«Wohin könnten wir gehen, wenn wir Gottes Organisation verliessen?» (Deckert/Sträuli, 2008)

Immunisierungsstrategien von Mitgliedern sektenartiger Gruppen am Beispiel der Zeugen Jehovas, Interview mit Bruno Deckert, Redaktion infoSekta

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von Dieter Sträuli


Einleitung

Im Juni 2007 erschien das Buch «All along the Watchtower. Eine psychoimmunologische Studie zu den Zeugen Jehovas» von Bruno Deckert. Bruno Deckert ist Psychologe. Als er sechs Jahre alt war, trat seine Mutter den Zeugen Jehovas bei. Als junger Erwachsener liess er sich 1969 selbst als Zeuge Jehovas taufen, trennte sich dann aber 1989 von der Bewegung. Von 1998 bis 2006 war Bruno Deckert Vorstands¬mitglied der Fachstelle für Sektenfragen infoSekta in Zürich. Er hat in Zürich Psychologie und Philosophie studiert und an der Universität Basel zum Dr. phil. promoviert. Seine Doktor¬arbeit «All along the Watchtower» erschien 2007 als Buch. Bruno Deckert betreibt in Zürich das Lokal sphères – Bar, Buchhandlung und Veranstaltungort in einem. Im Rahmen der Mitgliederversammlung des Vereins infoSekta vom 30. April 2008 stellte der Autor seine Thesen vor, die mit den Anwesenden diskutiert wurden. Die Eingangsfragen stellte Vereins¬präsident Dieter Sträuli, dann folgten Fragen aus dem Publikum.

Das Projekt

Bruno Deckert, Du hast das Phänomen der Immunisierungsstrategien am Beispiel der Zeugen Jehovas analysiert. Wie bist Du als ehemaliges Mitglied dieser Gemeinschaft vorgegangen?
Als ehemaliges Mitglied war es mir nicht möglich, selbst aktive Zeugen Jehovas zu befragen. Ich musste also andere Methoden entwickeln. Ich entschied mich für eine Triangulation der Datenerhebung: Ich führte selbst Interviews mit ehemaligen Zeugen Jehovas, die wie ich die Organisation verlassen hatten. Teilweise kamen sie aus Österreich Deutschland angereist. Mir gegenüber konnten sie sich völlig frei äussern. Sie mussten keine Sprachregelungen treffen und sich nicht erklären. Ich stellte jeweils eine Einstiegsfrage und liess die Leute erzählen. Als ehemaliges Mitglied wusste ich sofort, wovon sie sprachen. Ich liess rund 20 Mitarbeitende aus meinem und dem universitären Umfeld informelle Gespräche mit aktiven Zeugen Jehovas führen und davon Gedächtnisprotokolle erstellen. Ich sammelte Texte zum Thema aus Schriften der Glaubensgemeinschaft. Anschliessend habe ich meine Protokolle der Gespräche mit Ehemaligen an den Interviews gespiegelt, die die Studierenden mit den aktiven Zeugen Jehovas geführt hatten. Das Ergebnis war faszinierend. Die ehemaligen Mitglieder reflektierten ihre Vergangenheit. Sie beschrieben quasi analytisch, was aus ihrer Perspektive geschehen war. Natürlich war ihre Wahrnehmung geprägt durch die Distanz, die sie zu ihrer Mitgliedschaft hatten. Die Gespräche mit den aktiven Mitgliedern zeigten, dass diese in genau der Welt lebten, von der die Ehemaligen aus ihrer Perspektive berichtet hatten. Man sieht in diesen Interviews die Immunisierungsstrategien in vivo am Werk.

Immunisierungsstrategien

Was verstehst Du unter Immunisierungsstrategien?

Immunisierungsstrategien gehören zu jenen Schlüsselmechanismen, die Mitglieder dazu bringen können, länger in einer Gemeinschaft zu verbleiben, als sie eigentlich möchten. In den Gruppen baut sich eine Dynamik auf, die einerseits von der Gruppe mit ideologischen, sozialen und psychologischen Elementen gespeist wird, andererseits vom Mitglied selber.

