„Es war wichtig, ‚cool‘ zu sein, ‚Style‘ zu haben“ (Friess, 2003)

Interview mit einem ehemaligen „Mitglied“ der „International Christian Fellowship“ ICF

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von Sonja Friess


Abstract

Der Interviewte (I) nahm zwischen 1998 und 2001 regelmässig an Aktivitäten der ICF teil, sodass er im engeren Sinn zur ICF „zählte“ (1). Seine Schilderungen zu seiner Lebenssituation vor dem Eintritt, dem Alltag in der ICF, seinen ersten Zweifel und der Ablösung von der ICF ergänzen die ICF-Dokumentation um die Betroffenenperspektive. Das Interview, dass im März 2003 stattfand, führte Sonja Friess, Mitarbeiterin der infoSekta.   

Eintritt

infoSekta: Wie sah Deine Lebenssituation vor dem Eintritt aus?

I: Ich war Mitglied einer anderen Freikirche, die mir aber nicht mehr zusagte. Ein Kollege erzählte mir dann von der ICF und nahm mich an einen Workshop mit, den er regelmässig besuchte. Dort traf ich lässige und coole Leute. Die ICF war trendy - man musste keine Birkenstöcke tragen, um ein guter Christ zu sein. Natürlich war die Beziehung zu Gott auch wichtig, aber im Vergleich zur anderen Freikirche war es vor allem das moderne Auftreten der ICF, das mich ansprach.

 

Wie hast Du diesen ersten Workshopbesuch erlebt?

Sehr sympathisch, ich wurde auch sofort umarmt und begrüsst, was mir ein Gefühl von Gemeinschaft vermittelte. Ich ging von da an regelmässig an diesen Workshop, der einmal in der Woche bei einem Teilnehmenden zu Hause stattfand und lernte schnell =8neue Leute kennen. Später besuchte ich selbst einen Leiterkurs. Es war für mich sehr schnell klar, dass dies mein neuer Platz ist und ich da bleiben möchte.

 

Wie lief denn ein solcher Workshop ab?

Das veränderte sich im Verlauf meiner Mitgliedschaft. Zu Beginn bestand unsere Workshopgruppe aus zehn Personen und einem Leiter. Nach der Begrüssung beteten wir zusammen, sangen Lieder und besprachen ein Thema aus der Bibel, das der Leiter ausgesucht und vorbereitet hatte. Es gab auch eine „Gebetsliste“, auf der jedes Gruppenmitglied Anliegen anbringen konnte, für die man in der Gruppe betete. Wir beteten zudem auch für „VIPs“, das heisst für Freunde und Bekannte, die nicht gläubig, noch nicht „zu Jesus gefunden“ hatten. Jedes Mitglied führte eine sogenannte „VIP-Liste“, auf der drei solcher Personen festgelegt wurden, die durch das Gebet erleuchtet und bekehrt werden sollten. Während meiner Mitgliedschaft wurde der Ablauf des Workshops immer standardisierter und auch das Thema wurde von der ICF-Zentrale vorgegeben. Zuletzt wurde in der Gruppe neben persönlichen Erlebnissen nur noch das Thema des Gottesdienstes nochmals besprochen.

 

Wie hast Du den Gottesdienst erlebt?

Man fühlte mit. Es entstand eine Art Massenerlebnis, wodurch man sich aufgehoben fühlte. Ich genoss das Gefühl sehr, einerseits mit Leuten zusammen zu sein, mit denen ich mich gut verstand, und andererseits Gott nahe zu stehen, den wir anbeteten und mit Liedern und Klatschen priesen. Gegen Ende meiner Zeit bei der ICF war dieses Gefühl der Gemeinschaft schwierig zu ertragen. Ich fühlte mich zerrissen zwischen der Sehnsucht nach dieser Verbundenheit und dem Gefühl, nicht mehr dazu zu gehören. Ich war beinahe abhängig von dieser Verbundenheit, es war wie ein Krafttanken am Sonntag. Es gab mir den Kick, um die nächste Woche in Angriff zu nehmen.

 

Du hast schon erwähnt, dass Du einen Leiterkurs gemacht hast. Wie weit warst Du sonst noch in Tätigkeiten der ICF involviert?

