Die Überwindung aller Widersprüche: Das Krankheits- und Heilungsverständnis in der Esoterik am Beispiel von Thorwald Dethlefsen und Rüdiger Dahlke (Flammer, 2001)

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von Philipp Flammer


Eindrücke von den Basler Psi-Tagen im November 2000

Die über hundert Vorträge, Seminare und Workshops der jüngsten Basler Psi-Tage standen im Zeichen der Wiedergeburt. Sie versprachen Fakten, Erklärungen und Sinndeutungen, eine Bilanz über den aktuellen Stand der Wiedergeburtsforschung "mit einem Grossaufgebot an Therapeuten, Weisheitslehrern, Hellsichtigen, medial Begabten und Wissenschaftlern der unterschiedlichsten Fachrichtungen". Auch wenn das Krankheits- und Heilungsverständnis von Thorwald Dethlefsen und Rüdiger Dahlke direkter Gegenstand meiner weiteren Ausführungen sein wird, beginne ich mit drei persönlichen Eindrücken zu dieser Veranstaltung, um ein soziales Umfeld zu skizzieren, in dem Dethlefsen und Dahlke eingeordnet werden können.

Die Aura. Gemessen am Anspruch der Organisatoren der Psi-Tage war das Kongresszentrum Messe Basel zweifellos eine beeindruckende und angemessene Lokalität, die den Eindruck verstärkte, man tauche hier in eine wichtige und hochkarätig besetzte Diskussion ein. Manche, die bereit waren, den gewichtigen Tageseintritt von Fr. 180.- zu zahlen, dürften zudem wie ich überrascht worden sein, wie viele hundert Leute den Weg hierher gefunden hatten: ein heterogenes Publikum, bei dem über 50-Jährige und Frauen leicht in der Überzahl gewesen sein dürften. Lokalität, Eintrittspreis und Publikum trugen sicher dazu bei, dass die verschiedenen Podiumsdiskussionen selber gut inszenierte Spektakel blieben, bei dem noch der offensichtlichste Unsinn vom Publikum mit respektvollem Raunen und Kopfnicken quittiert wurde. Als Skeptiker fühlte man sich jedenfalls sehr schnell einsam in einer Gemeinschaft von Gläubigen.
Der neue Stern. Möglicherweise lag es aber auch am Zuschnitt der Fragen, die der Tagung zugrunde gelegt wurden: "Welche Tatsachen legen Wiedergeburt nahe? Mit welchen Methoden sucht moderne Reinkarnationsforschung nach Anhaltspunkten dafür? Was reinkarniert und welche Gesetzmässigkeiten liegen Reinkarnation zugrunde?" In kritischer Hinterfragung bereits an die Grenze des Erträglichen gingen Fragen wie: "Ist Reinkarnation wirklich die beste Theorie? Welche alternativen Erklärungen gibt es und wie plausibel sind sie? Ist Wiedergeburt überhaupt möglich?" Offensichtlich war für die grosse Mehrheit der Vortragenden Wiedergeburt eine feste Tatsache, die keiner weiteren Hinterfragung mehr bedurfte. Ronald Zürrer beispielsweise, der neue Stern am esoterischen Himmel, nutzte kritische Einwände allenfalls für polemische Einschübe. Darüber h inaus blieb für ihn die entscheidende Nullhypothese: "Es gibt keine Wiedergeburt", vor allem eine rhetorische Frage. Zürrer, der ehemalige Tempelphilosoph der Hare Krishnas in Zürich, der sich nun selbständig gemacht hat, dienten die Psi-Tage zur Promotion seines "Standardwerkes" mit dem unbescheidenen Titel: "Reinkarnation. Die umfassende Wissenschaft der Seelenwanderung".
Die wissenschaftliche Eminenz. Auf "Erfahrungen aus 20 Jahren" zurückschauen konnte inzwischen der "prominente Arzt, Medizinphilosoph und Reinkarnationstherapeut Dr. med. Rüdiger Dahlke". Entsprechend geschickt falsifizierte er die Nullhypothese mit einer Anekdote aus seiner Jugend und der These, dass die Wahrheit der Wiedergeburtstheorie und die Frage, ob Erinnerungen an frühere Leben "wahre" Erinnerungen sind, in der Reinkarnationstherapie eh nebensächlich seien. Entscheidend sei lediglich, dass die Therapie wirke, indem sie einer Person helfe, sich ihrer "Schatten" bewusst zu werden. Auch Dahlke war auf Promotionstour, ging scharf mit den "Scharlatanen" seiner Branche ins Gericht und beteuerte, dass seine Therapie auf hermetischer Philosophie beruhe, sich modernster Hilfsmittel wie der Hautwiderstandsmessung bediene und in vier Kompaktwochen zu DM 5600.- pro Woche durchgeführt werde.
So weit ein paar Eindrücke von der Basler Esoterikveranstaltung.

