Von der Zucht zur Wucht - Die Stagnation traditioneller Freikirchen und der Boom des freikirchlichen Erlebnismilieus (Kunz, 2004)

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von Ralph Kunz


1. Von der Zucht zur Wucht - 1.1.Freikirche – ein schwieriger Begriff

Der Titel dieses Beitrags ist eine Hypothese, die auf Beobachtungen und nicht auf empirische Studien basiert. Mir geht es im folgenden darum eine falsche Hypothese zu widerlegen, die ebensowenig empirisch belegt ist, sich aber hartnäckig hält. Kirchlicher Erfolg auf der einen, Stagnation auf der anderen Seite – das bringen viele Journalisten schnell auf die Schiene erfolgreiche Freikirche und serbelnde Landeskirche. Ich meine aber: Traditionelle Freikirchen stagnieren genauso wie die Grosskirchen, während das freikirchliche Erlebnismilieu boomt.

Die Differenzierung will sagen: Pauschale Aussagen über Trends in Freikirchen sind mit Vorsicht zu geniessen. Erstens ist die Szene zu vielfältig. „Freikirche“ besagt nur, dass es sich bei der Gemeinschaft nicht um eine öffentlich-rechtlich anerkannte, sondern um eine privatrechtlich organisierte Kirche handelt, die finanziell und spirituell von der Motivation ihrer Anhänger lebt. Zudem sind die meisten Freikirchen kongregationalistisch strukturiert, weisen also keine übergeordnete Strukturen ausser ein lockeres Bündnissystem auf. Aber nicht nur die Unterschiede zwischen den einzelnen Freikirchen sind erheblich: die Ausprägung der Frömmigkeit, beispielsweise bei den Baptisten oder Methodisten, differiert von Gemeinde zu Gemeinde. Es ist auch schwierig, zuverlässige Angaben über Mitgliederzahlen zu bekommen. Wer prüft die Informationen? Sind sie vertrauenswürdig?

Trotz Schwierigkeiten, mit dem Begriff „Freikirche“ einen gemeinsamen Inhalt zu verbinden, gibt es einen wichtigen Unterschied im Vergleich zu den Grosskirchen. Freikirchen sind Freiwilligenkirchen. Das wirkt sich positiv auf die Mitgliedschaftsmotivation aus. Wer dabei ist, gehört dazu, wer dazu gehört, ist engagiert. Die Verbindlichkeit ist hoch. Freikirchliche Christen sind tendenziell exklusiv in ihrer Orientierung und Anhänger in ihrer Organisation. Fragen wir nach dem Wachstum aller Kirchen, fällt auf, dass die Grosskirchen tatsächlich schrumpfen, teilsorts dramatisch schnell wie die Gletscher und Firnfelder im Sommer 2003, andernorts etwas verlangsamt. Es ist nicht ganz einfach, die Faktoren, die für diesen Rückzug mitverantwortlich sind, zu einem verlässlichen Szenario zu verknüpfen. Was für Basel-Stadt gilt, muss im Emmental noch nicht gelten, was im Württembergischen noch Geltung hat, ist im Badischen schon längst passé. Wagen wir trotzdem eine globale Aussage: Es gibt einen offensichtlichen Zusammenhang zwischen Modernisierung, Urbanisierung und Entinstitutionalisierung, von dem die Freiwilligenkirchen nicht im selben Masse betroffen sind wie die Grosskirchen.

Wie verhält es sich aber mit den Freikirchen? Man könnte annehmen, sie boomen alle im Zeitalter der Orientierungslosigkeit, profitieren also von der Modernisierung, Urbanisierung und Entinstitutionslisierung. Grund zu dieserAnnahme gibt weniger die Rechtsform als die vorherrschende religiöse Orientierung und Bindungskraft der Glaubensgemeinschaften. Sie stellt den Raum für jene Antworten bereit, in dem – wie es in der Ankündigung zur Tagung formuliert ist – Antworten auf Einsamkeitsgefühle und Kontaktarmut gegeben werden. Ist also das exklusiv christliche Orientierungsmuster und/oder rigide Moral das Rezept für erfolgreiche Mitgliederrekrutierung?

 

1.2. Geschichtliche Wurzeln unterschiedlicher Freikirchen

Nein. Die exklusive Orientierung und enge Gemeinschaft sind kein Erfolgsrezept per se. Es wachsen nicht alle Freikirchen, sondern nur bestimmte, eben die Trendgemeinschaften. Ich halte es gleichwohl für sinnvoll, einen binnenfreikirchlichen Vergleich zu machen. Es zwingt uns, von unterschiedlichen kulturellen Settings zu sprechen, die nicht zwingend mit der Rechtsform zu tun haben. Deshalb folgt nun eine knappe Skizze zum geschichtlichen Hintergrund der Freikirchen.

