklitterungen verknüpft. Besonderen Auftrieb bekommt dieses Denken durch die Weltuntergangsprophezeiungen zur Jahrtausendwende. Endzeitsekten propagieren die Ankunft des Antichristen samt seinen Verbündeten und rufen zum kollektiven Selbstmord auf.

Alte und neue Sündenböcke: Juden, Freimaurer und Ausserirdische

Der Verschwörungwahn weitet sich manchmal zu wahrhaft kosmischen Ausmassen aus und geht weit über die verquere Geschichtsklitterung rechtsextremer Negationisten hinaus. In der rechtsextremen Verschwörungsliteratur wird der Nationalsozialismus als fehlgeschlagener Versuch gedeutet, die «jüdisch-freimaurerisch-bolschewistische Weltverschwörung» zu bezwingen. Die Leugnung, Verharmlosung oder Relativierung des industriellen Massenmordes an den europäischen Juden wird in einen phantastischen Kontext eingebettet, der die absurden Argumente NS-naher Autoren glaubhaft machen will. So wird die Geschichte des 20. Jahrhunderts einfach umgeschrieben und die gesamte Evolution gleich mit. In dieser Diktion sollen vor 50'000 Jahren Ausserirdische durch genetische Manipulation die Menschen geschaffen haben, die ihnen beim Bergbau als Sklaven helfen sollten. Die Verschwörungstheoretiker behaupten, dass seither ganze Legionen von Aliens auf unserem Planeten gelandet seien. Auch heute noch sollen sie zu Millionen unter uns leben und Politik, Wirtschaft und Technik kontrollieren. Seit Ende des letzten Weltkrieges mehrten sich die Behauptungen unheimlicher Begegnungen der dritten Art. Während die einen behaupten, von den Aliens entführt und sexuell missbraucht worden zu sein, schwärmen die anderen von einer riesigen Verschwörung der US-Regierung, die angeblich abgestürzte UFOs samt deren Insassen in unterirdischen Basen versteckt hält. CIA, Vatikan, Club of Rome, die Bilderberger, Illuminati, Templer und die Freimaurer, hinter denen wiederum die Juden stecken sollen, würden nun die Technik der Aliens zur Manipulation und Kontrolle der Menschheit nutzen. Mikrowellenstrahlung, Strichcode-Botschaften, «künstliche» Krankheiten wie AIDS dienen ihnen als Mittel zur Errichtung einer NWO, einer neuen Weltordnung. Die geheimnisvollen «schwarzen Männer» mit ihren «schwarzen Hubschraubern» leben in parallelen Welten, die wir nicht wahrnehmen können. Sie seien die Sturmtruppen des ZOG, des «Zionist Occupied Government». Sie verständigen sich durch geheime Nachrichten, die in bestimmten Symbolen wie auf dem Dollarschein, in den Logos internationaler Organisationen und durch subliminale Blitzbefehle in Werbespots enthalten sind. UFO-Entführte und Weltraum-Fans gründen Alien-Sekten, denen tausende Anhänger folgen - in der Hoffnung, eines Tages im Raumschiff oder per Energieübertragung in eine bessere Welt gebeamt zu werden. Massenselbstmorde wie bei den Sonnentemplern sind die Folge. Während die guten, weissen Aliens der Menschheit Glück und Liebe bringen und uns vor der Naturzerstörung und der atomaren Gefahr warnen wollen, arbeiten angeblich die kleinen grauen Männchen - die «Greys» - mit den mächtigen Verschwörern zusammen.