Zweifel werden sofort mit ideologischen Argumenten aus der Gruppe betäubt, die gleichzeitig den Bedürfnissen des Mitglieds entsprechen. Wer zum Beispiel schon mehrere Jahre in einer solchen Gemeinschaft lebt, traut seinen Zweifeln vielleicht nicht und sagt sich: «Ich habe alles gewissenhaft geprüft und weiss, dass es das Richtige ist. Es ist nicht möglich, dass ich die ganze Zeit an etwas Falsches geglaubt habe.» Das ist ein einfaches Beispiel dafür, wie erste Unstimmigkeiten nicht ernst genommen werden. Die Mitglieder versuchen, ihre Zweifel und Widerstände mit ideologischen, religiösen oder theologischen Argumenten zu beschwichtigen. Aber auch psychologische Phänomene, Motive oder Ressourcen spielen dabei eine Rolle. Ganz wichtig ist der soziale Kontext.

Der Begriff «Immunisierungsstrategien» klingt medizinisch.

Der Begriff stammt ursprünglich aus der Biologie und der Medizin. Auf die Psychologie übertragen sind Immunisierungsstrategien rhetorische Mechanismen, die einem Argument die Spitze nehmen und es ins Gegenteil verkehren. Sie wirken wie Antiviren. Bei den Zeugen Jehovas beispielsweise kommt man, was ihre Haltung der Gemeinschaft gegenüber angeht, mit einem vernünftig dargelegten Argument nicht weiter. Denn es geht nicht darum, logisch und vernünftig zu argumentieren, sondern darum, dass jeder Zweifel eine zentrale Regel verletzt. Der Inhalt ist weniger wichtig. Immunisierungsphänomene sind übrigens weit verbreitet. Sie finden sich beispielsweise auch in beruflichen und anderen sozialen Konstellationen.

Kannst Du konkrete Beispiele schildern?

Es gibt verschiedene Prozesse, die auf die Betroffenen unterschiedlich wirken. Ich habe dafür nach einzelnen einprägsamen Begriffen gesucht und möchte einige kurz erläutern – «Geduld», «Prüfung» und «Wahrheit». Zum Beispiel der Begriff «Geduld»: Die Zeugen Jehovas wenden ihn äusserst gekonnt an. Angenommen, es kritisiert jemand einen Aspekt der Lehre. Dann heisst es nicht, er sei im Unrecht, sondern man lässt offen, dass möglicherweise da und dort tatsächlich etwas nicht optimal sei; man müsse eben warten.
Gott Jehova werde alles zu seiner Zeit schon richten. Schliesslich folgt die Gretchenfrage: Will man wegen dieses einen Aspektes wirklich alles in Frage stellen und aufgeben? Vordergründig gibt man also dem Zweifelnden Recht und nimmt damit der Unzufriedenheit den Stachel. Ein anderes Beispiel aus der Theologie betrifft die «Prüfung».Man kann natürlich jede belastende Situation als Prüfung Gottes darstellen. Die Zeugen sagen, Satan verführe den Skeptiker mit diesem falschen Gedanken, mit dieser kritischen Einstellung. Das müsse man jetzt aushalten. Versteht man ein Problem als Prüfung, wird dem Argument sofort das Gewicht genommen . Man geht der Sache gar nicht differenziert nach, um herauszufinden, ob etwas tatsächlich nicht stimmt. Auch der Begriff «Wahrheit» ist zentral. Die ehemaligen Zeugen Jehovas erinnerten sich in den Interviews immer wieder an Gedankengänge wie «Aber die Bibel ist doch trotzdem wahr, sie beweist alles. Als kleiner Gläubiger darf ich mir nicht anmassen, meinem Zweifel nachzugeben, wenn so viele Mitgläubige damit völlig einverstanden sind.» Zweifelt der Einzelne, sieht er sich sofort mit seinem Umfeld konfrontiert, das diesen Zweifel (angeblich) nicht kennt. Darüber kann man gar nicht diskutieren. Stattdessen wird der Skeptiker gefragt, ob er überhaupt noch im Glauben stehe, wie er zu seiner Einstellung komme, ob er die falschen Bücher lese oder die falschen Leute treffe, ob er nicht genug bete. Es ist also in der Gemeinschaft der Zeugen Jehovas nicht möglich, sich mit dem Zweifel auseinanderzusetzen.