Rüdiger Dahlke ist ein Starautor der Esoterik und als promovierter "Schulmediziner" sicher für viele Menschen auch eine Autorität, von der sie annehmen, dass ihr medizinisches Handeln und Lehren in Einklang mit ihrem akademischen Grad steht. In dem Sinne soll im Folgenden das Krankheits- und Heilungsverständnis von Dahlke und seinem Vordenker Dethlefsen einer kritischen Überprüfung unterzogen werden.

Thorwald Dethlefsen und Rüdiger Dahlke

Wegweisend waren für Dahlke die Schriften von Thorwald Dethlefsen. Dethlefsen hat Ende der 70er Jahre mit seinen beiden Büchern "Das Erlebnis der Wiedergeburt. Heilung durch Reinkarnation" sowie "Schicksal als Chance. Das Urwissen zur Vollkommenheit des Menschen" die theoretische Grundlage vorbereitet, auf der das gemeinsam mit Dahlke geschriebene programmatische Werk der Esoterik "Krankheit als Weg. Deutung und Be-Deutung der Krankheitsbilder" aufbaut. Zum Stellenwert dieser Arbeiten schreibt Ronald Zürrer:
"Dethlefsens Verdienst bestand darin, dass er sich nicht damit begnügte, einfach nur Rückführungsprotokolle aneinander zu reihen und so ‚Beweise' für die Wiedergeburt zu sammeln. Für ihn war die Reinkarnation sowieso selbstverständlich und brauchte nicht auf diese Weise ‚bewiesen' zu werden. Er entdeckte nun vielmehr die grosse Chance, aus der hypnotischen Rückführung eine neue Therapieform zu entwickeln, um Menschen zu heilen." (ZÜRRER 2000, S. 527)

Trotz dem gemeinsamen Grundlagenwerk gingen die beiden Autoren in der Folge unterschiedliche Wege. Zürrer schreibt weiter:
"Thorwald Dethlefsen war - genauso, wie er einer der ersten Rückführer und einer der ersten Reinkarnationstherapeuten gewesen war - auch einer der ersten, die die herkömmliche Reinkarnationstherapie, wie sie heute von seinen zahlreichen Imitatoren praktiziert wird, in Frage stellten und einen unbedingt notwendigen nächsten, einen ‚dritten Schritt' forderten." (ZÜRRER 2000, S. 527)
Dethlefsen wollte in seinen Rückführungssitzungen nicht einfach seiner Klientel ihre früheren Inkarnationen bewusst machen. Vielmehr strebte er nach einem therapeutischen Konzept, das "den Klienten in einen konsequenten Individuationsprozess einfädelt" und ihm "die totale Übernahme der Verantwortung für das eigene Schicksal" sowie "das Aufheben der bisherigen Fixierungen und die schrittweise Lockerung der Ichidentifizierung" ermöglicht (D. zitiert nach ZÜRRER 2000, 528f.). Dazu nutzte Dethlefsen insbesondere die Begriffe Mythos, Kult und Ritual. Diese würden dafür sorgen, dass die Verbindung des Menschen zur Transzendenz nicht abreisse und "echte" Religion im Sinn der Rückbindung zum Urgrund, zur Wirklichkeit des Seins entstehe. Der Mythos liefere das Vorbild und das Wissen um die geistigen Gesetze, die der Mensch im Kult und im Ritual nachvollziehe, um Anteil an der göttlichen Seinsordnung zu erlangen.