Historisch wurde der Anfang mit der Absetzungsbewegung der Reformatoren von der katholischen Mutterkirche und der Opposition gegen den linken Flügel der Reformation gesetzt. Von diesem linken Flügel der Reformation, der Täuferbewegung, sind Gruppen und Kleinkirchen zu unterscheiden, die aus den pietistischen und neupietistischen Erweckungsbewegungen im 17. , 18. und 19. Jahrhundert hervorgegangen sind. Darunter ist etwa die Methodistische Kirche zu zählen, die heute in vielerlei Hinsicht volkskirchliche Züge trägt. Anders die bekannte Heilsarmee, die zwar dieselben historischen Wurzeln in der englischen Heiligungsbewegung hat, sich aber schon äusserlich als Freikirche gebärdet. Das Beispiel der Heilsarmee, die in der Bevölkerung hohes Ansehen geniesst, widerlegt auch den pauschalen Sektenverdacht, der gegenüber Freikirchen geäussert wird. Auf den Hügeln und zwischen Eggen des Emmentals, im zerklüfteten Zürcheroberland, im Baselbiet oder dem Berner Oberland konnten anderseits freikirchliche Kulturen entstehen, die sich stärker über Sonderidentitäten aufbauten. Wer von Spielsucht und Alkohol gerettet werden konnte – ein grosses Problem in den verarmten Voralpenregionen –, wurde Mitglied eines evangelischen Brüdervereins, in welchem eine enge Stützgemeinschaft den Bekehrten und seine Familie vor dem Rückfall in weltliche Sünde schützte. All diesen historischen Freikirchen ist gemeinsam – und das ist m.E. für das Verständnis der gegenwärtigen Situation entscheidend –, dass ihre gottesdienstliche Praxis mit einem Minimum an Sinnlichkeit auskommt. Sakramentale Frömmigkeit spielt in der Regel keine Rolle; die Gottesdienste sind wortzentriert. Mehr oder minder zeichnen sich diese Freikirchen dadurch aus, dass sie auf eine Gesinnungsethik, eine rigide Sexualmoral und einen strengen Biblizismus beharren. Viele traditionelle Freikirchen sind sowohl ästhetisch als auch ethisch strammer reformiert als die evangelisch-reformierten Kirchen.

 

1.3. Freikirchliche Zucht und freikirchliche Wucht

Wie attraktiv sind nun diese Gemeinden? Wächst ihr Mitgliederkreis? Die Antwort lautet wiederum: Nein. Vieles weist darauf hin, dass dieser Typus Freikirche grosse Schwierigkeiten hat, neue Mitglieder zu rekrutieren. Abgesehen vom biologischen Wachstum, das allerdings beträchtlich sein kann, haben diese Gemeinden keinen Zuwachs. Ein Grund dafür mag das schlechte Image sein. Denn obwohl die historischen Freikirchen aus ganz unterschiedlichen Hintergründen entstanden sind, haben vor allem die neupietistischen „Stündeler“ ein relativ einheitliches Klischee geprägt: Der „Frömmler“ ist tendenziell fanatisch, altmodisch, weltabgewandt und gesetzlich. Genau dieses Klischee trifft nun aber auf ICF oder Basilea oder die Friedenskirche gerade nicht zu. Ein deutliches Beispiel zur Veranschaulichung: Kulturell sind die Versammlung des Evangelischen Brüdervereins in Ried bei Adelboden und die Gospelparty in Zürich zwei verschiedene Welten. Aus der Sicht eines altmodischen Freikirchlers ist ICF ganz und gar modisch und weltlich, denn äusserlich ist nichts auffällig fromm, kein besonderer Kleider- oder Sprachcode, man trägt casual und spricht Slang wie in der weltlichen Jugendszene. Wer zur ICF-Gospel-Party geht, muss sich weder umziehen noch umstellen. Die beiden Frömmigkeitsmilieus unterscheiden sich also sichtbar. Am einen Ort wird die moderne Erlebniskultur verdammt, am anderen Ort wird sie christianisiert. Die Hauptverbindung ist unsichtbar: es handelt sich an beiden Orten um evangelikal geprägte christliche Religion ausserhalb der verfassten Kirche. Synkretismus und Okkultismus werden von beiden abgelehnt, gegenüber der universitären Theologie herrscht eine kritische Haltung. In sozial- und moralethischen Fragen ist man sich im Grossen und Ganzen einig: Sex vor der Ehe ist Tabu, Drogen sind schlecht, Homophilie ist Krankheit. Mit Nuancen wird im Adelbodner Tal und in Zürich dasselbe geglaubt – allerdings in unterschiedlicher Verpackung.