Ich war später stellvertretender Workshopleiter. Wenn mehr als zehn, zwölf Personen an meinem Workshop teilgenommen hätten, wäre dieser geteilt worden, und ich hätte die Leitung einer Gruppe übernommen. Es wurde mir zwar mehrmals das Angebot gemacht, die Leitung einer anderen Gruppe zu übernehmen, ich lehnte allerdings immer ab. Auf der einen Seite hätte ich gerne eine Gruppe übernommen, bemerkte aber schon damals, dass ich nicht ganz hinter der ICF stehen konnte. Es war mir zwar nicht direkt bewusst, aber im Nachhinein glaube ich schon, dass mich dies davon abhielt, mich stärker zu beteiligen.

 

Wie hast Du den Kontakt unter den Gemeindemitgliedern erlebt?

Als sehr eng, zumindest im Workshop. Ich wohnte auch mit Mitgliedern der ICF zusammen, die enge Freunde wurden. Wir unternahmen viel zusammen und organisierten bei uns zuhause auch sogenannte „VIP-Parties“. So wurden Parties bezeichnet, an die man „VIPs“ einlud, damit diese sehen konnten, dass wir lässige Leute waren und untereinander eine Gemeinschaft bildeten. An diesen Partys trafen sich natürlich auch Leute von der ICF. Es war lässig, dass beinahe wöchentlich irgendwo eine Party stattfand, an die man gehen konnte und an der man Leute traf, die man kannte. Es wurden auch Ski-Lager, Ferien am Meer und gemeinsame Besuche amerikanischer Kirchen angeboten. Der Kontakt war dadurch sehr eng. Der gemeinsame Glauben verband uns zusätzlich. Der Glaube bestimmte ja nicht nur die religiöse Ausrichtung, sondern vermittelte auch eine gemeinsame Haltung in Bezug auf andere Lebensbereiche wie beispielsweise zu politischen Fragen. Freundschaften mit Personen zu pflegen, die nicht bei der ICF waren, wurde schwierig, weil wir nur wenige gemeinsame Gesprächsthemen fanden. Dagegen fällt es mir heute schwer, mit ICF-Mitgliedern zu sprechen.

Zweifel

Die ICF wird immer als grosse Familie dargestellt. Es wird betont, dass man füreinander da ist und füreinander sorgt. Hast Du das auch so erlebt?

Nicht wirklich. Die ersten Probleme, für die ich Hilfe suchte, betrafen meinen Glauben. In diesen Fragen fand ich allerdings von meinen Freunden keine Unterstützung und wurde innerhalb der ICF an andere Personen verwiesen. Als ich beispielsweise meine Zweifel am Glauben gegenüber meinem damaligen Workshopleiter ansprach, meinte dieser, dass er mir auch nicht helfen könne. Wenn ich eine Frage zu einem Thema stellte, das ich nicht verstand, hiess es, ich müsse mich an die ICF-Leitung wenden.

 

Wie war das für Dich, als Du einfach weitergereicht wurdest?

Ich wollte eigentlich mit Personen sprechen, die ich kannte und zu denen ich eine Beziehung hatte. Meine Freunde reagierten aber mit Schweigen und wendeten sich von mir ab, als ich Zweifel am Glaubensgebäude bekundete. Ich hatte sehr stark den Eindruck, dass viele gar nicht zuhören wollten, weil sie befürchteten, selbst Zweifel zu bekommen. So erfuhr ich beispielsweise später, dass mein damalig bester Freund den Kontakt zu mir reduzieren wollte, weil er seinen eigenen Glauben in Gefahr sah. Weil man davon ausging, dass Satan alles versucht, um einen vom Glauben abzubringen, herrschte eine ständige Angst davor, verführt zu werden und die persönliche Beziehung zu Gott zu verlieren. Da musste man aufpassen. Und daher hatte ich ein bisschen das Gefühl, eine Krankheit zu haben, als ich am Glauben zweifelte. 

 

Dachtest Du selbst auch, dass Satan versucht, Dich zu verführen?

Zur Zeit meines Austrittes nicht mehr, vorher natürlich aber schon. Da ich die einzelnen Zweifel immer als Versuchungen verstand und sie daher verdrängte, sammelten sie sich immer mehr an. Irgendwann wurde es dann einfach zu viel. In diesem Moment hatte ich nicht mehr das Gefühl, das sei Satan. Es wurde mir klar, dass etwas an der Lehre nicht stimmte.

 

Was hast Du bezweifelt?

