"...denn jeder Christ ist ein Holzstück im brennenden Feuer." (Deckert/Lüthi, 2000)

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von Gespräch von Bruno Deckert mit Susanna Lüthi


Einleitung

Bruno Deckert im Gespräch mit Susanna Lüthi anlässlich der infoSekta Generalversammlung vom 23. März 2000. Susanna Lüthi war sieben Jahre lang in charismatischen Freikirchen engagiert. Seit 1999 führt sie als diplomierte Erwachsenenbildnerin die "Beratungsstelle Glaube – religiöser Missbrauch – Sucht" im Kanton Bern (Aarestrasse 18, 3627 Heimberg). Info zur GfU von Philipp Flammer, transkribiert und überarbeitet von Susanne Schaaf und Monika Zwimpfer.

Gespräch

Beitritt

Bruno Deckert: Frau Lüthi war einige Jahre lang aktives Mitglied in verschiedenen charismatischen Freikirchen, durchlief einen Prozess der Loslösung und setzt sich heute aus einer anderen Perspektive wieder mit diesem Thema auseinander. Dass wir in diesem Rahmen die Möglichkeit erhalten, durch eine direkt betroffene Person eine persönliche Innensicht zu gewinnen, ist eine seltene Gelegenheit. Schildern Sie uns doch bitte, wie es überhaupt dazu kam, dass Sie einer solchen Gemeinschaft beigetreten sind?

Susanna Lüthi: Ich war von 1987 bis 1993 dabei, knapp sieben Jahre. In den Jahren davor, im Alter von 20 bis 27 Jahren, war ich ein sinnsuchender Mensch. Ich habe nach dem Sinn gesucht, den es im Leben doch geben sollte, habe viel gelesen, viele Leute gefragt: Aus welcher Kraft heraus lebst Du? Welchen Sinn hat das Leben für Dich? Brauchbare Antworten habe ich eigentlich nicht erhalten. Die meisten haben mir irgendetwas erzählt, haben mir Bücher in die Hand gedrückt mit der Bemerkung: Hier findest Du Antworten. Die ganze Literatur – von Urknallberechnungen bis zu buddhistischen Lehren – hat mir schlussendlich nichts gebracht. Eines Tages sah ich bei jemandem zu Hause die Bibel im Büchergestell stehen und fragte, ob ich sie lesen dürfe. Ich habe dann das Neue Testament gelesen und festgestellt, dass es Anleitungen enthält: es steht etwas geschrieben über Sünde, Liebe und Vergebung, über den Vater Gott.
 Ich war damals 27 Jahre alt, zwei Söhne, war seit drei Jahren geschieden und die neue Beziehung war auch wieder gescheitert. Ich war wirklich orientierungslos und offen für eine Anleitung für mein Leben und in welche Richtung es gehen soll. Es muss doch mehr geben als nur das ständig Brüchige. Und gerade hier hat die Botschaft der Liebe und der Vergebung voll eingeschlagen. Vor allem die Aussage, Jesus wird Dich nie verlassen, hat mich sehr berührt.
 Dann wollte ich unbedingt Leute treffen, die an die Bibel glauben, denn ich kannte eigentlich niemanden, der den Glauben aktiv praktizierte. In unserer Verwandtschaft gab es eine sogenannt „fromme“ Person. Ich rief sie an und sagte, ich hätte die Bibel gelesen und möchte wissen, wo sie am Sonntag jeweils hingehe. Sie nahm mich liebend gern an einen Gottesdienst der GfU, Gemeinde für Urchristentum, mit. Ich war völlig überwältigt von der Art des Gottesdienstes. Während des Lobpreis‘ standen alle Anwesenden und hielten die Hände in die Höhe. Ich dachte, wow, alle hier glauben an Gott, alles erwachsene Leute. Und alle sind so glücklich! Sie sangen ihr Lied „Fröhlich, fröhlich ist der zu Jesus gehört“. Das brachte mich völlig durcheinander: ich habe praktisch den ganzen Gottesdienst lang geheult. Für mich ergab sich daraus eine völlig neue Perspektive. Am Schluss kam ein Prediger auf mich zu und sagte: „Schön, dass Du da bist; ich sehe Dich heute zum ersten Mal, super. Kommst Du nächste Woche wieder vorbei? Können wir uns mal treffen?“ So kam es denn: ich besuchte ihn und seine Frau zuhause. Sie fragten mich, ob ich Jesus kenne. Ich sagte nein, aber ich habe die Bibel gelesen. Sie zeigten mir einen Jesus-Film. Danach fragten sie mich, ob ich Jesus als meinen Herrn und Erlöser annehmen wolle. Ich wollte. Daraufhin folgte die Bekehrung, d.h. Sündenbekenntnis und Lebensübergabe-Gebet. Das Gebet sprach mir das Ehepaar vor. Nun war mir alles vergeben, ich übergab mein Leben Jesus und konnte ein neues Leben beginnen.
 Was schliesslich dazu beigetragen hat, dass ich bei dieser Gemeinde blieb, war folgende Bemerkung beim Abschied an jenem Abend: Jetzt bist Du ein Kind Gottes. Schön, aber Christin kannst Du nicht ohne Gemeinschaft sein. Wenn Du Christin wirst, dann beginnt ein neues Leben. Was Du jetzt brauchst, ist geistliche Nahrung. Das beste ist, Du kommst regelmässig in unsere Gemeinde, auch in die Bibelstunde, damit Du Gottes Wort kennen lernst. Bildlich gesprochen: jeder Christ ist ein Holzstück im brennenden Feuer. Nimmst Du das Stück und legst es neben das Feuer, so erlischt es. So sieht es auch mit dem einzelnen Christen ohne Gemeinde aus.