 

1.4. Welche Szene boomt?

Die Verpackung macht's aus. In der neuen Unübersichtlichkeit hat das Eindeutige einen Bonus. Aber klar profilierte Positionen sind nur dann attraktiv, wenn sie auch peppig und poppig daher kommen. Exklusive Glaubensmuster entwickeln ihre Anziehungskraft hauptsächlich im richtigen Design. Werbeleute wissen das schon lange. Der Soziologe Gerhard Schulze hat diese Verschiebung zur Ästhetisierung der Lebenswelt schon Anfang der 90er Jahre in seinem Buch „Erlebnisgesellschaft“ beschrieben.

Generell von einem Boom der Freikirchen oder des Evangelikalismus oder charismatischer Frömmigkeit zu sprechen, ist demnach falsch bzw. undifferenziert. Während in der voralpinen evangelischen Brüdervereinskultur praktisch keine Verjüngung mehr stattfindet und diese Gemeinschaften lediglich biologisch wachsen, rekrutieren die urbanen Jugendkirchen eine neue Klientel. Ein beachtlicher Anteil des Wachstums ist jedoch auf innerevangelikale Verschiebungen zurückzuführen. Die modisch-jugendliche Freikirchen-Szene in Bern, Zürich und Winterthur zog vor allem in der Startphase Jugendliche aus anderen Freikirchen – notabene evangelikaler und charismatischer Prägung – an. Wo zu viele Berührungsängste mit der christlichen Rap-, Soft- , Hardrock- oder Hipphoppszene bestehen, verlassen die Jungfrommen ihre angestammten Heimatkirchen. Ich schliesse aus dem Phänomen der innerfreikirchlichen Mobilität, dass für Erlebnis-Touristen nicht die geschlossenen Systeme und engen moralischen Normen attraktiv sind, sondern die Aussicht auf eine Steigerung des religiösen Erlebnisgehalts. Das Happening birgt die Kraft.

Die evangelikalen Trendkirchen decken ein bestimmtes Segment des religiösen Marktes ab. Das Angebot ist stark auf die Lebens- und Freizeitgewohnheiten ihrer Kundschaft zugeschnitten. Im Unterschied zu den Grosskirchen, welche einen Kultur- und Öffentlichkeitsauftrag, wie Radio DRS einen service publique wahrnehmen müssen, sind die privaten Anbieter flexibler. Sie können eine Sparte bedienen und deshalb auf Bedürfnislagen ihrer Klientel reagieren. Vor  allem wenn es darum geht, neue Kunden zu werben, haben sie den Vorteil, das Design jeweils dem Geschmack- und Stilempfinden der jüngsten Generation anpassen zu können. Vor dreissig Jahren gab es eine evangelikale „Teestübli-Szene“. Damals waren verwaschene Pullover und Sandalen in. Man war als junger Christ tendenziell ein Weltverbesserer. Ich vermute, dass die gegenwärtigen Trendgemeinden mit diesem Evangelikalismus herzlich wenig zu tun haben. Sie sind erfolgreich, weil sie sich nicht alternativ stylen. Deshalb ist hier auch mit Risiken eines kurzfristigen, auf Mode getrimmten und stromlinienförmigen Marketings zu rechnen. Einiges von dem, was für Jugendliche angeboten wird, hat die Kennzeichen einer religiösen Fastfood-Kultur: hohe Reize und wenig Nachhaltigkeit. Darauf komme ich später noch einmal zurück.

 

2. Erfolgsstory des christlichen Fundamentalismus auf dem Erlebnismarkt - 2.1. Coming out

Den zweiten Teil meines Beitrags möchte ich mit einem coming out eröffnen: ich gehörte selber einmal zum International Christian Fellowship. Mein Geständnis hat den Nachteil, dass man mir vielleicht nicht mehr zutraut, kritisch über ICF zu referieren oder – noch schlimmer – vermutet, dass ein Ex-Mitglied überkritisch über seine problematische Vergangenheit spricht. Ich nimms in Kauf.