Seit 1993 scheint Dethlefsen in romantischer Verzückung so die alte Tradition der magischen Mysterien- und Initiationskulte neu zu erfinden. Was anfänglich als "Kawwana - Konvent für rituelle Therapie" bekannt war, hat er im Oktober 1999 zur "Kawwana - der Kirche des Neuen Aeons" erhoben. Gemäss den Ausführungen eines Zeugenberichts von der zweitägigen Gründungsveranstaltung hat Dethlefsen seinen esoterischen Ansatz in eine Neuinterpretation der Kabbala aus der jüdischen Tradition gepackt und mit gnostischen geheimnisvollen Ritualen sinnlich aufbereitet (PÖHLMANN 1999). Seine Kirche hält er für den Schlusspunkt vieler bekannter religiöser Strömungen, für die einzige Kirche des Neuen Aeons. Er allein ist der Auserwählte mit einem "Auftrag von höchster Stelle". Gemäss Dethlefsen umgibt ihn ein "definierter Kreis" von Anhängern, der "Verbindlichkeit lebe" und deren Ziel es sei, "Kawwana in die Welt zu tragen". Diese Personen hätten auch ihren Beruf aufgegeben.

Im Heilungsverständnis von Dahlke kommt Ritualen ebenfalls eine zentrale Rolle zu, doch geht er nicht so weit wie Dethlefsen und bemüht sich, den Ansatz von 1983 weiterzuentwickeln. In der Einleitung zu "Krankheit als Sprache der Seele. Be-Deutung und Chance der Krankheitsbilder" (1992) bedauerte er lediglich, dass Thorwald Dethlefsen, der diesen Ansatz entscheidend geprägt hat, sich so definitiv aus der Öffentlichkeit zurückgezogen habe, dass er nicht zur Fortsetzung der gemeinsam begonnenen Arbeit zu gewinnen war. Dahlke betreibt heute ein Therapie- und Seminarzentrum in Johanniskirchen (D) sowie ein Institut zur Ausbildung von Atem- und Reinkarnationstherapeuten, von Meditationslehrerinnen und Fastenberatern in Graz (A). Nicht zu übersehen ist jedoch, dass auch Dahlke in seiner Therapiearbeit ein sehr rigides Setting vertritt, dem ein kultisches Potential innewohnt und sektiererische Vereinnahmung denkbar macht. So empfiehlt er, seine Reinkarnationstherapie am besten an einem Stück von vier Wochen zu absolvieren. Die Klienten sollen für diese Zeit ihr gewohntes Milieu verlassen, d. h. nicht zuhause wohnen. Als sehr förderlich erweise sich zudem begleitendes Fasten, da seelisches Loslassen deutlich leichter falle, wenn es auch körperlich geschehe.

 Im Folgenden gehe ich nicht weiter auf das praktische Handwerk ihrer Heilverfahren ein, sondern beschränke mich auf die grundsätzlichen Fragen, zuerst, was Dethlefsen und Dahlke unter Krankheit verstehen und welches Menschenbild damit verbunden ist, und dann, was sie unter Heilung verstehen und nach welchem Muster ihre Krankheitsdeutung funktioniert. Dabei orientiere ich mich in erster Linie am theoretischen Teil ihrer gemeinsamen Schrift von 1983 und prüfe gegebenenfalls, welche Entwicklung in Dahlkes Fortsetzungsschrift von 1992 festgehalten werden kann.

Das Verständnis von Krankheit bei Dethlefsen und Dahlke

Programmatisch titeln Dethlefsen und Dahlke in Kapitel 5: "Der Mensch ist krank":

