Religion im Trend?! Skizzen zur religiösen Landschaft in der Schweiz (Krüggeler, 2004)

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von Michael Krüggeler


1. Einleitung

Wer heute aufmerksam in die Welt schaut, kann “Religion” - oder vorsichtiger gesagt: Zitate des Religiösen - überall entdecken. Das Hollywood-Kino produziert Kriminalfilme über die sieben Todsünden (“Seven”), eine aktuelle Werbung für Speiseeis verspricht mit demselben Thema “Wollust” oder “Faulheit” beim Genuss eines Eis‘. Die pop-kulturellen Zuschnitte der heutigen Jugendkultur und der Rockmusik sind voll von religiösen Anklängen und Themen. Seriöse Untersuchungen belegen, “dass Religion in den Texten von Popmusikern ein fester Bestandteil geworden ist” (Hurth, 2003, 389). Hier finde sich “eine Mischung aus fernöstlicher Religiosität, privaten Symbolen und Teilen christlicher Symbolik” (ebd 390). Zugleich wird in der Deutung dieser Phänomene jenes Schema eingesetzt, das sich auch in der wissenschaftlichen Religionssoziologie in jüngster Zeit grosser Beliebtheit erfreut: Es wird zwischen Kirchlichkeit und Religiosität unterschieden, zwischen den dogmatischen Deutungs­angeboten der institutionalisierten Kirchen einerseits und einer frei flottierenden religiösen Suchbewegung andererseits. Diese Pop-Religiosität sei Ausdruck eines experimentellen, individualistischen und institutionsfernen Glaubenslebens, das sich in den Kirchen nicht mehr aufgehoben wisse.

 

Wer vor dreissig oder vierzig Jahren eine solche Vision als Zukunftsperspektive vorausgesagt hätte, wäre von der etablierten Soziologie nur müde belächelt worden. Soziolog(inn)en hätten milde darauf hingewiesen, dass die Religion in ihrer ganzen Breite den endgültigen Rückzug angetreten habe, dass die Menschen massenhaft aus den Kirchen austreten würden, dass die Kirchgemeinden hoffnungslos überaltert seien und dass die Religion jeglichen Einfluss auf die das Leben der Menschen bestimmenden Lebensbereiche wie Politik und Wissenschaft verloren habe.

 

Und ist diese Perspektive nicht auch nach wie vor berechtigt? Werden in den dominanten Lebensbereichen der Wirtschaft, der Politik, des Rechts und der Technik Entscheidungen in irgendeiner Form noch unter religiösen Gesichtspunkten kontrolliert? Hat Religion ihren Einfluss im Alltagsleben der Familien und der Schulen, der Vereine und der Freizeitgestaltung  nicht so gut wie gänzlich aufgeben müssen? Und können die alternativen und synkretistischen Suchbewegungen diese massiven Verluste der christlichen Kirchen in unserem Kulturkreis wirklich ausgleichen oder gar ersetzen?

 

Ich möchte versuchen, ein wenig Licht in diese durchaus widersprüchliche und vielleicht unübersichtliche Lage der Religion in unseren westlichen modernen Gesellschaften zu bringen; ein wenig aufzuklären, warum und ob überhaupt wir es hierzulande ebenfalls mit einer “Renaissance des Religiösen” zu tun haben und in welchen kulturellen Formen religiöse Phänomene heute beobachtet werden können. Dazu greife ich vor allem auf Ergebnisse einiger empirischer Untersuchungen zurück, die in einer eher wissenschaftlichen Weise die religiöse Landschaft in der Schweiz zu erforschen versucht haben.