1990 brauchte ich einen Tapetenwechsel und studierte ein Jahr in Amerika. Ich entschied mich für das Fuller Seminary in Pasadena, absolvierte aber kein eigentliches akademisches Programm, sondern suchte mir die interessantesten Veranstaltungen aus dem Lehrangebot heraus. Neben dem Studium engagierte ich mich in einer hispanischen Pfingstgemeinde in Downtown LA. Für christliche Pilger, die eine Tour ins Heilige Land machten, war Los Angeles Anfang der 90er Jahre ein ‚must‘. Die USA waren und sind ein reicher religiöser Garten; Los Angeles war und ist das Treibhaus. Und so lernte ich während meines Aufenthaltes einen Pilger aus der Schweiz kennen: Heinz Strupler, ein dynamischer, energiegeladener und kreativer religiöser Unternehmer. Strupler bereiste Amerika, um auf neue Ideen zu kommen. New Life, seine alte Unternehmung, hatte an Schwung verloren. Auf seiner Reise haben ihn drei Kirchen fasziniert und zu neuen Ideen angeregt, zwei davon haben ihren Ursprung in Los Angeles: Robert Schulers Programm Hour of Power und die Vineyard Movement in Anaheim. Und weil einer der Exponenten von Vineyard einen Lehrauftrag am Fuller Seminary hatte, besuchte Strupler Pasadena. Die dritte dieser Erfolgskirchen war freilich keine kalifornische Pflanze: Bill Hybels Willow Creek begann den Aufstieg in den Vororten von Chigago, sozusagen zwischen Bible-belt und Grossstadt. Theologisch unterscheiden sich die drei Kirchen ziemlich stark. Vineyard ist charismatisch, Schulers Hour of Power-Theologie ist beeinflusst von Vincent Peales positivem Denken, und Bill Hybels ist ein durchschnittlicher amerikanischer Evangelikaler, wenig interessiert an spektakulären Geisterfahrungen, konservativ in den Inhalten und innovativ in der Verpackung. Auch Strupler war eher skeptisch gegenüber der charismatischen Frömmigkeit – zu wild, zu unkontrolliert, zu gefährlich. Und das bereits vor Toronto. Schuler und Hybel beigeisterten ihn.

Von Willow Creek lernte Strupler das Schlüsselwort „seeker-oriented worship“. Das Erfolgsrezept: ein Gottesdienst, der auf die Kultur der spirituell suchenden Menschen zugeschnitten ist. Das Credo: Menschen, denen man das Evangelium näher bringt, soll nicht zugemutet werden, in eine kulturelles Sondermilieu überzutreten. Oder muss man Orgel mögen, damit man Christ sein darf? 1991 kam ich in die Schweiz zurück. Ich spielte Keyboard, nicht Orgel und suchte eine Stelle. Strupler war in der Zwischenzeit nicht untätig, er gründete ICF. Die Idee des Projektes: ein kleines Zürcher Willow Creek mit einem klar definierten Zielpublikum. ICF soll eine Gemeinde für Ausländer werden, die christliche Gemeinschaft suchen, also ein International Christian Fellowship. Denn in Zürich, so analysierte Strupler, gibt es diesbezüglich ein markantes Unterangebot. Das hat mich angesprochen, und ich machte mit.

ICF war von Anfang an ein Erfolg. Eine Gemeinde, in der englisch und deutsch gesprochen wird, in die man leicht hinein kommt, die international – der zweite Prediger war ein Inder –, die modern, informell und doch verbindlich ist, konservativ in den Inhalten und innovativ in der Verpackung. Evangelikaler Mainstream, nichts Extremes, keine Experimente. In dieser Phase meines kurzen Engagements als Klavierspieler stand das ICF in seinen Anfängen. Die Stimmung war extrem locker, die ganze Sache übersichtlich. Die Gottesdienste in der St. Anna-Kapelle waren gut besucht.

Strupler verliess das ICF. Er startete ein neues Projekt, eine Schule für Gemeindeentwicklung. Heute ist er Vertreter für Schulers „Hour of Power“. Und wie hat sich ICF weiter entwickelt? Die neuen Leiter haben den Namen interessanterweise beibehalten. Vielleicht weil das Kürzel bereits zu einem Markenzeichen geworden ist? Tatsache ist, dass ICF nicht mehr ist, was es ursprünglich hätte sein sollen. Es sind zwar immer mehr Personen dazu gestossen, aber nicht in erster Linie englisch sprechende Ausländer, sondern Teenager und junge Erwachsene, die in ihren Heimatgemeinden nicht auf die Rechnung gekommen sind. ICF entwickelte eine regelrechte Sogwirkung. Vielleicht hat dieser Boom damit zu tun, dass nicht mehr ich das Keyboard bediente?