"Wir sollten uns von der Illusion lösen, man könne Krankheit vermeiden oder aus der Welt schaffen. Der Mensch ist ein konflikthaftes Wesen und somit auch krank. Die Natur wacht darüber, dass der Mensch im Laufe seines Lebens sich immer tiefer ins Kranksein hineinentwickelt, das durch den Tod seinen krönenden Abschluss findet. (...) Die Natur sorgt mit Souveränität dafür, dass der Mensch sich mit jedem Schritt seines Lebens diesem Ziel nähert. Krankheit und Tod zerstören die wuchernden Grössenphantasien des Menschen und korrigieren jede seiner Einseitigkeiten. (...) Jeder Versuch, gesund zu leben, fordert Krankheit heraus." (1983, 82 f.)
Dethlefsen und Dahlke sprechen dabei bewusst von Krankheit im Singular und meinen damit den Normalzustand des Menschen, also auch jener Menschen, die sich gesund wähnen. Doch gilt es genau hinzusehen, was sie als "Mensch" verstehen:

"Der Körper ist niemals krank oder gesund, da in ihm lediglich die Informationen des Bewusstseins zum Ausdruck kommen. Der Körper tut nichts aus sich selbst heraus, wovon sich jeder durch die Betrachtung einer Leiche selbst überzeugen kann. (...). Der Körper ist die Darstellungs- oder Verwirklichungsebene des Bewusstseins und damit auch aller Prozesse und Veränderungen, die im Bewusstsein ablaufen. (...) Deshalb ist es irreführend zu behaupten, der Körper wäre krank - krank kann immer nur der Mensch sein -, doch dieses Kranksein zeigt sich im Körper als Symptom." (1983, 17 f.)
"Krankheit ist ein Zustand des Menschen, der darauf hinweist, dass der Mensch in seinem Bewusstsein nicht mehr in Ordnung bzw. in Harmonie ist. Dieser Verlust eines inneren Gleichgewichts manifestiert sich im Körper als Symptom. (...) Das Symptom signalisiert uns, dass wir als Mensch, als Seelenwesen krank sind, d. h. aus dem Gleichgewicht der innerseelischen Kräfte geraten sind." (1983, 22f.)

Für Dethlefsen und Dahlke ist der Mensch also ausschliesslich ein "Seelenwesen", und was in unserer Gesellschaft als Krankheiten diskutiert wird, sind bei ihnen lediglich Symptome für das grundsätzliche Kranksein der menschlichen Seele. Die Autoren zerlegen dabei die physisch-vitale Manifestation eines Menschen analytisch in eine Bewusstseins- und eine Körperebene und erstellen eine Hierarchie zwischen den beiden Ebenen, indem sie den Körper zu lebloser Materie degradieren und das Bewusstsein, die seelisch -geistige Ebene, zur entscheidenden und ausschliesslichen Essenz des Menschseins erklären. In ihrem Verständnis vom Menschen werden die physischen Aspekte abgespaltet und deren Bedeutung für das Kranksein bestritten bis hin zur Behauptung:

"Weder Bakterien noch Erdstrahlen verursachen Krankheit, aber der Mensch benutzt sie als Hilfsmittel, sein Kranksein zu verwirklichen." (1983, 108)
Mit anderen Worten: Der einzelne Mensch ist für seine Krankheit absolut und ohne Einschränkung selbst verantwortlich. Jeder Mensch habe sich somit um seine eigenen Probleme zu kümmern - mehr könne er zur Vervollkommnung dieses Universums nicht beitragen (1983, 125). In der Fortsetzungsschrift sieht sich Dahlke genötigt, vehement zu betonen, dass mit diesem Verständnis von "Krankheit als Weg" keine Schuldzuweisung gemeint sei:

"Esoterik hat gerade nichts mit Schuldverteilung zu tun, geht sie doch, wie im ersten Band ausführlich dargestellt, davon aus, dass jeder Mensch grundsätzlich schuldig, weil von der Einheit abgesondert ist. Schuldigwerden ist keine Frage von kleinen oder grossen Fehlern im täglichen Leben, sondern eine grundsätzliche." (1992, 17)
Die Gefahr von Fehlbehandlungen aufgrund unzureichender Diagnose und den Vorwurf, mit ihrer Verantwortungszuweisung der Stigmatisierung kranker Menschen Vorschub zu leisten, hat Dahlke damit aber wohl kaum entkräftet, wie auch die Idee der "Eskalation" zeigt, auf die ich noch zu sprechen komme. Zuvor interessiert im Folgenden nun, was Dethlefsen und Dahlke Kranken zur Heilung vorschlagen.