Beispielsweise vertrat die ICF die Ansicht, dass die Bibel als Gottes Wort wahr und widerspruchsfrei ist. Ich glaubte immer weniger daran, dass die Bibel in all ihren Aspekten wahr sein konnte. Wenn man die Bibel ein bisschen genauer liest, merkt man, dass das nicht sein kann. So befiehlt Gott im Alten Testament beispielsweise den Genozid. Ich begann die Bibelauslegungen der ICF immer stärker zu hinterfragen. Dazu kommt die rigide Sexualmoral, die die ICF vertritt und die ich nicht mehr mit der meinigen vereinbaren konnte. All diese Zweifel sammelten sich über ein Jahr langsam an. Irgendwann gab es einen Knall und ich merkte, dass ich nicht mehr konnte. Ich zog mich dann eine Woche vollständig zurück, um mit mir ins Klare zu kommen, und merkte schliesslich, dass für mich die ICF nicht das Richtige ist. 

Zur Lehre und Organisation

Wie würdest Du die Glaubensrichtung der ICF bezeichnen?

Die ICF war eher charismatisch ausgerichtet und undemokratischer als Freikirchen, die über eine Mitgliederversammlung verfügen. Sowohl die Besetzung von Ämtern als auch der finanzielle Bereich wurden in der ICF zentral geregelt. Während meiner Zeit bei der ICF wurde auch nie über etwas abgestimmt. Einmal hörte ich ein Mitglied des Leitungsteams sagen, dass die Demokratie heidnisch sei. Ich weiss nicht, ob dies eine grundsätzliche Ansicht der ICF ist, es gab in der ICF jedenfalls keine demokratischen Strukturen und Kontrollen. Es existierte zwar ein geistlicher Rat, der als Kontrollorgan dienen sollte, in dem aber Leo Bigger den Vorsitz führte (2).   

Welche Rolle spielt die Lehre der Gaben bei der Ablehnung der Demokratie? Wird die Befähigung zu bestimmten Aufgaben über die Gaben legitimiert?

Ja, das kann man so sagen. Die Aufgabe der Leitung wurde Leo Bigger und Matthias Bölsterli von Gott zugesprochen, wodurch sie sich auch über Gott legitimieren liess (3). Die Gaben spielten dabei eine wichtige Rolle. In einem Kurs, an dem ich teilnahm, wurde auch ein Gabentest durchgeführt. Die Beantwortung einer Reihe von Fragen führte dabei zum Erkennen der eigenen Gaben. Das Ergebnis wurde als ziemlich wichtig erachtet. So wurde offiziell darauf Wert gelegt, dass offene Stellen mit Personen besetzt wurden, die über die dazu notwendigen Gaben verfügten. In der Praxis allerdings wurden diese einfach an Personen vergeben, die von der Leitung als geeignet befunden wurden. Zentral war dabei, dass die Person „cool“ war, also einen guten „Style“ hatte, gut aussah und bei den Leuten gut ankam. Intellektuelle Fähigkeiten standen eher im Hintergrund.  

 

Kannst Du mir beschreiben, wie das Leitungsteam organisiert war?

Offiziell war Leo Bigger der Senior Pastor und Matthias Bölsterli der Junior Pastor. Ich erlebte es aber eher so, dass Matthias Bölsterli das Hirn und Leo Bigger der Macher war. Matthias Bölsterli und Leo Bigger bestimmten zusammen, was lief - natürlich im Gebet mit den anderen. Ihre Frauen waren nicht sehr präsent.

 

Wie steht die ICF zu der Gleichberechtigung der Geschlechter?

In diesem Punkt war die ICF nicht sehr klar. So wird in der Bibel ausdrücklich erwähnt, dass Frauen von der Leitung des Gottesdienstes ausgenommen sind. In der ICF durften die Frauen aber predigen. Die Abweichung wurde damit begründet, dass es früher einfach anders war und kulturelle Wandlungen stattgefunden haben. In Bezug auf die Ehe wurde dann aber doch die Meinung vertreten, dass der Mann das letzte Wort hat und im Zweifelsfall entscheidet.

 

Wie gut kanntest Du die Leiter und wie hast Du den Kontakt zu ihnen erlebt?