 

Damit komme ich zuerst zu einem kleinen Vergleich hinsichtlich der Gläubigkeit der Menschen in West-Deutschland, in Österreich und der Schweiz. Im Vergleich der drei Länder finden wir in Westdeutschland am meisten “Nichtgläubige”, welche den Aussagen “Ich glaube nicht an Gott” und “Ich weiss nicht, ob es einen Gott gibt” mehr oder weniger zustimmen. In der Schweiz finden wir die höchste Prozentzahl derjenigen, die von sich sagen: “Ich glaube nicht an einen persönlichen Gott, aber ich glaube, dass es irgendeine höhere geistige Macht gibt”. Ziemlich ausgeglichen sind die “Gläubigen”, also Personen, die mit Unsicherheit und mit Zweifeln doch an Gott glauben. Und schliesslich findet sich in Österreich der höchste Anteil von Menschen, die sagen: “Ich weiss, dass es Gott wirklich gibt und habe daran keinen Zweifel”.

 

Mit Blick auf dieses Ergebnis stellt sich vor allem eine wichtige Frage: Was bedeutet die Aussage “Es gibt irgendeine höhere geistige Macht”?

 

Wenn es sich hier um eine Art Schwundstufe des christlichen Gottesglaubens handeln würde, dann könnten wir eine Zweiteilung der Bevölkerungen beobachten in einen mehr oder weniger “säkularisierten” Teil und in einen mehr oder weniger “gläubigen” Teil. In diesem Sinn bilden “Gläubige” und “Gottgläubige” zusammengefasst in Westdeutschland und in der Schweiz je 52% und in Österreich 60% der Bevölkerungen.

Wenn es sich dagegen um eine individualisierte Alternative zum christlichen Gottesglauben handeln würde, dann hätten wir es in der Gegenwart mit einem echten religiösen Pluralismus zu tun, in dem die Kirchen nicht mehr über das Monopol zur Bestimmung von Religion verfügen würden.

Zugleich wird in diesem Vergleich deutlich, dass neben dem Trend zu einer möglicherweise alternativen Religion ein beträchtlicher Anteil der Bevölkerungen sich gleichwohl als “ungläubig”, zumindest im Sinne des christlich-kirchlichen Gottesglaubens versteht (15-25%).

 

2. Pluralisierung, Individualisierung und Erlebniskultur

Was wir seit vielen Jahren erleben, das ist die Auflösung einer engen Verbindung von gesellschaftlichen Werten einerseits mit dem Monopol christlich-kirchlich institutionalisierter Glaubensmuster andererseits. Vor diesem geschichtlichen Hintergrund wird heute zum einen der Charakter des kulturellen Pluralismus von Weltanschauungen, Ideologien und Religionen wieder deutlicher hervorgehoben. Die moderne Gesellschaft produziert eine Fülle von möglichen Weltsichten und Weltanschauungen, die in modernen Gesellschaften den Bereich der Kultur von vornherein multiperspektivisch konstituieren. In diesen kulturellen Pluralismus können auch Religion und Religionen (wieder) eingebaut werden.

 

Zum anderen kommt es mit der Auflösung der konfessionellen Sozialmilieus auch zu einer weiter reichenden Individualisierung der Stellung des Menschen. Das moderne Individuum erfährt sich in seinem alltäglichen Leben vor eine Vielzahl unterschiedlicher und sogar widersprüchlicher Handlungsanforderungen gestellt. Daraus entsteht nicht nur der Anspruch auf individuelle Handlungsautonomie, sondern auch eine individuellen Identitätsbildung wird nötig, die sich aus der je individuellen Kombination unterschiedlicher Handlungsvorgaben speist. Die moderne Mobilität bringt es mit sich, dass der einzelne Mensch immer weniger auf gewohnheitsmässige Bindungen, auf eineinen festen Platz in sozialen Milieus und auf unhinterfragte Traditionen setzen kann. Das moderne Individuum ist für seine Selbstbeschreibung auf sich selbst verwiesen.