Ausstieg

Wie kann man den Ausstieg aus einer Sekte schaffen?
Dazu habe ich ein Modell mit vier Phasen erstellt. In der ersten Phase der naiven primären Immunität bleibt alles unwidersprochen. Die Gemeinschaft verkörpert die reine Wahrheit und nichts als die Wahrheit. Von aussen dringt nichts in das Mitglied ein. Das Leben konfrontiert ein Mitglied aber unweigerlich mit Konflikten und Ungereimtheiten im Leben in der Gemeinschaft. Deshalb ist meist eine sekundäre Immunisierung nötig. Das ist eigentlich die spannende Phase, auf die ich das Hauptgewicht in meiner Arbeit gelegt habe. Es kommen erste Zweifel auf, Unzufriedenheit stellt sich ein, man beginnt zu hinterfragen. Dann werden alle sozialen, ideologischen und psychologischen Strategien ausgespielt, einerseits von der Person selber, andererseits von der Gemeinschaft. In dieser Phase bleiben die Mitglieder häufig hängen. Sie sind nicht vollumfänglich Gläubige, sondern «skeptische Gläubige».
Einzelnen gelingt es, sich kleine Freiräume zu schaffen, die das Leben erträglich machen. Bei anderen bricht die Ideologisierung irgendwann zusammen, und es setzt ein Prozess der Entimmunisierung ein. Diese kann, wie in meinem Fall, dazu führen, dass man das Gebäude verlässt. In der folgenden Zeit, der Phase der Postimmunität, stellt sich dem Aussteiger die Frage, wie man mit der eigenen Vergangenheit, mit dem Leben in der Bewegung umgeht. Nicht alle kommen in dieser Situation zur Ruhe. Manche bleiben der Gemeinschaft ein Leben lang in Hassliebe verbunden. Sie leben nach dem Motto «We cannot live together, we cannot live apart» und müssen sich immer wieder und bis zum Lebensende mit diesem Thema beschäftigen. Einzelne werden in dieser Situation später Sektenberater oder schreiben Bücher oder gründen neue Gruppen. Es gibt auch Personen, die einen klaren Schlussstrich ziehen und sagen: «Nie mehr. Wenn ich nur schon davon höre, wird mir übel.» Ich weiss nicht, welche Möglichkeit die beste ist. Ich selber habe das Erlebte mit einem aktiven analytischen Vorgehen verarbeitet. Das bedeutete, die verschiedenen Haltungen der Vergangenheit gegenüber wach zu halten und sie nicht zu verdrängen.

Es gibt Menschen, die lange Zeit Mitglied einer Gemeinschaft waren und viel Energie aufbrachten, auszutreten und alles zu reflektieren. Und dann werfen sie sich plötzlich in die Arme einer neue Gruppe. Hast Du das auch angetroffen?

Ja. Du sprichst hier ein weiteres Phänomen der Postimmunität an. Ich würde sagen, in diesen Fällen wurde die Immunisierung gar nicht richtig aufgelöst, sondern es kam zu einer Symptomverschiebung auf eine andere Gruppe. Faszinierend für mich war, dass fast alle Ehemaligen nicht nur mit Häme und Bitterkeit auf die Zeit bei den Zeugen Jehovas zurückschauten. Man könnte ja erwarten, dass sie den Handschuh umkehren und alles, was vorher gut war, jetzt als schlecht abtun. Dass sie genau das nicht machten, sondern in einer sehr ausgewogenen Art und Weise über ihre Erfahrungen sprechen konnten, deute ich indirekt als Beleg für die Glaubwürdigkeit ihrer Aussagen. Sie konnten sehr wohl auch gute, erfüllende Erinnerungen an die Zeit ihrer Mitgliedschaft bewahren.