 

2.2. Religionswissenschaftliche Einordnung – populäre Religion?

Es lohnt sich nicht, meinen Beitrag zur Entstehung der Trendgemeinde weiter zu verfolgen. Den Hinweis auf die amerikanischen Hintergründe halte ich hingegen für wichtig, um das Phänomen der Trendgemeinden besser zu verstehen. Tatsache ist, dass der erfolgreiche Import religiöser Marktstrategien aus den USA keinen zürcherischen, schweizerischen oder europäischen Einzelfall darstellt, sondern weltweit beobachtet werden kann. Der Einfluss als solcher ist auch nicht neu, aber er hat an Intensität zugenommen. Ich denke insbesonders an die boomenden Pfingstkirchen in Chile, Brasilien, Argentinien, Nigeria, Ghana und Südkorea. Dabei sind zeitliche Schwankungen und lokale Differenzen zu beachten, auf die ich natürlich nicht näher eingehen kann. Beschränken wir uns auf ICF als eine leicht modifizierte Version des Willow Creek-Modells. Dieses Modell scheint sich in Deutschland (z.B. in der Andreasgemeinde in Niederhöchstedt) und der Schweiz zu bewähren. Weshalb? Für die Analyse halte ich es für sinnvoll, sich auf das zentrale Produkt, den Gottesdienst, zu konzentrieren und dabei die religionswissenschaftliche und theologische Perspektive auseinander zu halten. Denn die Frage nach dem Erfolg der Trendgemeinschaften hat mit ihrer Show zu tun. Bei den ICF-Gottesdiensten für junge Menschen sticht die Nähe zur Pop-Kultur sofort ins Auge. Dabei wäre es falsch, das Populäre mit profaner oder säkularer Kultur gleichzusetzen. Die Konturen verwischen sich. Gerade weil man heute in allen kulturellen Bereichen auf Religion stösst, in der Werbung und in. Madonna-Songs, verbietet sich ein solches Verständnis von populärer Kultur. Ein Indiz dafür ist das Auftauchen der populären Religiosität. Ihr Profil zu kennen, ist hilfreich, wenn vom Verhältnis des Gottesdienstes zur Pop-Kultur die Rede ist.

Der Berliner Religionssoziologe Hubert Knoblauch stellt die These auf, dass es sich bei populärer Religion um Formen von Religiosität handle, die auf Markt und Medien angewiesen sind. Für ihre Ausbreitung sind diese zwei, nicht voneinander trennbaren Entwicklungen verantwortlich: erstens ein religiöser Markt, „auf dem die verschiedensten Inhalte der historisch gewachsenen Religionen angeboten werden – und der entsprechende angebotsorientierte Sozialformen annimmt. Die-,zweite Quelle ist in der Veränderung der religiösen Kommunikation zu erblicken, die auf den Möglichkeiten der Entwicklung von Medien aufbaut" (1). Populäre Religion ist also die massenkulturelle Sozialform der Religion (2). Sie ähnelt dem, was als Volksfrömmigkeit oder in Anlehnung an den romanischen Sprachgebrauch auch als populäre Religiosität bezeichnet wird (3). Auch Pop-Religion und Medienreligiosität bezeichnen verwandte Phänomene, schränken aber die Reichweite der populären Religion jeweils auf bestimmte Ausschnitte ein. Wie Knoblauch anhand von drei Beispielen - der Electronic Church, der neureligiösen Bearbeitung des Todes und den Papstbesuchen  - aufzeigt, hat das Auftreten der populären Religion in der Spätmoderne mit strukturellen Veränderungen der religiösen Kommunikation, der gesteigerten Medialisierung und Marktorientierung zu tun (4). Knoblauchs Definitionsversuch ist natürlich keine hinreichende Erklärung für das Phänomen der Trendgemeinschaften. Das Modell ‚populäre Religion‘ macht aber auf Rahmenbedingungen aufmerksam, die für den Erfolg von ICF entscheidend sind: Es ist das erhöhte Tempo und die grössere Prägkraft der kulturellen Sozialisation. Medien und Markt sind die Hebel einer Erlebniskultur, in der sich vor allem Jugendliche bewegen. Nur von einer Multiplikation oder milieuorientierten Ausdifferenzierung im Bereich der religiösen Praxis zu sprechen, wäre deshalb unpräzise. Medialisierung und Ökonomisierung haben auch einen Coca-Cola- und McDonald-Effekt. Wer Erfolg haben will, muss populär sein, wer populär bleiben will, muss den Geschmacksdurchschnitt treffen.

 

2.3. Theologische Einordnung – ritualtheoretische Erwägungen

Aber dieser Geschmack enthält ein paar gefährliche Verstärker. Im Glutamat der attraktiven Multimediashow ist eine grosse Portion Fundamentalismus enthalten. Dass hier Risiken und Nebenwirkungen zu erwarten sind, darauf weist bereits der Titel der Tagung. Auf diese Gefahren werde ich jetzt nicht eingehen, weil das andere Referenten tun. Ich möchte beim Fascinosum der Gospelshows bleiben. Die Shows sind offensichtlich eine Wucht. Und das macht sie für die Vertreter des traditionellen Liturgie zum Tremendum. Wenn solche Gospelshows auf dem religiösen Markt besser ankommen, wächst natürlich auch der Wunsch, dieses Rezept zu übernehmen, freilich ohne fundamentalistische Geschmacksverstärker. Ist das überhaupt möglich? Kann man einen Gottesdienst, der so leichtfüssig daher kommt, auch mit theologischem Tiefgang kombinieren?