 

Das Leben in einer charismatischen Freikirche

Wie ging es dann nach der euphorischen Anfangszeit weiter?

Die euphorische Zeit hielt noch eine Weile an. Mit dem Christsein ergaben sich so viele neue Perspektiven. Am Dienstag ging ich in den Hauskreis, am Donnerstag in die Bibelstunde, am Sonntag in die Predigt. Ich lernte ständig. Von allen wurde ich freudig aufgenommen, alle wollten immer wieder meine Bekehrungsgeschichte hören. Ich erzählte sie mehrfach, und alle riefen „halleluja, wie schön und gut ist Gott“. Es war wirklich grossartig, dass sich alle mit mir freuten. Ich lernte die ganze Terminologie und erhielt die Gewissheit, dass Jesus der einzige Weg, die einzige Wahrheit ist, dass man bei Gott und Jesus alles hat, und dass, wer Jesus annimmt, erlöst ist und in den Himmel kommt. Wer seine Sünden bekennt, gehört dazu. Ich lernte auch, dass Gott für jeden Menschen einen Plan hat. Darum sollst Du Gott suchen, denn er wird Dir sagen, was er für Dich geplant hat. Höre auf seine Stimme. Um Gott zu kennen, muss man wiederum die Bibel kennen. Sie gilt als die absolute Wahrheit, als Gottes Wort, das an uns gerichtet ist. Ich habe wie vergiftet in der Bibel gelesen, immer und immer wieder, bis ich das Gefühl hatte: jetzt weiss ich, was Gottes Wille ist.
 Ein weiterer Punkt ist, dass der Mensch grundsätzlich als sündig angesehen wird. Durch die Erbsünde sind wir sündig und schuldig geworden. Alles Sündige müssen wir daher immer wieder bekennen, so funktioniert der Reinigungsprozess. Das neue Leben mit Jesus schafft einen neuen Menschen. Diese Heiligung hat mir eingeleuchtet: ja, Jesus soll in mir wohnen. Ich werde daher bekennen, immer wieder. Ich habe täglich gelesen und gesungen. Auch im Alltag singt man innerlich Gott,  damit man nicht auf andere Gedanken kommt. Ständig ist man mit Gott beschäftigt. Es ist eine Doktrin, sich immer mit Gott auseinanderzusetzen, alle Gedanken auf Gott auszurichten, damit der Teufel nicht via schlechte Gedanken in den Menschen eindringen kann.