Ich kannte sie vor allem von den Lagern und von gelegentlichen Kontakten im Office. Ich kannte sie, aber nicht sehr gut. Sie waren immer darauf aus, lässige Leute zu finden, die sie in ihr Führungsteam einspannen und „fördern“ konnten, wie sie das nannten. Auch ich wurde von Andy Strupler, dem Leiter des Youth Planets, mehrmals darauf angesprochen, ob ich nicht einsteigen wolle, ich sei lässig und käme bei den Jugendlichen sicher gut an (4). Und die Jugendlichen seien ja wichtig, weil es erwiesen sei, dass sich die meisten bis zwanzig bekehren lassen und nachher nicht mehr. Man fand sie einfach lässig, diese Leiter. Mir waren sie allerdings nie wahnsinnig sympathisch. Auch ihre Predigten genügten meinen intellektuellen Ansprüchen nicht. Im Kontakt mit den Gläubigen gaben sie sich freundschaftlich und hilfsbereit, verfolgten aber immer die Interessen der Kirche. Als sie beispielsweise einen lässigen Sänger trafen, wurde dieser kurzerhand zum neuen Bandleader im Gottesdienst bestimmt und der bisherige musste gehen. Das konnte sehr schnell geschehen. Es gab verschiedene solche Situationen.

 

Wie wurde mit solchen Erlebnissen umgangen?

Da gab es jeweils ein kurzes Zerwürfnis, bis die neue Situation als das Beste für alle akzeptierte wurde. Man äusserte ja sowieso keine Kritik, weil Kritik ein Zeichen dafür war, dass man von Satan in Versuchung geführt wurde und vom Glauben abkam. Aus diesem Grund sprach man untereinander nicht gross über solcher Ereignisse. Man war sehr unkritisch, was sich auch in der Geschichte um den Neubau zeigte. Irgendwann erzählte Leo Bigger in einem Gottesdienst, dass er auf einen Berg gestiegen sei und dort die Vision hatte, dass Gott wolle, dass sie ein eigenes Gebäude bauen. Gott habe ihm zugesichert, dass, wenn die Ausgaben für den Neubau durch Spenden von den ICFlern zusammenkommen, ein reicher Christ erscheint, der der ICF Bauland zur Verfügung stellt. Ich kenne einige, die daraufhin ihr ganzes Vermögen der ICF bzw. dem Neubaufond überschrieben haben (5). Es war zwar nicht viel, vielleicht ein paar tausend Franken, die aber doch deren ganze Ersparnisse umfassten. Man wurde auch dazu ermuntert, den Fernseher zu verkaufen und in WGs zusammenzuziehen. In den Predigten wurde immer wieder auf die Bibelstellen im Alten Testament verwiesen, in denen vom Tempelbau die Rede war. Der Neubau hätte auch grossartig werden sollen, mit Sprudelbad und Dreifach-Turnhalle. Die Zeit verging, der reiche Spender liess aber auf sich warten. Das war der Stand, als ich ausgestiegen bin. Die Geschichte um den Neubau brachte mich ebenfalls zum Nachdenken. Ich habe gehört, dass das Ausbleiben des reichen Christ später damit erklärt wurde, dass sich die ICFler zu sehr auf den Neubau gefreut und darüber Gott ganz vergessen hätten. Deshalb sei Gott eifersüchtig geworden (6).Diese Erklärung wurde kritiklos hingenommen. Auch dass ihr Geld im Neubaufond brach liegt, wurde akzeptiert. Für meine Bekannten in der ICF ist einfach klar, dass sie ihr Geld Gott gegeben haben und daher damit schon das Richtige geschieht.

 

Wie hoch war der Druck auf den Einzelnen, die ICF finanziell zu unterstützen? 

Es war üblich, dass man der ICF zehn Prozent seines Einkommens abgab. Meistens geschah dies mittels eines Einzahlungsscheins, es wurde aber auch empfohlen, einen Dauerauftrag einzurichten. Ich wurde im Office zufällig Zeuge einer Unterhaltung, wie man auf Spendenrückgänge zu reagieren habe. Personen sollen nicht direkt angesprochen, sondern die Verpflichtung zur Spende in der nächsten Predigt thematisiert werden. Druck auf den Einzelnen wurde ausgeübt, indem darauf hingewiesen wurde, dass die Abgabe des Zehnten eine Pflicht sei und Gott alle Verfehlungen sehe. Man durfte einen Teil des Zehntens auch nicht für andere Organisationen wie beispielsweise Missionswerke einsetzen, wie dies viele von uns am Anfang machten. Der Zehnte war ganz für die ICF bestimmt. Man durfte gerne mehr geben, der Zehnte als Mindestbetrag für die ICF blieb aber unangetastet.