Heilung als Überwindung von Polarität

Zunächst fällt auf und erstaunt, dass Dethlefsen und Dahlke - trotz ihrem einseitigen Modell vom Menschen als einem körperlosen, auf sich selbst reduzierten "Seelenwesen" - nicht müde werden, dem Menschenbild der Wissenschaft mangelnde "Ganzheitlichkeit" vorzuwerfen. Offensichtlich verstehen sie aber etwas anderes unter Ganzheitlichkeit als gemeinhin üblich. In ihrem Modell ist keine Rede davon, dass der Mensch auch als ein Zusammenspiel von körperlichen, geistigen und psychisch-seelischen Teilsystemen verstanden werden kann, die sich wechselseitig bedingen, durchdringen und voneinander abhängen und so als ein materiell bedürftiges und über die Zeit sich entfaltendes und wieder zerfallendes, verletzliches Ganzes in einem materiellen wie kommunikativen Austausch mit einer sich ebenfalls verändernden gesellschaftlichen und natürlichen Umwelt steht.

Das grundlegende Denkmuster, das dem Ganzheitlichkeitsbegriff der Autoren und damit ihrem Verständnis von Heilung zugrunde liegt, ist bestechend viel einfacher und heisst Polarität und Einheit. Die menschliche Seele sei krank, weil sie "polar" funktioniere, weil das Bewusstsein unausweichlich unterscheide, bewerte und entscheide, weil der Mensch nach Auffassung von Religion und Esoterik "in einer polaren Welt notwendigerweise unheil und auf der Suche nach der verlorenen Einheit (ist), die er im Paradies zurückgelassen hat, als er sich auf seinen Entwicklungsweg machte". (1992, 21) In streng dualistischer Weise werden hier sämtliche Wahrnehmungsinhalte nach Gegensatzpaaren wie hell - dunkel, wachen - schlafen, bewusst - unbewusst, gut - bös, spirituell - materialistisch kategorisiert. Das Spiel dieser Gegensätze zwinge das Bewusstsein in jedem Fall zu einer Entweder-Oder-Entscheidung. Die Autoren sprechen dabei vom "Gesetz der Polarität", das den Menschen an Zeit und Raum binde und so von der allumfassenden Einheit, vom Ganzen trennt. Damit wird Krankheit zu einer "unumstösslichen Gegebenheit" (1992, 21), die jedes Konzept von Gesundheit letztlich überflüssig macht. Heilung bedeutet hier, Überwindung von Polarität bzw. Veränderung des Bewusstseins, der eigenen Wahrnehmung bis zum Punkt, wo sich die Gegensätze aufheben und zur Einheit verschmelzen (1983, 29).

"Heilung meint immer eine Annäherung ans Heil, an jene Ganzheit des Bewusstseins, die man auch Erleuchtung nennt. Heilung geschieht durch Angliederung des Fehlenden und ist somit ohne eine Bewusstseinserweiterung nicht möglich." (1983, 25)
"Wir müssen lernen, bei jeder Betrachtung gleichzeitig auch den Gegenpol mit zu sehen. Unser innerer Blick muss oszillieren, um aus den Einseitigkeiten heraus zur Ein-sicht gelangen zu können." (1983, 54)

"Jeder Heilsweg oder Ein-weihungsweg ist der Weg aus der Polarität in die Einheit. (...) Alle (...) esoterischen Schulen lehren einzig und allein diesen Weg aus der Zweiheit in die Einheit. Daraus ergibt sich bereits zwingend, dass all diese Lehren nicht an einer ‚Verbesserung dieser Welt' interessiert sind, sondern am ‚Verlassen dieser Welt'. (... So) bekommt dieses Leben und diese Welt erst dann eine inhaltliche Dimensionalität, wenn unser Ziel ist, sie zu überwinden." (1983, 45/ 47)

Eine konsequente Umsetzung solchen Denkens haben beispielsweise in den 90er Jahren die Mitglieder des Sonnentemplerordens und der kalifornischen Heaven's Gate-Gruppe vollzogen.