Wie müssen wir uns das Leben in einer charismatischen Freikirche vorstellen? Was empfindet man? Wie geht man miteinander um?

Charisma heisst Gabe, die Gabe vom Heiligen Geist, dem Stellvertreter Jesu. Folgendes Bild soll verdeutlichen, was charismatisch heisst: der Mensch ist vom Heiligen Geist umgeben, der seit Pfingsten auf dieser Welt ist. Jeder Mensch, der jesusgläubig wird, öffnet sich diesem Heiligen Geist und erhält auf diese Weise einen Zugang zu Gott. Er ist quasi an ihn angeschlossen. Der Heilige Geist dringt in den Menschen ein und soll ihn mehr und mehr ausfüllen. Er dringt in jeden Bereich des Lebens ein. Dabei gilt: je mehr Heiliger Geist, desto mehr Gott ist da. Innerhalb der Gemeinschaft achtet man darauf, wer über welche Gabe verfügt. In der Bibel sind die verschiedenen Gaben beschrieben: Weissagung, Prophetie, Krankenheilungen etc. Man geht davon aus, dass diese Dinge tatsächlich existieren. Je stärker der Heilige Geist einen Menschen ausfüllt, desto stärker kann er mit diesen Gaben wirken. An einem Sonntagsgottesdienst beispielsweise, im Lobpreis, teilt der Heilige Geist einzelnen Anwesenden etwas mit. Die Betroffenen haben innere Bilder, gehen nach vorne und erzählen ihre Eingebungen via Mikrophon. Daraufhin passiert entweder etwas – oder es passiert nichts. Ausserhalb des Gottesdienstes ist der Umgang untereinander normal. Man fragt vielleicht öfter nach: wie geht es Dir heute? Wollen wir beten? Für jedes Anliegen, für jede Entscheidung wird gebetet. Ständig wird für alles gebetet. 

Gibt es Personen, die sich innerhalb der Gemeinschaft stärker auszeichnen können oder dürfen, bei denen man merkt, dass sie in einem besonderen Mass mit diesen charismatischen Gaben „gesegnet“ sind?

Das merkt man deutlich, ja. Es sind Leute, die sich offenbaren, die ihre inneren Eindrücke und Bilder mitteilen. Je mehr sie sich mitteilen, desto stärker haben die anderen das Gefühl, sie hätten diese Gaben.

Hatten Sie auch von sich selber den Eindruck, Sie stünden hier an vorderer Front?

Ja, das hatte ich natürlich schon. Das wurde auch von verschiedenen Seiten an mich herangetragen. Ich machte bei allem mit, was im Rahmen der GfU und deren Umfeld angeboten wurde. Ich nahm an Vorträgen und Seminarien von berühmten Leuten teil. Da war ich immer mit dabei. Man will ja immer mehr von diesem Heiligen Geist, es ist beinahe eine Sucht. Als dann sogar die Leute vom John Wimber am Ende einer Seminarwoche auf mich zukamen und sagten, Du hast die Gabe der Heilung, war für mich vollkommen klar: ich wollte, dass Gott durch mich wirken konnte. So wurde ich in meiner Gemeinde aktiv und teilte mit, wo und wie der Heilige Geist heute wirken will. Die Anwesenden haben meine Eindrücke und Aufforderungen befolgt und dies mit der Zeit auch von mir erwartet. Ich hatte auf jeden Fall das Gefühl, ich gehorche dem Heiligen Geist und tue Gottes Wille.

Gibt es interne Gratifikationen und Möglichkeiten, mehr als die andern zu erreichen, mehr Zuwendung, mehr Beachtung? Die Möglichkeit einer internen Karriere?

Ja, das gibt es.

Sie konnten dort diese Art Karriere machen?