Jan van Helsing: Science-Fiction mit politischem Anspruch

Einer der bekanntesten Autoren dieses Genres ist der erst 32jährige Jan van Helsing, der mit richtigem Namen Jan Udo Holey heisst. Der Deutsche verkaufte allein von seinem ersten Buch Geheimgesellschaften, das 1993 erschien, über 100.000 Exemplare und sicherte sich einen Ehrenplatz in den okkulten Bestseller-Charts. Seine Bücher wurden auch in englischer und französischer Sprache aufgelegt. Van Helsing schreibt die teuflische Weltverschwörung den «khasarischen» Juden «türkisch-hunnischer Abstammung» und ihren geheimen Verbündeten (Trilaterale Kommission, Council on Foreign Relations, Bilderberger usw.) zu. Er hofft auf die «reichsdeutsche UFO-Flotte», die von den Nazis bei Kriegsende in die Antarktis und nach Südamerika gebracht worden sein soll. In der hohlen Welt unter den Polen und im unterirdischen Himalaya-Reich Agarthi planen jetzt die blonden und blauäugigen Arier-Aliens zusammen mit den «Reichsdeutschen» den Endschlag gegen die bösen Verschwörer, die mit den «grauen» Aliens verbündet sind. Ihr Ziel ist das neue Lichtreich auf Erden, im «Land des Mitternachtsberges» - in Deutschland. Helsing behauptet auch, dass das Judentum 1933 Deutschland den Krieg erklärt hat und die Polen 56.000 Deutsche ermordet hätten, weshalb Hitler 1939 in Polen einmarschierte. Ein Jude sei am Holocaust mit schuld, weil er das Gas für die Konzentrationslager produzierte, das damals der heutige Papst Johannes Paul II. an die Nazis geliefert haben soll. Helsing behauptet dabei, dass die heutigen Juden zumeist gar keine sind, sondern Khasaren aus Zentralasien. So macht er die Juden zu Nichtjuden und versucht, sich so vor dem Vorwurf des Antisemitismus zu schützen.

«Verschwörungstheorien» passen immer und überall

Bei den Weltverschwörungstheorien geht es nicht um tatsächliche Komplotte in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, mit deren Hilfe Veränderungen herbeigeführt oder Machtverhältnisse verschoben wurden. Das Verschwörungsdenken ist absolut und lässt keine Kritik zu, denn jeder Widerspruch zu den Behauptungen wird systemimmanent als Teil der Verschwörung interpretiert. Man muss zwischen denen unterscheiden, die Weltverschwörungstheorien aus politischem Kalkül (Sündenbockstrategie) in die Welt setzen und jenen, die deren Schriften Glauben schenken. Es sind keineswegs nur pathologische Spinner oder fanatische Paranoiker, die an diese Wahnideen glauben. Oft findet man unter den Anhängern von solchen «Theorien» besonders kritische Menschen, die sich Gedanken über Geschichte und politische Zusammenhänge machen. Verschwörungstheoretiker schreiben gerne voneinander ab und benutzen Quellen, die auch 200 Jahre alt sind. Wer einige dieser Bücher liest, kann tatsächlich den Eindruck gewinnen, dass eine Weltverschwörung existiert, weil so viele Autoren immer wieder die - im entsprechenen historischem Kontext und Zeitgeist gekleidete - gleiche Behauptungen aufstellten. «Verschwörungstheorien» sind so wandelbar, dass sie auf die behaupteten jüdischen Zusammenhänge hinter der Französische Revolution genauso passen wie auf angebliche ausserirdische Ursachen des Golfkriegs 1991.