Mats Staub, der aus theaterwissenschaftlicher Perspektive einen konventionellen Predigtgottesdienst mit einem ICF-Multimediagottesdienst verglichen hat, verneint. Er kommt zum Schluss, dass ein multimediales religiöses Spektakel immer mit plakativen Aussagen und simplen Botschaften einher geht. Ich bin nicht sicher, ob das stimmt, finde aber Staubs Beobachtungen erhellend. Staub beschreibt in seiner Arbeit den Veranstaltungsraum, die Schwellenphase des Rituals, d.h. das Geschehen im Zeitraum vor Beginn des Gottesdienstes und die Grundstruktur des Gottesdienstes. Ich beschränke mich auf den letzten Punkt, weil die Unterschiede zwischen der traditionellen und post-traditionellen Religionskultur hier am deutlichsten werden. Diese Unterschiede – davon bin ich überzeugt – werden falsch interpretiert, wenn man sie auf die Unterscheidungen „Freikirche – Landeskirche“ oder „evangelikal - nicht-evangelikal“ reduziert.

Wo liegt der Unterschied? Prediger, Moderatoren und Musiker bewegen sich im Multimediagottesdienst frei auf der ganzen Bühne. Und es ist in der Tat eine Bühne. Bis zu 20 Akteure treten innerhalb einer Show auf. Begrüssung, Gebet, Videoclip, Anbetung, Theater, Predigt, Interview und Sologesang sind die Elemente. Die einzelnen Akte besitzen eine ganz unterschiedliche Erlebnisintensität, richten sich aber alle nach dem Thema. Säkulare Vorbilder dieser Inszenierungsform sind Talkshow und Popkonzert. Die Moderatoren führen durch den Anlass und preisen die jeweils nächsten Akte an. Das permanente Anpreisen ist ein auffälliges Merkmal der ICF-Gottesdienste. „Dabei unterscheiden sich die Ankündigungen und Kommentare in Wortwahl und Begeisterungsgrad kaum voneinander und vermitteln durchwegs dieselbe Botschaft: es wird super, es ist gewaltig, es war krass" (481). Die Begeisterung auf der Bühne und die lockere Atmosphäre unter den Zuschauern lässt leicht vergessen, dass es um eine ernste Angelegenheit, um die Errettung geht. Das drohende Verderben blitzt immer wieder auf, bleibt aber im Hintergrund. Bedrohliches wird harmlos im leichten Unterhaltungston dargestellt (540).

Ganz anders die reformierte Predigtliturgie. Sie kennt in der Regel einen einzigen, eigens kostümierten Hauptakteur, der sich während des Gottesdienstes zweckgerichtet und unauffällig bewegt. Der Höhepunkt des Rituals ist eine anspruchsvolle Rede, in der die Schrift ausgelegt wird. Alles ist ernst, in gehaltenem und gehobenem Ton. Die Gefahr der Gottverlassenheit wird theologisch bewältigt. Whrend also in der Predigt im Fraumünster durch Erörtertung widersprüchlicher Aussagen die Komplexität der Botschaft erhöht wird, versucht der Prediger im ICF Komplexität zu reduzieren, Widersprüche zu zähmen und aufkommende Ängste durch gute Laune in Schach zu halten. Komplexität wird auf eine einfache Problemlösungsstrategie reduziert. Die Bibel wird nicht ausgelegt - sie wird angewandt. Sie erscheint nicht als Buch,  sondern wird  als Beleg für die Wahrheit der Lösung an die Leinwand projiziert. Das Fazit Staubs aus dem Vergleich der beiden Gottesdienste: „Die Gegenüberstellung von Fraumünster und ICF führt somit zu dem bemerkenswerten Befund, dass beide Gottesdienste eine paradoxe Konstruktion von Inhalt und Form aufweisen: Im Fraumünster wird mit einer rigiden Form ein ‚offener‘ Inhalt zu vermitteln versucht - im ICF mit einer ‚offenen‘ Form ein rigider Inhalt.“ (533).