 

Wurde das überprüft?

Überprüft nach Person wurde es nicht, bzw. es wurde niemand direkt darauf angesprochen, dass er den Zehnten nicht bezahlte. Das hat es nicht gegeben, ich hörte jedenfalls nie davon. Ein Teil der Spenden wurde ja auch während des Gottesdienstes abgegeben. Pro Sonntag kamen schon zwischen 2000.- und 4000.- Franken zusammen. Der ICF ging es finanziell sicher gut, was auch an ihrer technischen Ausrüstung im Gottesdienst zu sehen war. 

 

Die sogenannten g/12-Gruppen sollen ja eingeführt worden sein, um den Missionsdruck zu erhöhen (7). Wie hast Du das erlebt?

In einer gewissen Weise erlebte ich diesen Druck auch. Da in den Predigten stets darauf hingewiesen wurde, dass wir die Erretteten seien und die anderen in die Hölle kommen, begann man sich um Personen zu sorgen, die man kannte und die nicht gläubig waren. Weil man dachte, dass sie ewig in der Hölle schmoren würden, wollte man sie unbedingt bekehren. Es wurde aber nicht direkt Druck auf die Gläubigen ausgeübt. So wurden beispielsweise von den Leitern auch keine Vorwürfe erhoben, wenn man noch niemanden bekehrt hatten. Aber natürlich standen die Workshopleiter schon besser da, wenn sie einen Workshop führten, der sich ständig teilte und neue Ableger bildete. Der Druck war eher von subtiler Natur. 

 

Du hast vorher erzählt, dass deine Zweifel eher das Glaubensbekenntnis der ICF betrafen und weniger die Organisation?

Ja, ich dachte damals nicht gross über die Organisation nach. Mich störte allerdings die Tendenz zur Zentralisierung. Während die Workshops zu Beginn relativ offen waren und selbst gestaltet werden konnten, wurde mit der Zeit immer mehr vorgeschrieben. Die ICF wurde auch immer grösser und immer perfekter organisiert, was mir nicht entsprach. In dieser Zeit las ich „1984“ von Georg Orwell und es kam mir so vor, als ob es in der ICF Parallelen dazu gäbe. Ausschlaggebend dafür, mich meinen Zweifel endlich zu stellen, war allerdings, als ich mir eingestehen musste, mich in einen Mann verliebt zu haben. Und das war natürlich nicht möglich. Dieses Erlebnis war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Ich war dadurch gezwungen, mich nochmals mit der Lehre auseinanderzusetzen: Hätte ich diese für mich als richtig erachtet, hätte ich diese Seite meiner Sexualität weiterhin verdrängen und unterdrücken müssen. Ich versuchte es mit Beten und flehte Gott um Hilfe an, bis ich mir eingestand, dass das ganze Glaubensgebäude nicht stimmte.

 

Welche Haltung hat die ICF zur Sexualität?

Es wurde ganz klar von den Mitglieder gefordert, auf Sex vor der Ehe zu verzichten. Homosexualität kam gar nicht in Frage. Als in Zürich eine Gayparade stattfand, meinte Matthias Bölsterli in seiner Predigt, dass man in der ICF ja schon tolerant sei, aber was die Schwulen da veranstalten, ginge dann doch zu weit. Die Gemeinde reagierte mit tosendem Applaus auf diese Worte. Einige Zeit lang wurde der Sonntagsgottesdienst nur noch für Aussenstehende, für „VIPs“ durchgeführt. Die Predigten waren von einfachem Inhalt, so dass sie auch für Personen verständlich waren, welche die Bibel nicht kannten. Für Mitglieder fand dann einmal im Monat eine sogenannte „ICF-Night“ statt, die ein bisschen biblischer ausgerichtet war. In diesen Veranstaltungen wurden die Gläubigen dazu aufgerufen, ihre Sünden zu bekennen. Dem Aufruf folgend gingen viele Gläubigen auf die Bühne gingen, knieten nieder und um Vergebung beteten. Dazu lief einlullende Musik. Die bekennten Sünden konnten sich auf die Sexualität, aber auch auf verstecktere Bereiche beziehen. So fand ich immer wieder neue Sünden, die meine Zweifel am Glauben erklärten. Wenn ich nach vorne ging und um Vergebung betete, fühlte ich mich für eine Woche besser, bis ich wieder gleich weit war wie vorher. Die ICF vertrat insofern sehr rigide Moralvorstellungen.