Wirkungen und Funktionen des Konspirationismus

Weltverschwörungsmythen sind komplexe psychologisch-politisch-soziale Denkstrukturen, die auf dem Freund-Feind-Schema basieren, sie dienen als politisch-ideologisches Instrument für gesellschaftliche Gruppierungen, die die Macht behalten oder erringen wollen. Anfangs wird eine Weltverschwörung behauptet, die von bestimmten Feinden organisiert wird. Diese höchst unterschiedlichen Feinde werden mit Hilfe der «Verschwörungstheorie» zu einer einheitlichen Feindgruppe vereint, gegen die dann mit einer Gegenverschwörung vorgegangen werden soll. Das Ziel ist die absolute Macht der Gegenverschwörer und die Vernichtung der Verschwörung und ihrer Träger. Der deutsche Politologe Armin Pfahl-Traughber (1993) hat Ansätze zu einer Theorie über die Wirkung der Weltverschwörungsmythen entwickelt. Er zeigt auf, dass diese Mythen meist in Krisen- oder Umbruchszeiten entstehen, wenn alte Konfliktlinien sich auflösen, entwickeln sich neue. Verschwörungstheoretiker denken in einer Welt aus schwarz-weissen Feinbildern, Freunde und Feinde sollen klar unterscheidbar sein. Die Weltgeschichte wird zum manichäischen Kampf zwischen Gutem und Bösem. Durch gezielte Desinformation werden die Menschen manipuliert und für die Notwendigkeit einer starken Hand gegen die übermächtigen Verschwörer überzeugt. Immer wieder beschwören die modernen Paranoiker die Demokratie, die sie aber gleichzeitig als Produkt der Verschwörung verdammen. Sie beanspruchen Werte und Ziele der Freiheit und der Demokratie und wollen deren Gegenteil. Politik vermischt sich hier mit Religion zu einem sinnstiftenden Amalgam der Welterklärung.
Verschwörungstheoretiker können mit einem Koch verglichen werden, der Kraut und Rüben vermischt, um daraus ein Käsefondue zu machen. Manche arbeiten dabei mit Tricks, andere überzeugen durch ihre wissenschaftliche Form. Doch allen ist eines gemeinsam - die Unlogik ihrer Argumente. Feindbilder, die gar keine sind oder die sich sogar gegenseitig widersprechen, werden als einheitlicher Block dargestellt. Historische Fakten werden verschwiegen oder umgedreht. Einerseits wird eine perfekte Verschwörung behauptet, andererseits sei sie angeblich mit simplen Mitteln von den vorgeblichen «Aufklärern» zu durchschauen. Magische Kräfte und ausserirdische Wesen müssen herhalten, wenn Unvereinbares vereint werden soll. Millionen Verschwörer - so wird unterstellt - ziehen an einem gemeinsamen Strang. Doch jeder weiss, wie schwer es ist, selbst in einer Familie zu einer gemeinsamen Meinung zu kommen.

Renaissance des Verschwörungsdenkens

Der Einfluss vor allem rechtsextremer Verschwörungstheorien auf die esoterisch-okkultistisch interessierte Leserschaft wird immer grösser und dringt in viele Bereiche des ehemaligen New Age ein. So wird die Esoterik zum bedeutendsten Einfallstor für rechtsextreme Ideologien für weite Kreise der Bevölkerung. Verschwörungsmythen werden weithin bekannt, was weder Skinheads, Neonazis, Negationisten und neuheidnische Runenkundler mit ihren Anschauungen erreichen. Heute ist der Mythos von der «jüdischen Weltverschwörung» im deutschen Sprachraum seit dem Ende des Kalten Krieges so präsent wie noch nie seit 1945. Manche Parallelen zu den Entwicklungen der Zwischenkriegszeit, als eine alte Ordnung zusammenbrach und eine neue sich noch nicht etabliert hatte, sind deutlich. Der Pluralismus unserer heutigen gesellschaftlichen Realität und die politischen Entscheidungsprozesse sind unüberschaubar geworden - für die meisten Bürger nicht mehr einsehbar. Viele fühlen sich verloren in einer Welt, die sie nicht mehr verstehen können, ja die die meisten nicht einmal mehr ansatzweise durchschauen.
Herablassende Belehrungen gegenüber den «dümmlichen Irrationalisten», wie sie gelegentlich von verstaubten Lehrstühlen herab oder von dogmatischen Intellektuellen geübt werden, sind wirkungslos, ja kontraproduktiv. Die Verführungskraft der Weltverschwörungsmythen muss verstanden, ja auch gefühlsmässig erfasst werden. Erst dann kann eine Aufklärungsarbeit beginnen, die die Menschen anspricht und sie die Abstrusität, aber auch die politischen Absichten dahinter erkennen lässt.

Strategien gegen den Weltverschwörungsglauben

«Verschwörungstheorien» sind eine Herausforderung für Demokratie, Vernunft, Menschlichkeit und Toleranz. Ihre Abstrusität bewahrt viele Menschen nicht davor, an sie zu glauben; im Gegenteil gerade weil sie so absurd sind, werden sie geglaubt. Sie bestechen durch ihre scheinbare Logik, und genau darin liegt ihr Widersinn. Daher ist es notwendig, zuallererst die innere Unlogik dieser Mythen zu enthüllen. Das kann zwar mit entsprechendem historischen Vorwissen für die meisten dieser modernen Mythen en bloc geschehen, nicht jedoch für den Einzelnen, der von einer Weltverschwörung überzeugt ist. Er glaubt ja, dass gerade seine «Verschwörungstheorie» die richtige ist und dass sie gar keine ist, sondern eben Realität.