Wie gesagt, halte ich diese Überlegungen für interessant, aber für kurzschlüssig. Denn der erfolgreiche Schulterschluss zwischen Fundamentalismus und populärer Erlebniskultur ist zwar auffällig, aber nicht zwingend. Ob Politik oder Wirtschaft, Sport oder Kultur: die Frage, wie unterhaltsam Informationen verkleidet werden, wie amüsant eine Botschaft inszeniert und präsentiert werden darf, hängt zwar immer auch mit der Frage zusammen, wie stark eine Thematik vereinfacht werden kann. Es geht Wirksamkeit und Wahrheit. Die Packung ist bestimmend. Wie man im Medienzeitalter das Evangelium inszenieren soll, wird Christen aller Couleur in Zukunft intensiv beschäftigen. Um diese Diskussion sachgerecht zu führen, sind Berührungsängste und Anbiederungsversuche mit der Popularkultur gleichermassen zu vermeiden. Es ist so. Wer populär sein will, muss den Mut haben, gewisse Dinge zu vereinfachen. Aber Elementarisierung heisst nicht zwingend Simplifizierung und Konzentration nicht zwingend Reduktion und Anschaulichkeit nicht zwingend Plakativität. Wenn ich darum diese gemeinsame Herausforderung aller Kirchen und Gruppen in den Vordergrund rücke, geschieht das mit der Absicht, Nebenwirkung und Risiken nicht nur in der theologischen Beschränktheit zu suchen, sondern eben auch im unkritischen Umgang mit den Medien, den kulturellen Kräften in unserer Gesellschaft und den Kommunikationstechniken, die eingesetzt werden können. Die unkritische Haltung ist dann gefährlich, wenn die Popularkultur zu schnell in globo verteufelt oder auf Teufel komm raus missionarisch besetzt wird.  

 

2.4. Was kann man vom ICF lernen?

Was kann die Kirche von ICF lernen? ICF-Exponenten werden sich hüten, ihre Vereinfachungsstrategie zu verlassen und damit genau das aufzugeben, was sie in den Augen vieler als bekennende Christen auszeichnet. Sie haben eine klare Botschaft, die sie erfolgreich „vermarkten“ können: die Bibel hat doch Recht, Jesus ist immer die Lösung, kein Sex vor der Ehe und Homosexualität ist Sünde etc. ICF wird behaupten, man müsse, wenn man an die Massen der Jugendlichen gelangen will, Farbe bekennen, Profil zeigen und die Dinge beim Namen nennen. Hier auf Aufklärung, theologische Vernunft oder eine Differenzierung in ethischen Fragen zu hoffen, halte ich für einen frommen Wunsch!

Dennoch, ICF ist in theologischer und religiöser Hinsicht weniger extrem als beispielsweise charismatische Trendgemeinden. Was hier geboten wird, ist religiös betrachtet biederer Durchschnitt, unspektakulärer Mainstream-Evangelikalismus. Das gilt auch für die Sexualmoral. Sie ist konservativ.  Die Mehrheit der weltweiten Christen ist genauso konservativ. Aus diesen Gründen wäre ich mit dem Attribut „sektiererisch“ höchst zurückhaltend, selbst hinsichtlich G12. Ich finde es auch gefährlich, zu schnell und zu pauschel von Fundamentalismus zu sprechen und einen Begriff zu verwenden, der zum Passepartout für alles Extreme und Totalitäre geworden ist. Für die Auseinandersetzung mit Trendgemeinschaften wie ICF sind solche Schubladisierungen genauso wenig hilfreich wie „landeskirchlich“ und „freikirchlich“. Erstens verpasst man auf diese Weise die kulturelle Dimension des Phänomens, zweitens treibt man den Teufel mit dem Beelzebub aus. Denn wir dürfen die kritische theologische Auseinandersetzung nicht abkürzen. Die pathologisch verengte Gemeinschaft und die ideologisch reduzierte Theologie sind virulente Gefahren der christlichen Frömmigkeit. Wir haben mit diesen Gefahren auch in den Landeskirchen zu tun. Mir gefällt deshalb die Idee des „Sektenthermometers“. Soziale Verengung und ideologische Erhitzung sind eine graduelle Angelegenheit. Man müsste dann aber konsequenterweise auch die Kälte in den Gemeinschaften und die Gleichgültigkeir messen.

Ich will mit diesen Relativierungen ICF nicht verharmlosen. ICF hat Erfolg und will weiterhin erfolgreich sein. ICF-Pressesprecher Linder spricht in der Reformierten Presse vom strategischen Ziel einer Verzehnfachung der Besucher. Das ist, wenn man Nebenwirkungen und Risiken des Wachstums berücksichtigt, nicht harmlos, sondern – freundlich ausgedruckt – höchst  zwiespältig. Die Erfolgsabsicht bietet einerseits einen gewissen Schutz vor religiösen Entgleisungen. Denn der richtige Durchschnitt bleibt ein entscheidender Faktor für das Wachstum. Man experimentiert nicht mit scharfem Curry, wenn man mit Ketchup mehr Erfolg hat. Wenn weiterhin Wachstum angesagt ist, muss auch Transparenz in den empfindlichsten Gebieten der öffentlichen Meinung herrschen: Geld, Macht und Sexual ität. Andererseits ist es der Erfolg, der den Trendgemeinden auch zu schaffen machen wird. Der Pressesprecher gibt zu: „Wir sind zwar ein effizienter Pflug im Reinbringen von Leuten, aber es springen noch zu viele nach einiger Zeit wieder ab." Der ICF als religiöser Durchlauferhitzer? Mich interessiert das Schicksal dieser Erkälteten und Abgesprungenen.