Zum Grundmuster der Krankheitsdeutung

Dualistisches Denken ist bei Dethlefsen und Dahlke also Programm und kennt weder kontinuierliche Übergänge, multipolare Konstellationen noch zufällige Ereignisse oder kreative Ausnahmen. Es funktioniert aus ihrer Sicht nach einem eisernen Gesetz, indem da, wo die Heilung noch nicht vollzogen, also die Verschmelzung der Pole in ihrer Gleichzeitigkeit nicht gelungen ist - somit bei allen, die noch nicht vollkommen oder erleuchtet sind -, die Polarität über den Umweg der Zeit automatisch wiederhergestellt wird. Die Autoren sprechen von einem Komplementärgesetz, nachdem jeder Pol durch die zeitliche Nachfolge seines Gegenpols ausbalanciert wird. Durch jede Entscheidung für einen der beiden Pole gelangt der andere Pol in den Bereich des Unbewussten, in den "Schatten", ein Begriff, den sie - und nicht nur diesen und ganz im Trend der meisten New-Age-Denker - bei C. G. Jung entlehnen (vgl. GESS 1994).

"Das Komplementärgesetz sorgt dafür, dass das Gleichgewicht der Pole erhalten bleibt, unabhängig davon, was Menschen tun oder nicht tun. Das Komplementärgesetz sorgt dafür, dass sich alle Veränderungen zur Unveränderlichkeit addieren. Wir glauben fest daran, dass sich durch die Zeit sehr viel verändert, und dieser Glaube verhindert zu sehen, dass die Zeit nur Wiederholungen des gleichen Musters produziert, (...) dass alle durch die Zeit aufgefächerten Geschehnisse zu einem Muster gerinnen." (1983, 53)
Für die Krankheitsdeutung bedeutet dieses "Komplementärgesetz", dass ohne Ausnahme jedes Krankheitsbild oder "Symptom", wie sie es bezeichnen, als ein "in die Stofflichkeit gestürzter Schattenteil des Bewusstseins" (1983, 127) verstanden wird:

"Ein im Bewusstsein nicht gelebtes Prinzip erzwingt sich über den Umweg des körperlichen Symptoms seine Daseins- und Lebensberechtigung. Im Symptom muss der Mensch immer das leben und verwirklichen, was er eigentlich nicht leben wollte. Damit kompensiert die Symptomatik alle Einseitigkeiten. (...) Als Symptom hat der Mensch das, was ihm im Bewusstsein fehlt!" (1983, 127)
Das "Komplementärgesetz" beinhaltet den eigentlichen Grundgedanken von Dethlefsen und Dahlke: Mit ihrer Therapiemethode suchen sie in den Phantasien von früheren Leben ihrer Klientel nach dem für diese "archetypischen" Polaritätsmuster, welches im jetzigen Leben überwunden und zur Einheit, also zur Heilung gebracht werden soll. In dem Sinne wird Krankheit über die Beschäftigung mit den Symptomen zum "Weg zur Vollkommenheit" (1983, 127). Wer sich aber diesem "Weg" verschliesst und seine Krankheit lediglich als eine zufällige, funktional bedingte Störung betrachtet, bei dem wird das Drängen des Symptoms, sich endlich mit dem dahinterstehenden Polaritätsmuster zu beschäftigen, kontinuierlich von der sanften Aufforderung bis zum harten Druck eskalieren (1983, 119 f). Diese theoretische Drohung von Dethlefsen und Dahlke unterscheidet sieben Eskalationsstufen:

  • 1. psychischer Ausdruck (Gedanken, Wünsche, Phantasien)
  • 2. funktionale Störungen
  • 3. akute, körperliche Störungen (Entzündungen, Verletzung, kleine Unfälle)
  • 4. chronische Störungen
  • 5. unheilbare Prozesse, Organveränderungen, Krebs
  • 6. Tod (durch Krankheit oder Unfall)
  • 7. angeborene Missbildungen und Störungen (Karma)

      Interessant ist insbesondere auch Eskalationsstufe 7: Karma. Wir finden hier theoretisch dieselbe Menschenverachtung angelegt, die im Januar 1999 dem britischen Nationaltrainer Glenn Hoddle seine Stellung gekostet hat. Esoterikanhänger Hoddle verkündete öffentlich, körperlich Behinderte müssten für ihre Sünde aus einem früheren Leben büssen.