Polizei und Justiz

Selbstverständlich muss es ein Strafrecht geben, um die schlimmsten Auswüchse der Verschwörungsesoterik, der Verführung von Menschen und gefährlichen politischen Strömungen zu bekämpfen. Es braucht wirkungsvolle Verbote von Tatbeständen wie Volksverhetzung, Rassismus, Antisemitismus und rechtsextreme Propaganda und Negationismus, wie er vor allem bei den Weltverschwörungstheorien zu finden ist. Diese Bedrohungen der Demokratie müssen streng überwacht und verfolgt werden. Die Demokratie muss sich gegen Bedrohungen der Freiheit und der pluralistischen Gesellschaft zur Wehr setzen.
Doch eignen sich diese Mittel zumeist nur bei den wirklichen Verführern, selten bei den Verführten. Anhänger von «Verschwörungstheorien» sind sich oft gar nicht bewusst, dass die Ideen, die sie vertreten, dieselben sind, wie sie auch von Neonazis propagiert werden. Sie sehen ihr «kosmisches» Feindbild im Zusammenhang von Weltzeitaltern, von göttlichen oder satanischen Kräften, die sich eben in bestimmten Organisationen und Personen verkörpern. Für sie sind die «Illuminati» real existent, die Verschwörung eine wirkliche, die schuld ist an den ökologischen Katastrophen, sozialen Missständen und anderen Übeln dieser Welt. Sie sind desorientiert, verunsichert und auf der Suche nach Sinn und Identität. Ihnen muss mit Verständnis und Aufklärung begegnet werden.

Aufklärung und Beratung

«Verschwörungstheorien» sind ein Ausdruck des religiösen Pluralismus unserer Zeit. Das Monopol der christlichen Kirchen auf Gott ist längst gefallen. Viele klagen über einen Mangel an sinnstiftenden Ritualen der Kirchen und wenden sich dem spirituellen Supermarkt zu. Angesichts der Geschichte und des gegenwärtigen konservativen und repressiven Zustands der katholischen Kirche ist es auch nicht verwunderlich, dass sich die Menschen abwenden. Von einer glaubwürdigen und ernstzunehmenden Kirche, die die Aufgabe der Aufklärung und Beratung übernehmen könnte, sind wir derzeit noch weit entfernt. Hinzu kommt, dass sich Anhänger der Verschwörungsesoterik ja ganz bewusst von den christlichen Kirchen abwenden, gerade weil sie darin - neben anderen - ein Feindbild sehen, das es zu bekämpfen gilt.
Es braucht Beraterinnen und Berater, die von der Esoterikszene ernst genommen werden, die nicht nur verteufeln, sondern Gefühle und Wünsche derjenigen verstehen, denen sie eine demokratische und solidarische Alternative bieten wollen. Derzeit lässt sich das notwendige Wissen über Sekten, Kulte, esoterische Praktiken und Lehren nur entweder selbst erlernen oder auf einschlägigen Pro-Esoterik-Kongressen direkt erfahren. Nützlich ist sicher, Ashrams, Erleuchtungsseminare und Runenkultzeremonien zu besuchen, um zu wissen, wovon man spricht. Kurse oder Lehrgänge, in denen sich esoterisches Wissen und okkulte Lehren - mit entsprechendem kritischem und didaktischem Hintergrund erlernen lassen, gibt es leider noch kaum. Nur kirchliche Sektenberater, spezialisierte Journalisten und interessierte Wissenschaftler verfügen heu tzutage über das Wissen, das notwendig ist, um Gefährdete seriös zu beraten. Denkbar sind etwa Sekten- und Esoterik-Beratungsstellen, die mit entsprechend ausgebildeten Mitarbeitern besetzt sein müssten. (Vgl. in diesem Zusammenhang die Rubrik «Forum» in dieser TANGRAM-Nummer.)