Eingedenk der Chancen und Risiken sei zum Schluss die Gretchenfrage gestellt. Sollen die Grosskirchen das Erfolgsrezept der Gospelshow übernehmen? Antwort: Warum nicht. Es geschieht ja bereits, hier und dort sogar mit studierten Theologen an der Front. Die Grosskirchen wären allerdings schlecht beraten, wenn sie in ihrer Analyse der religiösen Situation den Kurzschluss machen, dass man nur wuchtig und züchtig sein muss, um Erfolg zu haben. Das mag kurzfristig der Fall sein. Aber ist es nachhaltig? Um ein Bild des Apostel Paulus‘ aufzunehmen: Trendgemeinschaften geben Milch zu trinken. Das Ziel wäre feste Speise (1 Kor 3:1). Worin besteht diese feste Nahrung?

Ich will die Richtung eines nachhaltigen und festigenden Glaubens mit Fragen aufzeigen: Wie kann man heute sein Christsein wach, mündig und kritisch leben? Wo lernt man, mit den Widersprüchen, Widerständen und Brüchen in der eigenen Biographie umzugehen? Hätten die Grosskirchen eine Gemeindekultur, in der man diese zweiten und dritte Schritte der Glaubensentwicklung einüben kann, könnte sie als echte Alternative zu den Trendgemeinschaften auftreten. Das geschieht, soweit ich erkennen kann, erst in Ansätzen. Wenn der Erfolg von ICF bewirkt, dass man in den Grosskirchen die Arbeit an einer lebendigen Glaubenskultur intensiviert, wäre das eine höchst willkommene Nebenwirkung. 

 

Zusammenfassung

Exklusive Orientierung und enge Gemeinschaft sind kein Erfolgsrezept per se.

Klar profilierte Positionen sind nur dann attraktiv, wenn sie auch peppig und poppig daher kommen.

Viele traditionelle Freikirchen, die sowohl ästhetisch als auch ethisch strammer reformiert sind als die evangelisch-reformierten Kirchen, haben Rekrutierungsprobleme.

Der Erfolg der Trendgemeinschaften hat mit ihrer Show zu tun. Die Nähe zum jugendlichen Lifestyle und zur populären Kultur ist attraktiv.

Medialisierung und Ökonomisierung sind die Rahmenbedingungen diese Erfolgs, haben auch einen Coca-Cola- und McDonald-Effekt. Wer populär bleiben will, muss den Geschmacksdurchschnitt treffen.

Im Fraumünster wird mit einer rigiden Form ein „offener“ Inhalt zu vermitteln versucht - im ICF hingegen mit einer „offenen“ Form ein rigider Inhalt.

Wichtig ist, dass hier nicht zu schnell falsche Alternativen konstruiert: Elementarisierung heisst nicht zwingend Simplifizierung und Konzentration nicht zwingend Reduktion und Anschaulichkeit nicht zwingend Plakativität.

Für die Diskussion über ICF ist gut zu sehen, dass hier evangelikaler Mainstream geboten wird. ICF ist keine fundamentalistische Sekte. Man soll ICF nicht dämonisieren.

Aber auch nicht verharmlosen! Genau Hinsehen und Lernen heisst die Devise. Denn um längerfristig Erfolg zu haben, reicht es nicht, wuchtig und züchtig zu sein. Die Alternative zur ICF-Strategie heisst nachhaltiges Wachstum.

Wenn der Erfolg von ICF bewirkt, dass man in den Grosskirchen die Arbeit an einer lebendigen und nachhaltigen Glaubenskultur intensiviert, wäre das eine höchst willkommene Nebenwirkung.

 

Literatur

Hubert Knoblauch (2000). Populäre Religion. Markt, Medien und die Popularisierung der Religion. In: ZdR 8, 143-161, 145.

Thomas Luckmann (1988). Die massenkultuirelle Sozialform der Religion. In: Hans-Georg Soeffner (Hg). Kultur und Alltag. Sonderband c der ‚Sozialen Welt‘. Göttingen. 37-48.

Knoblauch, a.a.O.146

Knoblauch, a.a.O., 152ff

Mats Staub (2002): Prediger und Showmaster Gottes, in: Kotte Andreas (Hg.), Theater der Nähe, Zürich. 427-550.

 

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