All along the Watchtower - Eine psychoimmunologische Studie zu den Zeugen Jehovas (Deckert, 2007)

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von Bruno Deckert


Einleitung (Leseprobe)

Wie soll ich glauben können, wenn man
mir keine Wahl lässt? Allein die Gewalt,
die mir den Zweifel verbietet, nimmt mir
den Glauben, wo ich ihn schon hatte.
Max Frisch

The fox knows many things, but the
hedgehog knows one big thing.
Isaiah Berlin

Inmitten der unüberschaubaren Vielfalt religiöser Gemeinschaften, die sich auf jüdisch-christliche Wurzeln berufen, stellen die Zeugen Jehovas ein bemerkenswertes Phänomen dar. Obgleich von ihrer Umwelt weithin abgelehnt oder zumindest mitleidig belächelt, wächst diese Religionsgemeinschaft seit über einem dreiviertel Jahrhundert stetig und bildet mittlerweile in vielen europäischen Ländern die grösste religiöse Körperschaft hinter den nationalen Kirchen. Fast jeder Haushalt in den meisten westlichen Ländern erhielt schon einmal Besuch von Zeugen Jehovas, die ein Buch oder die Zeitschriften Der Wachtturm oder Erwachet! anboten. Trotz zahlreicher Kollisionen mit der staatlichen und gesellschaftlichen Realität konnten sich das Glaubenssystem und seine institutionalisierte Trägerschaft gegenüber den Relativierungseffekten einer Gesellschaft behaupten, deren Trend zur Pluralisierung und Säkularisierung nach wie vor ungebrochen ist.
Dieser erklärungsbedürftige Befund bildet den Hintergrund der vorliegenden Untersuchung. Ungeachtet des gesellschaftlichen Meinungs- und Wertepluralismus, in den wir eingebunden sind, können wir uns doch untereinander - wie hier einmal unterstellt ist - über so etwas wie die Realität (die Natur von Gegenständen, Ereignissen, des Menschen) weitgehend verständigen oder zumindest noch unsere diesbezüglich unterschiedlichen Ansichten im Rahmen eines gemeinsamen Bezugssystems austauschen. Ein solcher Konsens hat allerdings kritische Grenzen, jenseits davon die betreffenden Ansichten und Personen resp. Gruppen, die sie vertreten, auf Unverständnis, Ablehnung und Verachtung, unter Umständen sogar auf Widerstand und Unterdrückung stossen. Wer aus gesellschaftlichen Basisvereinbarungen ausgebrochen ist, muss ohne die Unterstützung der vielen auskommen, die sich diesseits der Grenze aufhalten. Minoritäten, deren Devianz tolerierte Schwellen überschritten haben, sehen sich deshalb dem Problem gegenüber, wie sie ihre Inseln inmitten eines Meers Andersdenkender und Andersgläubiger verteidigen können. Wie lässt sich das bewerkstelligen? Wie gelingt es dem Einzelnen und der Gruppe, der er angehört, der buchstäblich abwegigen Perspektive treu zu bleiben? Wie gelingt es der Gruppe, der Gruppenleitung, die Gefolgschaft ihrer Anhänger zu sichern?
Für den beschriebenen Sachverhalt bieten sich Gemeinschaften wie die Zeugen Jehovas als geeignete Beobachtungs- und Studienfelder an. Solche Gruppen (1) haben eigene, isolierte, oft recht komplexe Bedeutungssysteme entwickelt, die von der umgebenden Gesellschaft im allgemeinen nicht mehr getragen und ohne Mühe auch nicht mehr nachvollzogen werden können. Ihre Auffassungen dessen, was möglich und wirklich, richtig und falsch, gut und böse ist, und vor allem der Anspruch, mit dem diese Auffassungen vorgetragen werden, liegen weitgehend außerhalb der Bandbreite gesellschaftlich tolerierter Besonderheit. Die quasi freischwebende und insofern den Wettern der Kritik besonders ausgesetzte ideologische Sonderstellung ist prekär und auf ständigen Schutz angewiesen. Wie lösen Jehovas Zeugen dieses Problem? Welche Schutzmassnahmen stehen ihnen zur Verfügung? Von welchen machen sie Gebrauch? Wie funktioniert der Schutz im einzelnen? Wie erfolgreich ist er?
Die vorliegende Arbeit nimmt solche Fragen auf und versucht sie auf zwei unterschiedlichen Ebenen zu behandeln. In einem ersten Schritt nehmen wir die Perspektive der Gemeinschaft ein. Auf der Grundlage des gruppeneigenen Schrifttums und anderer relevanter Quellen suchen wir nach den Strukturen und Strategien, mit denen diese Religionsgemeinschaft sich kollektiv gegen das Glaubenssystem bedrohende Einflüsse von aussen und innen wehrt. Die andere Perspektive nimmt das einzelne Mitglied in den Blick. Im Rahmen einer qualitativen Studie, die auf einer Befragung aktiver und ehemaliger Mitglieder fußt, suchen wir nach den Strukturen und Strategien, die der einzelne Zeuge Jehovas anwendet, wenn er mit glaubensbedrohenden Erfahrungen konfrontiert ist. Dabei interessiert uns vor allem, in welcher Weise das Individuum auf die kollektiven Strukturen und Strategien reagiert.
Bei der Beschäftigung mit dieser umstrittenen religiösen Gruppierung geht es also um ein Verständnis struktureller und dynamischer Aspekte und nicht um eine Wertung und Beurteilung bestimmter Glaubensansichten, einer bestimmten Ideologie oder bestimmter Praktiken per se. Wenn religiöse Inhalte und religiös begründete Handlungen zur Sprache kommen, was unumgänglich ist, da sie einen wichtigen Bestandteil des Untersuchungsmaterials liefern, dann unter dem Gesichtspunkt ihrer defensiven Funktion und nicht in Bezug auf ihre religiös-theologische Fragwürdigkeit oder Güte. Diese Unterscheidung ist wichtig, um der Gefahr entgegenzuwirken, sich unversehens im »falschen« Diskurs zu befinden. Eingedenk zu sein, worauf man schaut und wie man schaut, ist deshalb in diesem - wie noch zu zeigen sein wird - äusserst sensiblen Forschungsbereich besonders geboten.
Sekten, um diesen schwierigen Begriff ausnahmsweise zu verwenden, sind in der Metaphorik Peter Sloterdijks »heisse Kommunen, Brutkästen, Psychoreaktoren«.(2) Sie beschleunigen, verdichten, forcieren Prozesse, die an sich allgemein sozialer Natur sind. Sie fungieren gleichsam als Vergrösserungsgläser, unter denen sich solche Vorgänge klarer und schärfer abzeichnen als in anderen Zusammenhängen. Insofern mag unsere exemplarische Behandlung zum besseren Verständnis ähnlicher Phänomene einen Beitrag leisten resp. zu Bemühungen anregen, mit ähnlichen Fragestellungen auch andere soziale Bereiche zu untersuchen.

 

(1) Zum Begriff »Sekten«, der sich hier aufdrängt, siehe der entsprechende Exkurs, S. 86
(2) Sloterdijk, 1996, S. 108.

Appendix

von Bruno Deckert, 2007. 368 Seiten, V&R unipress, ISBN 9783899713817

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