(Aus dem Publikum:) Aus psychologischer Sicht würde man mehr Aggression erwarten.
Ich möchte eine Gegenfrage stellen: Muss sich ein Pubertierender zwangsläufig gegen sein Elternhaus auflehnen, um sich abzulösen? Ich kenne Jugendliche, die diese Phase ohne grosse Diskussionen und Zerwürfnisse durchquerten. Bei vielen sind Aggressionen sicher nötig; ich hatte sie auch. Mir haben sie ermöglicht, eine Dissertation zu schreiben. Jetzt ist das Kapitel für mich abgeschlossen.

Bestrafung und Ausschluss

Nehmen die Zeugen Jehovas Dein Buch zur Kenntnis? Oder strafen sie es mit Schweigen?
Sie werden das Buch nicht beachten. Das hat Methode und ist eine der Immunisierungsstrategien. Das ehemalige Mitglied ist nicht existent, und folglich ist, was diese Person sagt, auch nicht existent und wird nicht zur Kenntnis genommen. Es spielt dabei keine Rolle, ob jemand still und heimlich oder mit Getöse ausgestiegen ist, ob er eine aktive Gegenposition bezieht oder abtaucht. Sobald jemand aussteigt, ist er für die Gemeinschaft quasi gestorben. Die grösste Bedrohung sieht die Gemeinschaft darin, dass es Ehemaligen gelingen könnte, mit ihren Schrifterzeugnissen an die aktiven Mitglieder heranzutreten. Darüber habe ich in meinem Buch auch geschrieben . Würde ein Zeuge Jehovas dieses Buch ohne Reuegeständnis lesen, wäre das ein Ausschlussgrund. Die Zeugen Jehovas nennen das Gemeinschaftsentzug.

Wie muss man sich diesen Gemeinschaftsentzug vorstellen?
Die Gemeinschaft der Zeugen Jehovas hat ein so genanntes Rechtskomitee, eine Art internes Gericht von mindestens drei Männern (ausnahmslos Männer), die den Fehlerhaften zur Sünde befragen. Darunter fallen das Lesen von gewissen Büchern, Rauchen oder ausserehelicher Geschlechtsverkehr. Der «Sünder» erhält die Gelegenheit zur Stellungnahme. Wenn er nicht bereut, wird er aus der heilsbringenden Gemeinschaft ausgeschlossen und zur Persona non grata erklärt. Jedes Mitglied, das sich weiterhin mit ihm abgibt, setzt sich selber auch ins Unrecht. Das ist eine soziale Deprivation sondergleichen. Die soziale Immunisierung bindet am stärksten an die Gemeinschaft. Ich kenne Zeugen Jehovas, die schon seit längerem nicht mit voller Überzeugung an die Lehre glauben. Sie bleiben aber weiterhin bei der Bewegung und sagen sich: «Meine Frau ist dabei, meine Kinder sind dabei, meine Grossmutter ist dabei, ich arbeite in der Firma eines Ältesten – wenn ich aussteige, weiss ich nicht, wie es weitergehen sollte.» Mit jedem Jahr in der Gemeinschaft steigt die soziale Bindung an die Gemeinschaft. Und bei klassischen Gruppen wie den Zeugen Jehovas, die über Generationen hinweg auf Mitglieder zählen, kann ein Austritt ins soziale und wirtschaftliche Nichts führen. Deshalb besuchen viele trotz ihrer Zweifel Woche für Woche die Versammlung und sind von Haus zu Haus in Mission unterwegs, ohne von ganzem Herzen an die Lehre zu glauben.

Fremdbeeinflussung oder Selbstmanipulation?