Ja (lacht). Als ich das ganze Angebot der GfU ausgeschöpft hatte – ich hatte zweimal an Grossevangelisationen teilgenommen, die Kurse besucht und alles mitgemacht, was unsere Gemeinde zu bieten hatte – dachte ich, das kann es ja wohl nicht gewesen sein. Ich schaute mich nach weiteren Entwicklungsmöglichkeiten um und bin einem Propheten begegnet, der mir sagte: Gott hat Grosses mit Dir vor. Ich fand eine andere Gemeinschaft, eine Splittergemeinschaft des CEVI in Thun. Sie suchten gerade neue Vorstandsmitglieder und so stiess ich dazu. Ich sorgte dafür, dass dieser Prophet einmal im Monat zu uns kam. Er fragte mich, ob ich von ihm prophetisches Beten lernen wolle und ob ich als Mitarbeiterin an seinen Seelsorgeseminaren teilnehmen wolle. Natürlich wollte ich. So kam ich rasch weiter. In unserer Gemeinde, habe ich auch manchmal in der Funktion der Gemeindeleitung eine Predigt gehalten, das Abendmahl ausgeteilt und einfach alles gemacht, was dazugehört. Das war nach dreieinhalb Jahren Christsein.

 

Erste Reibereien

Ich nehme an, irgendwann kamen dann die ersten Reibereien. Was ist passiert?

Es gab Spannungen in der neuen Gemeinschaft. Unser Leiterehepaar vertrat je länger je mehr eine eigene Sichtweise. Die Eingebungen und Aufträge, die es angeblich von Gott erhielt, waren völlig unkritisierbar, unkorrigierbar. Die zehn Personen im Vorstand waren nicht immer einverstanden, doch deklarierten sie ihr Unbehagen nicht deutlich genug. Diese Unfähigkeit, miteinander zu sprechen, ging mir an die Substanz. Es entstanden Untergruppen und verhärtete Fronten. Zudem gab es vermehrt Widersprüche, die mit der Zeit immer offensichtlicher wurden. Ich denke z.B. an die Aussage, dass man von Gott bedingungslos geliebt wird. Dies stand plötzlich im Gegensatz zu all den Sünden, die man täglich bekennen musste. All die Anforderungen, die in den Paulus-Briefen stehen und wortwörtlich übernommen wurden, glichen einer Drohfingerpredigt: Wer sich nicht heiligt, wird Gott nicht sehen. Wenn Du dies oder jenes nicht erfüllst, wird Dich Jesus nicht annehmen. So steht‘s in der Bibel. Alles wurde immer mit der Bibel begründet. Sogar die Widersprüche.
 Man gibt sich völlig auf, seine Gedanken, seine Gefühle. Das eigene Ich wird begraben. Gleichzeitig besteht eine permanente Unsicherheit, ob man nun wirklich dabei ist. Ich litt unter diesem Zwiespalt. Irgendwann kam bei mir der Moment, wo ich dachte, entweder schnappst Du nächstens über oder Du hörst sofort mit dem ganzen auf. Das war schliesslich die Konsequenz.

Das war sicher eine längere Phase. Wie erlebten Sie die  Zeit, als die Unsicherheit wuchs, als Sie mit sich gerungen haben?  Wie haben Sie darauf reagiert?

Zu Beginn bezog ich alles auf mich und meinte, ich glaube zu wenig. Wenn man den Leuten aus der Gemeinschaft von seinen Zweifeln erzählte, wurde gleich nach unentdeckten Sünden gesucht. Den Fehler habe ich nie im System gesucht, sondern nur bei mir. Bis es einfach nicht mehr ging.

Was war das für ein Punkt?

Es war ein innerer Punkt in meinen Gedanken. Ich sah in mich hinein und stand vor einem riesigen schwarzen Loch. Ich hatte das Gefühl, wenn ich noch einen Schritt weitergehe, dann falle ich tatsächlich in ein schwarzes Loch und man kann mich in eine psychiatrische Klinik einweisen. An diesem Punkt wurde mir klar: jetzt muss ich aufhören und mich vom „frommen Zirkus“ lösen.

War das von einem Tag auf den anderen möglich?