Schule und (politische) Bildung

Ein weiteres Mittel der frühzeitigen bzw. prophylaktischen Aufklärung besteht in der Bildung, sowohl in Schulen und Universitäten als auch in der Erwachsenenbildung. Lehrpersonen werden immer mehr gezwungen sein, sich mit der neuen Multireligiosität auseinanderzusetzen. Nicht nur weil die Schüler von ihren Eltern schon früh einschlägig beeinflusst werden, sondern auch weil sich immer mehr junge Leute aus eigenem Antrieb für Esoterik interessieren und fasziniert sind von der abenteuerlichen Welt der bunten Sinnsuche. Daher kommt der Bildungsarbeit besonders in den staatlichen und privaten Schulen grosse Bedeutung zu. Statt das Bildungssystem auszuhöhlen, braucht es eine es eine neue Bildungsoffensive, die vor allem den so unbeliebten Bereich der politischen Bildung neu aufarbeitet. In den vergangenen Jahren wurde das Gewicht zu sehr auf gute Infrastrukturen und Lerntechniken, zu wenig auf menschliche Werte gesetzt. Wir brauchen wieder vermehrt Raum für sinngebenden Unterricht in dem (wie der UNESCO-Bericht zur Bildung für das 21. Jahrhundert fordert) gelernt wird zusammen zu leben, Verständnis füreinander zu entwickeln und die gegenseitige globale Abhängigkeit zu erfassen und in welchen grundlegende Werte wie Pluralismus, Menschenwürde der Respekt für den Friede vermittelt werden.

Nachhaltige Wirtschafts- und Sozialpolitik

Eine weitere Gegenstrategie ist die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und die Verminderung der Kluft zwischen Armen und Reichen, die gerade drastisch nicht nur innerhalb der europäischen und nordamerikanischen Industrienationen, sondern auch zwischen diesen und der sogenannten Dritten und Vierten Welt wächst. Eine sinnvolle Wirtschafts- und Sozialpolitik ist die unerlässliche Voraussetzung für jede demokratische Gesellschaft, die nicht durch krasse Verteilungsunterschiede innerlich gespalten sein darf. Wenn es wieder Parteien, Bewegungen oder gesellschaftliche Instanzen gibt, die glaubwürdig für die Rechte der ärmeren und teilweise ausgebeuteten gesellschaftlichen Schichten eintreten, werden sich die Hoffnungen dieser Menschen nicht an esoterischen Ideen festmachen, die als politischer Bumerang unsere Demokratie zu zerstören suchen.
Die moderne «Heimatlosigkeit» erstreckt sich nicht nur auf Religion und Sinnsuche, sie ist oft auch ganz konkret auf die erzwungene Mobilität bezogen, mit der viele Menschen nicht zurecht kommen. Eine nachhaltige regionale Entwicklung kann den Menschen wieder Hoffnung auf Zukunft und Lebensqualität vermitteln. Wer eine Chance hat, in seiner Gemeinde und in seiner Zukunft sinnvoll mitzugestalten, fühlt sich weniger von anonymen Kräften bedroht oder bedrängt. Wo Wohlbefinden und Zufriedenheit zumindest ansatzweise möglich sind, verringert sich die ideologische Notwendigkeit, aus Angst und Unzufriedenheit entstandene Weltverschwörungsmythen nachzubeten.

Das «innere Umfeld»

Zum Wohlbefinden zählt für viele Menschen auch spirituelle Geborgenheit. Doch ist es oft überfordernd, auf der Suche nach neuen Antworten den Überblick zu wahren und das Angebot beurteilen zu können. Die Kriterien, die Erich Fromm zu autoritärer bzw. humanitärer Religiosität entworfen hat, können auch in diesem Zusammenhang als Orientierungshilfe dienen: Kennzeichen der autoritären Religion ist, dass sich der Mensch dem göttlichen Willen unterwirft, den ein Führer, Guru oder esoterischen Lehrer vermittelt. Der zunehmend kritiklose Gehorsam macht für Manipulationen aller Art anfällig. Ein wesentliches Merkmal ist dabei auch die Betonung der Hierarchie, die sich gesellschaftspolitisch im Prinzip niederer und höherer «Rassen» oder spiritueller Entwicklungsstufen auswirkt.
Im Gegensatz dazu wäre eine humanitäre Religion dadurch gekennzeichnet, dass der Mensch selbständig an seiner spirituellen Entfaltung arbeitet und dabei auch sein kritisches Denken integriert, wodurch seine eigenständige Urteilskraft gefestigt und kultiviert wird. Diese Einstellung fördert ein solidarisches, egalitäres, mitweltbewusstes Handeln fördern. Innerhalb und ausserhalb der etablierten, staatlich anerkannten Religionsgemeinschaften ist die Pflege einer solchen Religiosität dringend notwendig.