 

Wurden die Sünden öffentlich ausgesprochen?

Ja, aber nicht vor allen Gläubigen, da viele Personen auf die Bühne gingen. Es gab „Helfer“, die zu den Personen gingen, mit ihnen beteten und sie fragten, welche Sünden oder Probleme sie hätten. So entstehen schon Abhängigkeiten. Solche Prozesse scheinen zur Zeit auch in den g/12-Gruppen abzulaufen.

 

Wie ging man denn mit diesen Sünden um?

Wenn man Gott um Vergebung bat, dann war es in der Regel auch wieder gut. Wenn jemand beispielsweise ungewollt schwanger war, war man schon dazu bereit, ein Auge zuzudrücken. Es wurde dann einfach schnell geheiratet.

 

Wussten Matthias Bölsterli und Leo Bigger über solche Ereignisse Bescheid? Waren sie innerhalb dieses Workshop-Modells noch mit der Basis verbunden?

Sie kamen durchaus zu solchen Informationen. Wir waren beispielsweise in unserem Workshop mit dem Problem konfrontiert, dass ein Liebespaar zusammenzog, ohne verheiratet zu sein. Der Workshopleiter machte sie dann darauf aufmerksam, dass dies gefährlich sei und sie sicher nicht voneinander lassen könnten. Da die Ermahnung des Leiters jedoch nichts bewirkte, wurde ein Gespräch mit Matthias Bölsterli vereinbart. Die beiden traten dann aber aus, bevor das Gespräch stattfand. Da die Workshopleiter solche Informationen weitergaben, drangen sie auch bis zur Spitze durch.

 

Bildeten sich viele Pärchen unter den Leuten, die Du kanntest?

Nicht sehr viele, aber einige schon. Viele blieben allerdings solo, geheiratet wurde ab und zu. Aber es wurde sehr gefördert und auch Heiratsvorbereitungskurse angeboten. Heirat galt als etwas Erstrebenswertes und Sex wurde als etwas Schönes erachtet, sofern er in der Ehe verankert war. Im Unterschied zu anderen Freikirchen wurde Sex und auch Schönheit in der ICF fast ein bisschen verherrlicht. Es war wichtig, cool zu sein, „Style“ zu haben. Wenn man nicht cool war, stieg man in der ICF auch nicht auf: Nur die lässigen Leute erschienen auf der Bühne, predigten oder sangen. Dies führte dazu, dass man nie jemanden sah, der dick war. Aber auch im Ordnungsdienst wurden beispielsweise die Aufgaben nach der Erscheinung der Personen verteilt. Der Ordnungsdienst war während des Gottesdienstes zuständig für die Räumlichkeiten, das Verteilen der Programme und die Begrüssung der Gläubigen an der Türe. Diese Aufgabe war besonders begehrt, da man gesehen wurde und Gelegenheit hatte, mit den Gottesdienstbesuchern zu plaudern. Nur als lässig erachtete Personen wurden dafür eingesetzt. Einmal wurde ich Zeuge, wie Matthias Bölsterli sich bei dem Leiter einer solchen Ordnungsgruppe beschwerte, weil dieser die Begrüssung einem weniger vorteilhaft wirkendem Mitglied seiner Gruppe überliess. Matthias Bölsterli wies ihn an, den Betreffenden nicht mehr an den Eingang zu lassen und im Hintergrund einzusetzen, da er nicht lässig wirke. Da das Hauptaugenmerk der ICF auf Wachstum gerichtet war, wurde der Einzelne diesem Ziel untergeordnet. Es war plötzlich auch nicht mehr wichtig, dass jeder Einzelne vor Gott ein besonderes Wesen ist.

 

Wie waren Personen, die dem Bild des lässigen, jungen Gläubigen nicht entsprachen, integriert und in der Gruppe eingebunden?