(Aus dem Publikum:) Obwohl Du von Immunisierungsstrategien sprichst, bestreitest Du, dass es sich um Strategien «von oben» handelt. Ich kenne die Zeugen Jehovas zu wenig, aber bei vielen ähnlich gelagerten Organisationen bin ich zutiefst überzeugt, dass deren Vorgehen von Strategie geprägt ist, und dass die Leitung sehr genau weiss, warum und mit welcher Wirkung sie welche Vorschriften erlässt und sehr strategisch vorgeht. Wenn man das ausblendet, klingt es für mich ein bisschen nach Verharmlosung.
Bei den Zeugen Jehovas regiert nicht eine riesige Hand von oben und benutzt die Mitglieder als willfährige Instrumente oder bewegt sie wie Marionetten. Jedes einzelne Mitglied hat eine Vielzahl von Möglichkeiten, sich in dem System zu bewegen. Man richtet sich das Leben in der Gemeinschaft ein wie in einem schlechten Job oder in einer unbefriedigenden Beziehung, aus der man auch nicht aussteigt, obwohl man einander nicht mehr liebt. Bei meiner Arbeit wurde mir immer bewusster, dass Sekten ein spannendes Forschungsfeld sind, weil sie laborartige Minigesellschaften darstellen. Sekten sind nicht Science Fiction. Was hier abläuft, ist gesellschaftlich höchst relevant und nicht einfach nur exotisch.

Es findet also keine «Gehirnwäsche» statt, sondern es wird ein Buffet von Immunisierungsstrategien angerichtet, an dem sich der Einzelne bedienen kann?
Der Begriff Strategie setzt immer ein planendes und oft böswilliges Subjekt voraus. Damit habe ich Mühe. Bei den Zeugen Jehovas läuft vieles diffuser ab. Ich gebe Dir Recht, dass es in einigen Konfliktgruppen wahrscheinlich so sein mag. Aber wir internalisieren all das, was von aussen kommt. Wir nehmen es an und wenden es bei uns selber an. Oft sind es nicht zielgerichtete Strategien, sondern das einzelne Mitglied steht vor einer Vielzahl von Vorgängen, in die es sich einfach einklinkt. Ich möchte mich dagegen wenden, eine differenzierte Betrachtungsweise mit Verharmlosung gleichzusetzen. Ich glaube, das ist nicht die Botschaft. Wer sich mit dem Sektenphänomen befasst, muss darauf achten, nicht die Mechanismen der Sekten spiegelbildlich zu übernehmen. Diese Binsenwahrheit hat nichts an Gültigkeit verloren. Bei der Beschäftigung mit dieser Problematik verliert man leicht die Distanz und nimmt die beobachteten Mechanismen, das Freund-Feind-Denken, an. Ich habe selber gemerkt, wie schwierig es ist, sich einen differenzierten Standpunkt zu bewahren.

(Aus dem Publikum:) Solche Strategien lassen sich auf fast alle gesellschaftlichen Institutionen, auf Parteien, auf Kirchen übertragen. Was unterscheidet denn die Gemeinschaft der Zeugen Jehovas von der SVP, vom Militär, von der Psychiatrie oder von einem Kloster? Auch dort kommen gewisse Immunisierungsstrategien zum Tragen.

Ich glaube, es handelt sich hier um graduelle und nicht um grundsätzliche Unterschiede. Das ist auch das Beunruhigende: Sektenhafte Prozesse sind eben nicht etwas vollkommen anderes als Abläufe in sonstigen gesellschaftlichen Bereichen.

(Aus dem Publikum:) Oft wird ein Verhalten oder eine Vorgehensweise toleriert, aber dann kippt es plötzlich. Es besteht eben doch ein Wesensunterschied, wenn man die menschlichen oder ökonomischen Schäden betrachtet.
Man kann spekulieren, warum die Sektenproblematik heute nicht mehr so virulent zu sein scheint wie in den 70er- und 80er-Jahren. Vielleicht ist es eine gewagte These, dass quasi die ganze Gesellschaft von diesen Strategien durchtränkt ist, dass diese Phänomene viel stärker als in früheren Jahren überall auftreten und dadurch gar nicht mehr als sektenspezifisch wahrgenommen werden. Mit dem Begriff Sekte allein bekommt man die Vielschichtigkeit der Problematik nicht in den Griff.