Literatur

Die Liste umfasst verwendete Werke und einige ausgewählte weiterführende Bücher zum Thema

Awadalla, El, 1997. Heimliches Wissen. Unheimliche Macht. Sekten, Kulte, Esoterik und der rechte Rand. Wien: Folio.

Bellmund, Klaus / Kaarel Siniveer, 1997. Kulte, Führer, Lichtgestalten. Esoterik als Mittel rechtsradikaler Propaganda. München: Knaur.

Bieberstein, Johannes Rogalla von, 1976. Die These von der Verschwörung 1776-1945. Frankfurt a.M.: Peter Lang.

Cohn, Norman, 1969. Die Protokolle der Weisen von Zion. Der Mythos von der jüdischen Weltverschwörung. Köln, Berlin: Kiepenheuer &a mp; Witsch.

Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, 1997. Das Netz des Hasses. Rassistische, rechtsextreme und neonazistische Propaganda im Internet. Wien: DÖW/Deuticke.

Freund, René, 1995. Braune Magie? Okkultismus, New Age und Nationalsozialismus. Wien: Picus.

Gugenberger, Eduard / Schweidlenka, Roman, 1993. Die Fäden der Nornen. Zur Macht der Mythen in politischen Bewegungen. Wien: Verlag für Gesellschaftskritik.

Heller, Friedrich Paul / Anton Maegerle, 1995. Thule. Vom völkischen Okkultismus bis zur Neuen Rechten. Stuttgart: Schmetterling.

Holzer, Willibald I., 1994. «Rechtsextremismus - Konturen, Definitionsmerkmale und Erklärungsansätze.» In: Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes: Handbuch des österreichischen Rechtsextremismus. Aktualisierte und erweiterte Auflage, Wien: Deuticke, S. 12-96.

Kursbuch 1996/12. «Verschwörungstheorien».

Lüthi, Urs, 1992. Der Mythos von der Weltverschwörung. Die Hetze der Schweizer Frontisten gegen Juden und Freimaurer - am Beispiel des Berner Prozesses um die «Protokolle der Weisen von Zion». Basel: Helbing & Lichtenhahn.

Pfahl-Traughber, Armin, 1993. Der Antisemitisch-Antifreimaurerische Verschwörungsmythos in der Weimarer Republik und im NS-Staat. Wien: Braumüller.

Pipes, Daniel, 1998. Verschwörung: Faszination und Macht des Geheimen. München: Gerling Akademie Verlag.

Reinalter, Helmut, 1995. «Die Rolle von 'Sündenböcken' in den Verschwörungstheorien.» In: Niewiadomski, Józef, Palaver, Wolfgang: Vom Fluch und Segen der Sündenböcke. Thaur: Kulturverlag.

Reinalter, Helmut / Franko Petri / Rüdiger Kaufmann, 1998. Das Weltbild des Rechtsextremismus. Die Strukturen der Entsolidarisierung. Innsbruck, Wien: Studienverlag.

 