Es gab viele Leute, die sehr labil waren und in der Gemeinschaft Halt suchten. Solche Leute wurden einfach geduldet. Ich hatte beispielsweise einen Kollegen, der paranoid war und überall Satanssymbole sah. Das wurde einfach hingenommen und man widersprach ihm auch nicht. Man dachte bei sich vielleicht schon, dass er ein bisschen übertreibt, aber man sprach ihn nicht darauf an, weil es im Grunde biblisch war, was er erzählte. Solche Personen waren vorwiegend im Rahmen des Workshops integriert. So war das Gefühl, in der ICF eine Gemeinschaft und eine Familie zu finden, vorwiegend darauf zurückzuführen, dass die Gläubigen im Workshop miteinander verbunden waren und sich an den Gottesdiensten als Teil einer Gruppe erlebten. Auch ich fand in dieser Gemeinschaft starken Halt. Man fühlte sich nie alleine, man hatte das Gefühl, dass immer jemand da war. Der Einzelne verschwand aber in seiner Eigenart und mit seinen konkreten Problemen auch ein bisschen in der Gruppe. Da die göttlichen Gesetze und die Bibel als wichtiger erachtet wurden als das persönliche Empfinden, trat das Individuum zwangsweise in den Hintergrund. Es gab aber ein spezielles seelsorgerisches Angebot für Personen, die Probleme hatten. Zu meiner Zeit war dies allerdings sehr unprofessioniell geführt und die Seelsorger waren nur intern ausgebildet. Leute, die seelsorgerische Dienste in Anspruch nahmen, sprachen auch nicht darüber. Bei Aktivitäten der ICF wurden labile oder sonst von der Norm abweichende Leute im Hintergrund gehalten. Dies war kein offizielles Gesetz, wurde aber so praktiziert. Weil die Leitung stark auf Wachstum erpicht war, musste alles lässig, toll und cool wirken.

 

Welche Rolle spielte die Lehre bei diesem Ziel des Wachstums?

Die Lehre der ICF rückte durch den ständigen Wechsel in den religiösen Praktiken und in der Organisation in den Hintergrund. So wurden dauernd neue Konzepte und Ideen anderer „Mega-Churches“ übernommen. Als ich der ICF beitrat, war sie nach Vorbild einer koreanischen Kirche organisiert, die über Hauszellen funktionierte, später wurde dann nach dem Vorbild einer amerikanischen Kirche Workshops gegründet. Das heutige Konzept der g/12-Gruppen ist hingegen von einer südamerikanischen Gemeinde abgeleitet. Es wurden auch verschiedene Gebetsarten praktiziert. Es gab beispielsweise ein koreanisches Gebet, während dem in der Gruppe alle laut vor sich hin beteten und das beinahe zu einem Geschrei ausartete, durch welches man Jesus lobte und pries. Auch in den Gottesdiensten wurden immer wieder neue Themen aufgenommen, wie beispielsweise das Fasten, woraufhin alle zu fasten begannen und Fasten lässig fanden. Bis ein neues Thema Geltung erlangte. Einen wichtigen Stellenwert hatten sogenannte Prophetien. Propheten waren Menschen auch aus anderen Kirchen, denen man die Gabe der Prophetie zusprach. Ihre Aussprüche wurden ernst genommen und fanden auch in den Zielsetzungen der ICF Geltung. Es schien, als ob die ICF immer wieder neue Kicks brauchten, damit die Leute dabei blieben. Da immer etwas lief, hatte man gar keine Zeit, um über die Lehre nachzudenken.

Austritt

Wie hast Du die Zeit Deines Austrittes erlebt?

Es war eine schwierige Zeit, da ich eigentlich nicht aus der ICF austreten wollte: ich fühlte mich in der Gemeinschaft wohl und hätte meine Fragen und Zweifel gerne in der Gruppe besprochen. Sobald ich diese aber ansprach, brachen meine Freunde das Gespräch ab. Ich wurde einfach nicht zur Kenntnis genommen. Ich hatte beinahe das Gefühl, ich spinne, weil niemand zuhörte. Aber sie wollten sich mit meinen Fragen nicht auseinandersetzen, so wie auch ich mich diesen lange nicht stellte. Will man in der Gemeinschaft bleiben, ist man dazu gezwungen, gewisse Themen und Fragen auszublenden. So empfand ich die Auseinandersetzung damit mehr als einen Zwang, obschon ich jetzt froh darüber bin. In dieser Zeit der Zerrissenheit rief mich dann jemand vom Leitungsteam an und wollte von mir wissen, wo mein Herz stehe. Ich merkte dann aber, dass ein Gespräch nicht möglich war. So tat sich auch im Verhältnis zu meinen Freunden sehr schnell ein Graben auf, weil ich nicht mehr dazu bereit war, fraglos an Dinge zu glauben, und sie ihren Glauben nicht hinterfragen wollten.