      Zum Schluss stellt sich noch die Frage, mit welcher erkenntnistheoretischen Methode Dethlefsen und Dahlke zur Einsicht in die Polaritätsmuster ihrer Klientel gelangen wollen. Dahlke schreibt programmatisch, die Philosophie von "Krankheit als Weg" beruhe weniger auf kausalem als auf analogem Denken:

      "Wenn wir Form und Inhalt, Körper und Seele, Mensch und Welt analog sehen, sind wir der Wirklichkeit näher, als wenn wir Ursachen suchen, denn die Physik belegt, dass nicht kausales Hintereinander, sondern synchrones Nebeneinander die Welt bestimmt. Der Schlüssel zu diesem Weltverständnis liegt nicht in der Analyse, sondern in der Symbolik." (1992, 33)
      Analoges Denken unterstellt den Dingen verborgene Gesetze von "Korrespondenzen" und "Harmonien" und argumentiert mit Ähnlichkeitssätzen der Art: "Wie oben, so unten", "wie innen, so aussen". Damit wird der Sternenhimmel der Astrologen ebenso wie die Physiognomie oder die Handlinien eines Menschen oder eben - bei Dethlefsen und Dahlke - ein bestimmtes Krankheitsbild zum Spiegelbild der Seele.

      Gegen ihre These, analogisch-symbolisches Weltverständnis könne sich nicht nur auf die Erkenntnisse der Naturwissenschaft berufen, sondern sei gleichzeitig auch dem kausalen Denken bzw. den Ursachenanalysen der Wissenschaft deutlich überlegen, lassen sich wenigstens zwei gewichtige Einwände anführen. Erstens missachtet diese These, dass auch analoges Denken eine Kausalbehauptung enthält, wenn Dethlefsen / Dahlke zum Krankheitsbild Krebs beispielsweise schreiben:

      "Die Krebskrankheit ist Ausdruck unserer Zeit und unseres kollektiven Weltbildes. Wir erleben in uns als Krebs nur das, was wir selbst ebenfalls leben. Unser Zeitalter ist gekennzeichnet durch die rücksichtslose Expansion und Verwirklichung der eigenen Interessen. (...) Die Menschen haben Krebs, weil sie Krebs sind. (...) Der Krebs scheitert letztlich an der Polarisierung ‚Ich oder die Gemeinschaft'. Er sieht nur dieses Entweder-Oder und entscheidet sich deshalb für das eigene, vom Umfeld unabhängige Überleben und merkt zu spät, dass er weiterhin vom Umfeld abhängig ist. (...) In dem Masse, wie das Ich sich abkapselt, verliert der Mensch die ‚religio', die Rückbindung zu seinem Urgrund des Seins." (1983, 341-343)
      Das Problem solcher analogischer Kausalbehauptungen liegt jedoch darin, dass sie elementaren Regeln formaler Logik widersprechen. Analogieschlüsse können als heuristische Hilfen bei der Erkenntnisgewinnung dienen oder zur symbolischen Verdeutlichung von analytisch gewonnenen Erkenntnissen herangezogen werden. Wer sie darüber hinaus aber - wie Dethlefsen und Dahlke - als eigenständige Instrumente der Erkenntnisgewinnung benutzt, da werden die Erkenntnisse spekulativ und willkürlich und sind für eine seriöse Krankheitsdeutung im besten Fall ungeeignet.