 

An dieser Stelle verorten nun viele Religionsforscher den eigentlichen und neuen Stellenwert der Religion: Religion konzentriere sich auf das, was die moderne Gesellschaft offen und unbestimmt lässt: auf die Bestimmung der Identität und Individualität von Einzelpersonen. Religiöse Phänomene gewinnen ihren Stellenwert damit im Zusammenhang mit individueller, biographischer Selbstthematisierung. Diese religiöse Individualisierung umfasst im wesentlichen zwei Dimensionen:

 

  • Zum einen beinhaltet religiöse Individualisierung die Privatisierung des religiösen Entscheidens. Religion wird zu einer Sache jedes einzelnen. Bei ihrer Entscheidung für oder gegen (kirchliche) Religion kann die Person eine Auswahl aus dem weltreligiösen und weltanschaulichen Pluralismus treffen.
  • Zum anderen kommt es zu einer eigentlichen Intimisierung des Religiösen, mit der das individuelle Selbst zugleich zum zentralen Gegenstand religiöser Sinnbildung wird.

 

 

Die Analyse der modernen Individualisierung wird noch ergänzt und vertieft durch Hinweise auf die besondere Erlebnisorientierung der heutigen Menschen. Die Theorie der “Erlebnisgesellschaft” von Gerhard Schulze (1992) geht von dem Bedeutungswandel aus, den materielle Güter erhalten, sobald sie im Überfluss vorhanden sind. Das Kriterium dafür, was ich wähle, ist nun nicht mehr die zu erwartende Wirkung auf die Aussenwelt, sondern die unmittelbare Wirkung auf das Subjekt selber - auf sein Erleben: “Innenorientierte Lebensauffassungen, die das Subjekt selber ins Zentrum des Denkens und Handelns stellen, haben aussenorientierte Lebensauffassungen verdrängt” (Schulze 1992, 35).

 

Dabei entsteht ein neues Problem: Woher weiss ich eigentlich, dass mein Erleben wirklich schön und befriedigend verlaufen ist? Wenn das Subjekt auf sein eigenes Erleben reflektieren muss, dann ist die eigene Innerlichkeit zu wankelmütig und unzuverlässig, um über die Qualität des Erlebten zuverlässig Auskunft zu geben. Also muss auch der erlebnisorientierte Mensch wieder auf externe, kollektive Schemata zurückgreifen, um sein Erleben bewerten zu können: “Die reflexive Grundhaltung des erlebnisorientierten Menschen verunsichert ihn und erzeugt eine Bereitschaft, kollektive Vorgaben zu übernehmen” (ebd.). Nach Schulze sind seit den 80er Jahren neue soziale Milieus entstanden, welche die Menschen mit bestimmten alltagsästhetischen Schemata ausstatten und so ihre Erlebnisrationalität erneut kollektiv absichern.

 

Für unseren Zusammenhang ist nun vor allem interessant, dass mit der Privatisierung und Individualisierung der Religion auch das religiöse Verhalten und Erleben der Menschen dieser Tendenz zur Erlebnisorientierung zugeordnet werden kann. Auch im Zentrum des religiösen Erlebens steht jetzt die eigene Befindlichkeit, auch Religion übernimmt den vorherrschenden Erlebensmodus der Selbstthematisierung und gerade in der Religion wird beispielsweise der eigene Körper zu einem ganz neuen Topos religiöser Erfahrung. Interessant ist dann die zusätzliche Frage, ob es der Religion ebenfalls gelingt, eigene soziale Milieus auszubilden, in denen die Menschen mit vorwiegend religiösen Schemata für die Orientierung ihrer Lebensführung ausgestattet werden.

 

3. Religion in der Schweiz - 3.1. "Jede/r ein Sonderfall?"

Diese Überlegungen zum jüngsten Wandel der Religion bilden auch den Hintergrund für zwei grosse Bevölkerungsumfragen in der Schweiz zum Thema “Religion, Konfession und Kultur” (Dubach, Campiche 1993; Stolz 2001). In beiden Umfragen wurde für die Frage danach, was die Schweizerinnen und Schweizer “glauben” - als eine zentrale Dimension von Religion - ein mehrdimensionales Raster entworfen. Die befragten Frauen und Männer konnten nicht nur zu christlich-kirchlichen, sondern auch zu humanistisch-weltanschaulichen und insbesondere zu “neureligiösen” Orientierungsangeboten ausführlich Stellung nehmen.