Als ich an diesem Punkt angekommen war, kündigte ich sofort. Ich war ja als Seelsorgerin und Gemeindeleiterin angestellt. Ich hatte einen Monat Kündigungsfrist, den ich irgendwie überstanden habe. Diese Distanzierung war wirklich ein grosser Schritt für mich, den niemand innerhalb der Gemeinschaft verstand. Sie argumentierten: Du hast Dich so lange eingesetzt, warst so lange aktiv für Jesus, jetzt kannst Du doch nicht einfach aufhören!

Waren Sie auf diesem Weg ganz allein oder erhielten Sie Hilfe von aussen?

Hilfe erhielt ich letztlich nur von meiner Mutter. Alle Freundinnen und Kollegen in der Kirche meinten, dass wohl doch noch irgendwo ein rebellischer Dämon in mir stecke, den man noch nicht entdeckt hatte. Man hat mir alles Mögliche angedichtet, sich aber schliesslich damit abgefunden, dass nichts mehr zu machen war. Nun ja, so kam ich der Gemeinschaft abhanden. Nach meinem Ausstieg erhielt ich keinen einzigen Telefonanruf. Niemand aus der Gemeinschaft versuchte, mit mir Kontakt aufzunehmen. Von einem Tag auf den anderen gab es mich einfach nicht mehr. Seit dem halben Jahr, in dem ich nun als Beraterin tätig bin, werde ich gar als Feindin von Jesus abgestempelt. Das war die Realität an einem Ort, an dem man immer von Liebe sprach.

Aus dem Publikum: Haben während ihrer euphorischen Zeit Aussenstehende versucht, Sie zum Austritt zu bewegen?

Mit Aussenstehenden hatte ich gar keinen Kontakt mehr. Das war ja auch nicht nötig. Ich brauchte niemand anderen mehr. Wer nicht bekehrt, nicht christlich war, interessierte mich nicht. Ungläubige waren für mich Kinder des Teufels und deshalb gefährlich, eine Gefahr, mich vom richtigen Weg abzulenken. Da ging ich automatisch auf Distanz.

 

Austritt

Können Sie noch etwas über die Zeit nach dem Austritt erzählen? Wie haben Sie diese Zeit überstanden, wie ging es weiter?

Ich fiel in ein Riesenloch. Ein halbes Jahr lang tat ich nichts. Ich arbeitete nicht, war immer zuhause und orientierte mich nur am Stundenplan meiner Kinder. Vielleicht kann man das Depression nennen. Ich brauchte die Zeit, um über alles nachzudenken, habe aber bewusst nichts gelesen. Ich wollte einfach nur diese Zeit überstehen. Dann wollte ich wieder arbeiten, etwas ganz Normales. Ich fragte mich nach meinen Bedürfnissen, was nicht einfach war, denn genau das hatte mir die Gemeinschaft abgewöhnt: eigene Gefühle und Gelüste zu haben. Ich wollte im Strandband in einem Kiosk arbeiten und schaffte es: einen ganzen Sommer lang verkaufte ich Bonbons und Glacé und freute mich darüber, dass ich eine ganz normale Arbeit hatte. Im Herbst suchte ich einen anderen Job und fand eine Halbtagsstelle in einem Büro, wieder etwas ganz Normales und nichts Christliches. In den folgenden drei Jahren habe ich aktiv zu vergessen versucht, was hinter mir lag. Ich hatte überhaupt nichts mehr mit Christen zu tun. Nach diesen drei Jahren kam das Bedürfnis, etwas aus meinen Erfahrungen zu machen. Ich lernte Erwachsenenbildnerin. Ich holte die ganzen Erinnerungen wieder hervor, indem ich mich im Rahmen der Diplomarbeit ausgiebig mit Religion und Christsein befasste, diesmal aus einer anderen Perspektive, aus Bildungssicht: Wie bildet man Menschen? Wie werden biblische Aussagen dazu benützt, Menschen abhängig zu machen?

Wäre es vermessen zu sagen, dass ihr heutiges Engagement ein Versuch ist zu bestätigen, dass nicht alles umsonst war?