      Zweitens hat sich der Physiker Martin Lambeck eingehend mit der Dahlke'schen Legitimierungsthese beschäftigt und kommt unmissverständlich zum Schluss, dass die esoterischen Analogieschlüsse von Dethlefsen, Dahlke und anderen sich in keiner Weise auf Erkenntnisse der modernen Physik stützen können wie behauptet wird. Vielmehr sieht er in diesem ständigen Bezug nehmen auf vermeintliche Erkenntnisse moderner Naturwissenschaften eine manipulative Strategie:

      "Diese Mischung von Glaubwürdigkeit (PF: der modernen Physik) und Undurchschaubarkeit (PF: wegen der Komplexität der modernen Physik) erscheint als der Nebelschleier, hinter dem die Beliebigkeit des vertikalen Weltbildes den Esoterikern ein weder demokratisch noch wissenschaftlich legitimiertes Manipulations- und Drohpotential bereitstellt." (LAMBECK 1998, 23)
      Fazit: Das Krankheits- und Heilungsverständnis und die Art der Krankheitsdeutung von Dethlefsen und Dahlke haben wenig mit dem zu tun, was man von einem promovierten Mediziner erwarten würde. Dr. med. Rüdiger Dahlke ist ein Beispiel dafür, dass die Qualität der Ausbildung noch lange nicht eine gesellschaftlich akzeptable Qualität der Praxis garantiert. Wem Qualitätssicherung auf dem Gesundheitsmarkt ein ernsthaftes Anliegen ist, wird wohl kaum darum herumkommen, die einzelnen Angebote und Methoden auch einem ideologiekritischen Diskurs zu unterziehen.

Literatur

DETHLEFSEN, Thorwald, 1976. Das Erlebnis der Wiedergeburt. Heilung durch Reinkarnation. Goldmann Verlag: München.

dslb.,1979. Schicksal als Chance. Das Urwissen zur Vollkommenheit des Menschen. Goldmann Verlag: München.

dslb.; DAHLKE, Rüdiger,1983. Krankheit als Weg. Deutung und Be-Deutung der Krankheitsbilder. Goldmann Verlag: München.

DAHLKE, Rüdiger, 1992. Krankheit als Sprache der Seele. Be-Deutung und Chance der Krankheitsbilder. Genehmigte Sonderausgabe 2000. Orbis Verlag: München.

dslb., 1999. Reinkarnationstherapie. In: Handbuch für ganzheitliche Therapie und Lebenshilfe, S. 254f. Verlag Drei Sterne: D-74417 Gschwend.

GESS, Heinz, 1994. Vom Faschismus zum Neuen Denken. C.G. Jungs Theorie im Wandel der Zeit. Zu Klampen Verlag: Lüneburg.

LAMBECK, Martin, 1998. Esoterik und Physik. EZW-Texte Nr. 141. Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen: Berlin. (http://www.ekd.de/ezw)

PÖHLMANN, Matthias, 1999. Mythos, Macht, Magie. Thorwald Dethlefsens "Kawwana - Kirche des Neuen Aeon". Materialdienst der EZW 12/99: Berlin.

ZÜRRER, Ronald, 2000. Reinkarnation. Die umfassende Wissenschaft der Seelenwanderung. Govinda-Verlag: Neuhausen.

 

Kurzbiographie Thorwald Dethlefsen

* 1946, Diplompsychologe. Vertreter der esoterischen oder transpersonalen Psychologie, Psychotherapeut (Reinkarnationstherapie)

1973-1993:  Leitung des "Privatinstituts für ausserordentliche Psychologie" sowie Vertrieb von Vortrags- und Meditationskassetten über die "Hermetische Truhe" in München.
Seit 1993:  Gründung und Leitung von "Kawwana - Konvent für rituelle Therapie" bzw. der "Kirche des Neuen Aeons"

Kurzbiographie Rüdiger Dahlke

* 1951, Dr. med., Medizinstudium in München. Weiterbildung zum Arzt für Naturheilweisen, in Psychotherapie und Homöopathie.

Ab 1978: Psychotherapeut (Reinkarnationstherapie) und Fasten-Arzt
Ab 1990: Aufbau und Leitung des Heil-Kunde-Zentrums in Johanniskirchen (D) für Psychotherapien, Beratungen und Seminare, sowie des Heil-Kunde-Instituts in Graz (A) für die Grundausbildung in "Archetypischer Medizin" und Weiterbildungen zur Atem- und ReinkarnationstherapeutIn, zur MeditationslehrerIn oder FastenberaterIn

Appendix

Überarbeitete und erweiterte Fassung eines Vortrags an der Tagung vom 30.9.2000 an der Paulus-Akademie Zürich.

© 2001. Verein infoSekta, Zürich.

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