 

Das Ergebnis bereits der ersten Studie, die zu Beginn der neunziger Jahre unter dem Titel “Jede/r ein Sonderfall?” veröffentlicht wurde, bringt Hinweise auf einen religiösen Pluralismus in der Schweiz: Schweizerinnen und Schweizer formulieren die Sprache ihres Glaubens zuerst in einer explizit kirchlich-christlichen Form, indem sie etwa glauben, dass es “einen Gott gibt, der sich in Jesus Christus zu erkennen gegeben hat” (1993: 73%). In einer weiteren eigenen Dimension bündeln sich Aussagen zu einer religiösen Deutung des Todes - “Der Tod ist der Übergang zu einer anderen Existenz” (45%) sowie “Es gibt eine Reinkarnation der Seele in einem anderen Leben” (29%) -, die von den kirchlichen Aussagen relativ unabhängig sind. Schliesslich lässt sich eine dritte Dimension herausfiltern, in der sich die Befragten unabhängig in “neureligiösen” Glaubensmustern artikulieren, etwa anhand der Aussage “Die höhere Macht, das ist der ewige Kreislauf zwischen Mensch, Natur und Kosmos” (47%). In diesem pluralen Bild erweist sich allerdings die Dimension des christlich-kirchlichen Glaubens als die am deutlichsten hervortretende und als profilierteste Sprache des religiösen Glaubens.

 

Zehn Jahre später wurden den Schweizerinnen und Schweizern dieselben Fragen mit den weitgehend identischen Aussagen noch einmal zur Stellungnahme vorlegt. Es zeigt sich im Ergebnis, dass die Struktur eines mehrdimensionalen Glaubenspluralismus in der Schweiz mit drei unterschiedlichen Glaubensdimensionen nahezu identisch reproduziert werden konnte. Man könnte auch sagen: Wenn man in dieser “offenen” Form nach dem religiösen Glauben fragt, so ergibt sich - zumindest für die Schweiz - im Ergebnis wiederholt ein mehrdimensionales und nicht nur christlich-kirchliches Muster dessen, was die Menschen “glauben”. Allerdings ist in diesen zehn Jahren ein gewichtiger Unterschied zu verzeichnen: Das Ausmass der Zustimmung zur christlichen Religiosität hat in den zehn Jahren signifikant abgenommen, während die Zustimmung zu einer immanenten Religiosität stark zugenommen hat. Diese dritte Dimension der jetzt so genannten “immanenten Religiosität” wird durch die beiden Aussagen repräsentiert “Was man ‘Gott’ nennt, ist nichts anderes als das Wertvolle im Menschen” (54%) sowie “Die höhere Macht - das ist der ewige Kreislauf zwischen Mensch, Natur und Kosmos” (79%). Die zweite Dimension einer transzendenten Deutung des Todes hat sich über die Zeit hin nicht verändert.

 

“Es ist” - so die Interpretation der zweiten Studie - “mithin möglich, dass ein fortschreitender, auf individuelle Religiosität bezogener Säkularisierungsprozess im Gang ist, in welchem klar strukturierte christliche Religiosität durch diffusere immanente Vorstellungen ersetzt wird.” (Stolz 2001, 74) In der ersten Befragung wurde diese Tendenz hin zu einer diffusen Religiosität als Ausdruck und Merkmal der Situation einer religiösen Individualisierung interpretiert (Dubach, Campiche 1993, 93ff.).

Was ist nun der vorherrschende Trend im Feld der Religion? Deutlich ist der Rückgang des von den christlichen Kirchen repräsentierten Glaubenssystems. Die Alternative dazu ist jedoch nicht sehr deutlich und durch Umfragen auch nur schwer zu erfassen. Im alltäglichen Sprachgebrauch behilft man sich daher mit dem Begriff“Spiritualität”, um eine neue experimentelle Suchbewegung von der traditionell dogmatischen “Religion” der Kirchen abzugrenzen.