Ich kann nicht ausschliessen, dass das zutrifft. Allerdings habe ich nicht den Eindruck, alles sei umsonst gewesen. Tatsache ist aber, dass ich in der Zeit des Ausstiegs oder in der Phase davor, als ich aussteigen wollte und kämpfte, niemanden gefunden habe, der mich beraten und mir helfen konnte. Ich unternahm einige Anläufe und landete immer wieder bei frommen Leuten, auch bei einem frommen Pfarrer innerhalb der Landeskirche. Irgendwie zog ich das wohl an. Diese Berater arbeiten nach dem mir bekannten Muster: die Bibel steht im Mittelpunkt, und der Mensch wird ihr angepasst. Wieder wollte man mich in eine bibeltreue Form pressen. Deshalb bin ich auf die Idee gekommen, eine andere Art der Beratung anzubieten. Ich brauche diese Tätigkeit also nicht, um etwas wieder gut zu machen. Die Leute, die in meine Beratung kommen, bestätigen die Notwendigkeit meiner Arbeit. Zum Beispiel erzählte mir gerade heute morgen eine Frau, sie sei nun schon seit über zehn Jahren ausgetreten und die Sache mache ihr immer noch zu schaffen. Sie habe bis jetzt keinen Berater gefunden, der sie verstehe, der wisse, wovon sie spricht, wenn sie erzählt, wie sie sich in den Predigten unter Druck gesetzt fühlte.  Wer das nicht kennt, sagt sich schnell: das ist ein Fall für die Psychiatrie!

Sie sagten vorher, Sie haben eine eigene Sprache, eine eigene Terminologie gelernt. Vermutlich fühlen sich die Ratsuchenden daher sehr verstanden, weil sie diese Übersetzungsarbeit nicht mehr leisten müssen.

Ja, so ist es.

Die Zeit ist leider um. Gibt es etwas, was Sie noch sagen möchten, was Ihnen wichtig ist?

Zum Thema Frauen möchte ich noch anfügen: Ich staune, dass die Frauen in der Gemeinschaft akzeptieren, dass sie den Männern untertan sein sollen. Keine wehrt sich dagegen, einige verteidigen diese Haltung sogar. Es gibt auch Frauen, die Kopftücher tragen, weil es heisst, die Frau sei die Verführerin des Mannes und sie sei selber schneller verführbar. Ich frage mich, warum Frauen im 21. Jahrhundert noch derartige Vorstellungen glauben können. Auch hier steht es eben in der Bibel geschrieben. Für alles findet man eine passende Passage, die den Willen Gottes bestätigt. Mit der Bibel hat man immer recht.

Aus dem Publikum: Als Frau kamen Sie aber doch recht weit nach oben.

Ja, aber immer unter der Leitung von Männern. Ich wurde vom Gemeindeleiter beauftragt, ich dürfe das nächste mal eine Predigt halten. Er schrieb mir aber nicht vor worüber.

Aus dem Publikum: Wurden Sie kritisiert?

Ja, denn nicht immer vertrat ich Meinungen, die ins Schema der Gemeinschaft passten. Zum Beispiel sprach ich über Heuchelei. Ich sagte, es sei Heuchelei, was wir hier tun. Das wurde natürlich überhaupt nicht akzeptiert. Das war aber bereits in der kritischen Phase meiner Mitgliedschaft. Und es war auch das letzte Mal, dass ich predigte.


Im Namen aller Anwesenden möchte ich mich recht herzlich für das interessante Gespräch bedanken.

 

 

Die Gemeinde für Urchristentum

Die Gemeinde für Urchristentum (GfU) ist eine charismatisch-fundamentalistische Gruppe, die dem "Bund Pfingstlicher Freikirchen" und über diesen dem evangelikalen "Verband evangelischer Freikirchen und Gemeinden in der Schweiz" angehört. Sie entstand 1927 durch die Missionstätigkeit des süddeutschen Ehepaars Drollinger im Berner Oberland (Frutigen, heute: Thun). Zusammen mit der Schweizerischen Pfingstmission führt sie in Emmetten (NW) die "Internationale Bibelschule Gunten-Emmetten".

Appendix

Dieser Text wurde im infoSekta-Tätigkeitsbericht 1999, S. 17-25 abgedruckt.

 © 2000. Verein infoSekta.

 

 

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