 

Hast Du ihnen gesagt, wieso Du austrittst?

Ich habe ihnen nicht gesagt, dass ich mich in einen Mann verliebt hatte, stellte aber intellektuelle Fragen und wies auf Widersprüche in der Bibel hin. Ich machte mir dann die Mühe, die Bibel genau zu lesen, und begann mich auch mit Philosophie zu beschäftigen. Aber solche Dinge interessierten meine Freunde nicht.

 

Du lebtest damals mit Personen aus der ICF zusammen und Dein ganzes Beziehungsnetz war in der ICF verankert. Wie hast Du diesen Bruch erlebt?

Die WG löste sich sehr bald auf. Es war eine sehr unangenehme Zeit, ich möchte dies nicht nochmals erleben. Ich fühlte mich sehr alleine und musste mir eine neue Basis aufbauen. Ich war gezwungen, Antworten darauf finden, woran ich glaube und wofür ich lebe. All diese Grundsätze habe ich mir darauffolgend selbst neu erarbeiten. Das war für mich eine schwere Zeit. Zum Glück verliess zur selben Zeit auch eine gute Freundin die ICF, so dass wir uns gegenseitig unterstützen konnten. Es kamen im Laufe der Zeit noch andere ehemalige ICFler dazu, so dass wir eine Gruppe bildeten und uns regelmässig trafen. Wir sehen uns auch heute noch und reden über die ICF, weil es ein Thema ist, dass uns immer noch begleitet und bis zu einem gewissen Grad auch belastet. Ich schaue mir manchmal die Homepage der ICF an, um zu sehen, wie sie sich weiter entwickelt. Es sind auch noch Personen Mitglieder, die ich gern hatte und die ich vermisse. Es tut mir weh, dass ein Gespräch mit ihnen nicht möglich ist und sie sich von mir angegriffen fühlen. Durch die Erfahrung in der ICF habe ich aber auch vieles über mich selbst und über Mechanismen von solchen Gruppen gelernt.

 

Wie stehst Du heute zur Religion? Bist Du Mitglied in einer anderen Gemeinde?

Ich bin gar nicht mehr religiös. Lange war alles Religiöse ein Reizthema, heute habe ich ein lockeres Verhältnis zur Religion und zum Glauben, beschäftige mich selbst aber mehr mit Philosophie und Ethik.

 

 

Vielen Dank für das Gespräch.

Zürich, 1. Juli 2003

Fussnoten

(1) Die ICF verfügt nicht über eine formale Mitgliedschaft. Siehe dazu Stellungsnahme der infoSekta zur ICF.

(2) Anm.d.V.: Leo Bigger ist sowohl Vorstandspräsident der „icf-zürich“, als auch Vorsteher des Leitungsteams, dem Geschäftsleitungsaufgaben obliegt. 

(3) Anm.d.V.: Matthias Bölsterli ist ebenfalls Mitglied des Vorstands und des Leitungsteams.

(4) Anm.d.V.: Andy Strupler ist Mitglied des Leitungsteams der ICF. Ihm unterstellt ist das „Youth Ministry“, welches ein spezielles Programm für Jugendliche anbietet.

(5) Anm.d.V.: Gemäss Aussagen von Daniel Linder, Mitglied des Vereinsvorstandes und des Leitungsteams der ICF, handelt es sich dabei nicht um einen Fond, der einer Stiftung unterstellt ist, sondern lediglich um ein ausgegliedertes Konto. 

(6) Anm.d.V.: Inzwischen hat die ICF im Maag-Areal am Escher-Wyss-Platz in Zürich Aussersihl passende Räumlichkeiten gefunden, die allerdings nur gemietet und nicht gekauft werden. 

(7) Anm.d.V.: Die g12-Gruppen ist das Nachfolgemodell der Workshops. Sie sind in ein Jüngerschaftssystem integriert, das auf Mission ausgerichtet ist.  

Appendix

Friess, Sonja (2003): „Es war wichtig ‚cool‘ zu sein, ‚Style‘ zu haben“: Interview mit einem ehemaligen „Mitglied“ der „International Christian

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