Zusammenfassung

Weltverschwörungstheorien sind Weltanschauungen, die Politik, Okkult-Esoterik und science-fiction-artige Fantasien verbinden. Sie werden seit der Aufklärung als politisches Kampfinstrument gegen Demokratie, Freiheit und Frieden eingesetzt. Im 19. Jahrhundert versuchten sich die Monarchien und die katholische Kirche gegen neue soziale und politische Bewegungen mit Weltverschwörungstheorien an der Macht zu halten. Juden, Freimaurer und sozialistische Gruppen wurden zu einem gemeinsamen Feindbild hochstilisiert. Später übernahmen völkische, rassistische und rechtsextreme Kreise dieses Konzept und gelangten damit an die Macht. Die «Protokolle der Weisen von Zion» sind die Bibel der Verschwörungstheoretiker. Auch die Sowjetunion und arabische Staaten verwendeten diese Sündenbockstrategie, die sich vor allem gegen Juden bzw. gegen den neuen Staat Israel richtete.
Heute - besonders seit dem Fall des Eisernen Vorhangs - wird die Weltverschwörungsparanoia vor allem von rechtsextremen und neonazistischen Organisationen aus Europa und den USA mittels Büchern, Broschüren und auch im Internet weltweit verbreitet. Die Inhalte sind oft rassistisch und negationistisch. Innerhalb des Rechtsextremismus stellen die Weltverschwörungstheorien neben der Skinhead-Bewegung, dem Neonazismus, dem esoterisch-okkulten Neuheidentum und der «Neuen Rechten» ein bedeutendes Mittel dar, antidemokratische Ideen und rassistische Inhalte auf scheinbar neue Weise zu verbreiten.
Als Massnahmen gegen diese Entwicklungen muss die Aufklärung und Beratung sowie die politische Bildung an den Schulen verstärkt werden, aber auch Polizei und Justiz müssen über geeignete Mittel und Wissen verfügen, um diese Bedrohungen der Demokratie zu bekämpfen.

Résumé

Les théories d'une conspiration mondiale sont des idéologies qui prennent naissance au carrefour de la politique, de l'ésotérisme/occultisme et de la science-fiction. Depuis le siècle des lumières, ces vues de l'esprit ont été utilisées comme armes contre la démocratie, la liberté et la paix. Au 19ème siècle, les monarchies et l'église catholique s'en servent pour préserver leur pouvoir face à la montée des mouvements d'émancipation politique et sociale. Le nouvel ennemi à combattre est affublé d'un visage caricatural, celui du Juif, du socialiste ou du franc-maçon. Plus tard, les cercles «ethniques», racistes ou d'extrême droite reprennent ces clichés à leur compte, ce qui favorise leur arrivée au pouvoir. Les Protocoles des Sages de Sion sont la «bible» des théoriciens du complot. L'Union soviétique et les Etats arabes usent également de cette stratégie du bouc émissaire, surtout contre les Juifs et le nouvel Etat d'Israël.
Aujourd'hui - surtout depuis la chute du rideau de fer - des organisations néonazies et extrémistes en Europe et aux Etats-Unis utilisent le même cheval de bataille. Elles propagent la paranoïa de la conspiration aux quatre coins du monde, en publiant des livres et des brochures ou en diffusant leurs théories via l'Internet. Les contenus sont souvent racistes et révisionnistes. A l'extrême droite de l'échiquier politique, les théories du complot sont une arme privilégiée dans la lutte contre les valeurs démocratiques et égalitaires. Elles sont associées aux mouvements skinhead et néonazis, au néo-paganisme à caractère ésotérique/occulte ainsi qu'aux «nouvelles droites».
Pour faire obstacle à ces courants, il est capital d'intensifier l'information et le conseil à la population et de renforcer la formation politique dans les écoles. Il faut également que la justice et la police disposent des moyens et connaissances nécessaires pour lutter contre ces forces qui menacent la démocratie.

Franko Petri

arbeitet an der Universität Innsbruck für den interdisziplinären Senatsarbeitskreis Wissenschaft und Verantwortlichkeit. Er studierte Rechtswissenschaft, Politikwissenschaft und Medienkunde in Österreich und Neuseeland. Als freier Autor und Journalist widmete er sich in zahlreichen Publikationen dem Thema Esoterik und Rechtsextremismus.

Dieser Beitrag beruht auf dem kürzlich publizierten Werk Weltverschwörungstheorien. Die neue Gefahr von Rechts von Eduard Gugenberger, Franko Petri und Roman Schweidlenka, erschienen 1998 im Deuticke-Verlag Wien. Das Buch untersucht die historischen Wurzeln der Weltverschwörungstheorien und analysiert deren neueste Erscheinungsformen, wie sie vor allem im deutschen Sprachraum verbreitet sind, geht aber auch auf die ehemalige Sowjetunion, die USA und Verschwörungstheorien im Internet ein. Das letzte Kapitel widmet sich ausführlich den Strategien gegen den Weltverschwörungsglauben.

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