 

Über die Vorstellungen dessen, was die Schweizerinnen und Schweizer glauben, hinaus erweist sich die Praxis des persönlichen Gebets als die häufigste Form religiöser Praxis in der Schweiz. Während am Ende der 90erJahre des 20. Jahrhunderts etwa drei Viertel der Befragten angeben, selten oder nie zur Kirche zu gehen, beten heute rund 40% täglich oder fast täglich, 70% beten mindestens einmal im Monat. Die Praxis des täglichen Gebets findet sich am häufigsten unter Freikirchlichen (93%). Bei Katholiken und Reformierten sind es jeweils ca. 40% und unter den Konfessions-oder Religionslosen beten ebenfalls noch 21% fast täglich. In dieser häufigen Praxis zeigt sich, “dass ein ‘Bedürfnis’ nach Kontakt mit der Transzendenz, dem Nichtverfügbaren, Unkontrollierbaren bei einem grossen Teil der Bevölkerung vorliegt. Insofern haben wir es auch in der modernen Gesellschaft mit einem ‘religiösen Potential’ zu tun, welches religiöse Unternehmer ansprechen könnten. Andererseits ist zu bedenken, dass Beten in gewisser Weise ‘kostengünstig’ ist und möglicherweise daher so oft vorkommt. Man kann es schnell tun, wo immer man ist, und es hat auf jeden Fall keine negativen Nebenwirkungen” (Stolz 2001, 12).

 

3.2. Religion als Lebensstil

Jede Religion möchte auf das Alltagsleben der Menschen Einfluss nehmen, auf die Gestaltung ihrer Beziehungen in Familie, Politik und Beruf. Das Thema der ethischen Implikationen der Religion, ihrer Wirkungen auf die Lebensführung und der Beziehung zwischen Religion und Werten ist also ein klassisches Thema sowohl der Religion selbst wie auch ihrer soziologischen Beobachtung (vgl. zu diesem ganzen Komplex SPI 2001).

Rückblickend ist nicht zu übersehen, dass die moderne Industriegesellschaft des 19. und 20. Jahrhunderts in der Schweiz wie in anderen Ländern Westeuropas durch das Neben- und Gegeneinander von zwei religiösen Konfessionskulturen geprägt wurde: Ein anti-moderner Katholizismus konnte grosse Teile der Bevölkerung in ein sozialmoralisches Milieu integrieren, während die protestantisch-reformierten Bevölkerungsteile sich zumeist als Träger ökonomischer und kultureller Modernisierung  erwiesen. Nach neueren Studien wird der Einfluss der Religion heute jedoch kaum mehr über die grossen Konfessionskulturen vermittelt, also über den Unterschied zwischen einem katholisch-konservativen und einem reformiert-liberalen Sozialmilieu.

 

Heutige religiöse Milieus werden repräsentiert durch katholische und reformierte regelmässig Praktizierenden, durch Freikirchen und religiöse Sondertraditionen wie z.B. Neuapostolen oder Zeugen Jehovas. Diesen Milieus ist vor allem eins gemeinsam: traditioneller bürgerlicher Familienwerte werden hoch geschätzt. In ihrem Lebensstil dominiert das Leitbild der bürgerlichen Familie mit seinen ausgeprägten Geschlechtsrollenunterschieden zwischen Frau und Mann, mit dem Wert der Unauflöslichkeit der Ehe und der Ablehnung des Schwangerschaftsabbruchs. Mit diesen Familienwerten grenzen sich heutige religiöse Milieus von ihrer gesellschaftlichen Umwelt ab.

 

Die religiösen Milieus untereinander sich aber auch untereinander. Ein volkskirchlich geprägtes katholisches Milieu grenzt sich weniger von der Mehrheit der Schweizer Bevölkerung ab, etwa hinsichtlich der Wertschätzung einer persönlichen Autonomie. Und während reformiert-freikirchliche und apokryphe religiöse Milieus sich in ihrer Familienkultur deutlich von der Mehrheit abgrenzen, so sind sie sich mit ihrer kritischen Beurteilung der gesellschaftlichen Umwelt von Parteien und Interessenverbänden mit den Konfessionslosen eher einig als mit dem katholischen Milieu. Die Grenzen zwischen religiösen Milieus und ihrer sozialen Umwelt sind also fliessend.