Die Zeugen Jehovas

Die Gemeinschaft der Zeugen Jehovas wurde gegen Ende des 19. Jahrhunderts von Charles Taze Russell (1852-1916) in Pittsburgh gegründet. Russell glaubte, dass Christus im Jahre 1874 wiedergekommen sei (allerdings nur in «geistiger Form») und dass 1914 das tausendjährige Reich beginnen werde. Später hiess es, Christus habe 1914 seine Herrschaft im Himmel, für menschliche Augen unsichtbar, angetreten. Beim jüngsten Gericht Harmagedon würden 144'000 Gläubige gerettet. Diese Zahl musste in der Geschichte der Zeugen immer wieder neu interpretiert werden, da die Anzahl der Mitglieder irgendwann höher lag. (Das Gros, also die Zahl 12 x 12 = 144, steht in der biblischen Antike oft für «sehr viele».) Die erste Form der Zeitschrift «Der Wachtturm» erschien 1879, zwei Jahre später gründete Russell die «Watchtower Bible and Tract Society». Die Zentrale war 1909 nach Brooklyn in New York verlegt worden. Russels Nachfolger Joseph Franklin Rutherford begann 1919 damit, die Gesellschaft in eine straff geführte, zentralistisch gelenkte Organisation mit verbindlichem Dogma umzugestalten. 1931 änderten die «Ernsten Bibelforscher» ihren Namen in «Jehovas Zeugen». 1938 wurde eine Resolution angenommen, die der Führung der Wachtturmsgesellschaft uneingeschränkte Leitungsvollmacht übertrug. Schon in den 20er-Jahren war das Predigen für alle Mitglieder zur Pflicht erklärt worden. In den 30er-Jahren stieg der Eifer der Mitglieder diesbezüglich stark an. Rutherfords Nachfolger, Nathan H. Knorr, führte ab 1942 die Endzeitgemeinschaft der Zeugen Jehovas als weltumspannendes Unternehmen weiter. Die Gemeinschaft zählte 1942 10'000, 1957 bereits 1 Million und 1977 5 Millionen Mitglieder. 1961 erschien eine eigene Bibelübersetzung der Zeugen, die «Neue Welt»-Übersetzung. Bekannt sind die Zeugen Jehovas dafür, dass sie keinen Militärdienst leisten, weswegen sie vor allem im Dritten Reich massiv verfolgt wurden. Da sie aufgrund ihrer Interpretation einer alttestamentarischen Bibelstelle jegliche Bluttransfusion verweigern, kommt es immer wieder zu tragischen Todesfällen. Schliesslich berichteten die Medien über nicht eingetretene Prophezeiungen der Zeugen (so 1914, 1925, 1975). Heute halten sich die Zeugen Jehovas mit der Nennung von prophetischen Jahreszahlen zurück. Sektenberatungsstellen sind intensiv mit den Zeugen Jehovas beschäftigt. Deren missionarischer Eifer, die Vereinnahmung, das Schüren von Angst und Schuldgefühlen, ihre Endzeiterwartung, ihr Verbot, Kinder an schulischen Weihnachts- und Geburtstagsfeiern teilnehmen zu lassen, all das schafft Konfliktstoff mit der sozialen Umgebung der Zeugen. «Die Welt», das heisst die Welt ausserhalb der Zeugen Jehovas, ist für die Gemeinschaft ein «böses System». Wer sich nicht an die Weisungen der Zentrale hält, wird aus der Gemeinschaft ausgeschlossen (sog. Gemeinschaftsentzug). Im Jahresbericht 2007 der Fachstelle für Sektenfragen infoSekta rangiert die Endzeitgemeinde auf der Liste nach Häufigkeit der Anfragen hinter Scientology auf Rang zwei. In der Schweiz hat die Organisation ca. 18'000 Mitglieder. von D. Sträuli, nach Deckert, «All along the Watchtower» (s.o.; S. 103-117) und Schmid, G. & Schmid, G. O. (Hrsg.). (2003). «Kirchen, Sekten, Religionen». Zürich: Theologischer Verlag (S. 168-170).

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