 

Man kann die unterschiedlichen Lebensstile in der Schweiz daher auch nicht auf einer einfachen Linie “religiös versus säkular” abbilden. Grundsätzlich sind es vor allem evangelikal oder durch religiöse Sondertraditionen geprägte religiöse Milieus, die ihre Werte und ihre sozialen Kontakte unter dem zentralen Aspekt der Religion organisieren.

 

Solidarität und Religion

Ebenfalls am Ende der 90er Jahre wurde in der Schweiz eine Studie durchgeführt, die sich aber nicht auf die Auswertung eines Fragebogens mit standardisierten Antwortvorgaben stützt. Hier wurden Gruppendiskussionen interpretiert, in denen sich Menschen in Gruppen frei und ungezwungen über ihre solidarische Praxis äussertn und, wenn sie wollten, auch die Rolle der Religion thematisieren konnten. Es geht in dieser Studie um die Frage, warum sich Menschen für sich und andere in Gruppen zu gegenseitiger Unterstützung zusammenschliessen und welche Rolle die Religion in diesem solidarischen Handeln spielt.

 

Auf der Basis einer qualitativen Analyse von 12 Solidaritätsgruppen in der Deutschschweiz haben wir drei Typen herausgefiltert, die jeweils ein eigenes Verhältnis von Religion und Solidarität darstellen (vgl. Krüggeler u.a. 2002):

 

 

  • Der “Milieutyp” stellt Gruppen dar, in denen der solidarische Einsatz ganz auf der Zugehörigkeit zu einem (frei-)kirchlichen Milieu beruht. Solidarität ist hier von christlichem Gedankengut durchdrungen und wird vor allem mit den Mitgliedern der eigenen Konfession und Religion (z.B. in der Dritten Welt) ausgeübt. Der “Milieutyp” macht deutlich, wie wichtig soziale Bindungen, sozialer Kontakt und die gegenseitige Abstützung religiös-werthafter Überzeugungen für die Religion sind. Nur in mehr oder weniger abgegrenzten sozialen Milieus lassen sich “Werte und tief sitzende weltbildkonstitutive Überzeugungen” (Joas 2003, 10) auf lange Sicht hin aufrecht erhalten. Das zeigt sich gegenwärtig vor allem in den sozial begrenzten Milieus von Freikirchen, religiösen Sondertraditionen und Neuen Religiösen Bewegungen.
  • Im “Funktionstyp” versammeln sich Gruppen, die in ihrem solidarischen Handeln zunächst auf Religion verzichten. Denn religiös unterschiedliche Meinungen könnten die sachlichen Ziele der Gruppen (Bewältigung einer Krankheit; von Arbeitslosigkeit etc.) in Gefahr bringen. Privat können die Mitglieder dieser Gruppen aber durchaus von religiösen Motiven getragen sein. Bemerkenswert ist daher, dass Religion und Kirchen in der Umwelt dieser Gruppen eine bedeutsame Rolle spielen: sei es, dass die Gruppen sich auffallend häufig in kirchlichen Räumlichkeiten treffen, sei es, dass sich viele ihrer Mitglieder privat durch eine hohe kirchliche Bindung und eine ent­sprechende religiöse Motivation auszeichnen. Religion und Kirchen können also auch dort eine gesellschaftliche Rolle spielen, wo sie nicht direkt und unmittelbar sichtbar werden.
  • Im “Identitätstyp” sind Menschen solidarisch, um das eigene Schicksal zu bewältigen und sich selbst zu verändern (z.B. bei Alkoholabhängigkeit). Dabei kann Religion eine Rolle spielen, wenn sie eine Hilfe leisten kann als Beitrag zur persönlichen Veränderung. Religion wird als Suchprozess eingesetzt und nicht als kollektive Selbstverständlichkeit. Die Gruppen des Identitätstyps machen deutlich, dass auch die prekären Probleme der heutigen Identitätsbildung in neuen solidarischen Formen bearbeitet werden können. Religion ist dabei allerdings nicht anders denn als Suchprozess präsent, aber auch als solche bedarf sie eines sozialen Fundus an vorhandenen religiösen Deutungsangeboten und an symbolischer Kultur.

 

 

Die Studie zum Thema “Solidarität und Religion” hat gezeigt, dass und wie verschiedene Formen der Verknüpfung von Solidarität und Religion in der heutigen Schweiz neben- und miteinander existieren. Vor allem der “Identitätstyp” verweist dabei auf Elemente der gegenwärtigen Erlebniskultur - allerdings in dem Sinn, dass u.a. religiöse Erlebnisse hier eingesetzt werden, um gerade die Brüche, die Probleme und ein möglicheres Scheitern der Prozesses der Individualisierung aufzufangen. Die Erlebniskultur muss also nicht nur als eine “Spasskultur” angesehen werden.

 

Schluss: Religion im Trend?!

Auch in der Schweiz gibt es also so etwas wie einen Trend zu einer alternativen Religion oder, aus der Sicht der Menschen selbst, einer “undogmatischen Spiritualität”. Auf der anderen Seite gibt es aber auch massive Verluste unserer hochkulturellen Kirchlichkeit. Religion ist heute flexibel, flüssig und entdogmatisiert  worden, aber sie ist damit zugleich privatisiert und ohne grossen Einfluss auf zentrale Lebensbereiche, die unser Leben bestimmen. Die Wahl der eigenen Religion hat kaum mehr Einfluss auf den Zugang zu anderen wichtigen Lebensbereichen.

 

Man darf also auch eine gewisse Skepsis gegenüber dem “Megatrend Spiritualität” äussern, wie er von so genannten Trendforschern ausgerufen wird. Aber selbst wenn Religion weniger im Trend wäre als vielfach behauptet, wird sich die Religion an die Trends der Lebensstile, an die Trends des Erlebnismarktes und auch an die exaltiertesten Formen individualisierter Selbstdarstellung anpassen. Zugleich werden Religion und Spiritualität auch von den grossen Problemen und Brüchen der individualisierten Lebensführung beeinflusst, welche die Menschen mit den unterschiedlichsten Spielarten religiöser Selbstverortung zu bewältigen versuchen. Religion spielt sich immer mitten im Leben der Menschen ab, beeinflusst von Moden und dem Zeitgeist - auch wenn die seriöse Religion immer eine Distanz zum Zeitgeist wahren muss, um ihren spezifischen Verweis auf Transzendenz aufrechterhalten zu können.

 

Literatur

Dubach Alfred, Campiche Roland J. (Hg.) 1993.Jede(r) eine Sonderfall? Religion in der Schweiz. Ergebnisse einer Repräsentativbefragung. Zürich/Basel.

 

Hurth Elisabeth. 2003. Pop-Religiosität, in: Internationale Katholische Zeitschrift Communio 32, 389-397.

 

Joas Hans. 2003. Einleitung, in: ders. (Hg.), Was sind religiöse Überzeugungen? Göttingen.

 

Krüggeler Michael, Büker Markus, Dubach Alfred, Eigel Walter, Englberger Thomas, Friemel Susanne, Voll Peter. 2002. Solidarität und Religion. Was bewegt Menschen in Solidaritätsgruppen? Zürich.

 

Schulze Gerhard. 1992. Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart. Frankfurt am Main.

 

Schweizerisches Pastoralsoziologisches Institut (Hg.). 2001. Lebenswerte. Religion und Lebensführung in der Schweiz. Zürich.

 

Stolz Jörg. 2001. Individuelle Religiosität, Kirchenbindung und Einstellungen zu den Kirchen im Kanton Zürich und in der Schweiz. Ein Bericht zuhanden des Evangelisch-reformierten Kirchenrates des Kantons Zürich. o.O.

 

 

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