Lernen im protestantischen Fundamentalismus der USA von 1930 bis 1950 (Flammer, 1995)

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von Philipp Flammer


1. Einleitung

Der Aufstieg des Evangelikalismus, wie er sich in den USA seit den 1960er Jahren mit zunehmender Lautstärke artikuliert, ist für den Historiker und Fundamentalismusforscher Joel A. Carpenter eine der erstaunlichsten Entwicklungen der zeitgenössischen Kultur (CARPENTER 1984, 3; auch MARSDEN 1991, 62). Ihn erstaunt vor allem, wie wenig darüber bekannt ist. Öffentliches und wissenschaftliches Interesse würden sich vor allem auf die spektakuläre "Fundamentalist-Modernist"-Kontroverse der 1920er Jahre beschränken, nach der die Modernisten den konservativen Evangelikalisums als "k.o." ausgezählt haben. Es werde jedoch kaum zur Kenntnis genommen, das es dem Evangelikalismus heute wieder sehr gut geht, obwohl sein normatives und vitales Zentrum noch immer in der fundamentalistischen Tradition steckt. Die Wurzeln für dieses "Comeback" ortet Carpenter in den 1930er und 1940er Jahren. Was veränderte sich im protestantischten Fundamentalismus jener Zeit? Was lernten die Anhän-gerinnen und Anhänger? Bevor ich auf diese Fragen näher eingehe, will ich noch die Begriffe "Fundamentalismus" und "Evangelikalismus" klären und den wirtschaftstheoretischen Bezugsrahmen skizzieren, in dem dieses Thema diskutiert werden soll.

1.1. Die Begriffe "Fundamentalismus" und "Evangelikalismus"

Der Religionssoziologe James D. Hunter versteht unter "Evangelikalismus" den nordamerikanischen Ausdruck für theologisch konservativen Protestantismus und benutzt ihn als Synonym für protestantische Orthodoxie (HUNTER 1987, 4; 157f). Evangelikalismus ist ein Sammelbegriff für eine Vielfalt religiöser und konfessioneller Traditionen, und wenn der Begriff auch nicht immer mit Fundamentalismus gleichzusetzen ist, so schliesst er diesen doch mit ein. Hunter betont, "Fundamentalism is viewed here as a faction within Evangelicalism and not as a movement distinct from Evangelicalism." Soziologisch gesehen sind Evangelikalismus und Fundamentalismus - als konservativ-orthodoxer Protestantismus mit moderater und separatistischer Ausprägung - moralische Ordnungen mit symbolischen Grenzen, die als die "richtigen" Regeln und Richtlinien wirken, aus denen die Menschen Sinn für ihr persönliches Leben aufbauen können. Sie sind damit etablierte und voraussagbare Muster von Beziehungen und sozialem Austausch in einer weiteren Gemeinschaft.

Für den Historiker George Marsden ist Evangelikalismus die konzeptionelle Einheit einer Gruppe von Christen, die durch fünf Merkmale definiert werden kann (MARSDEN 1984, ix-xii): Doktrin der absoluten Autorität der Bibel; der reale, historische Charakter des Heilswerks Gottes, wie es in der Bibel steht; die ewige Errettung einzig durch das persönliche Vertrauen in Christus; die Wichtigkeit von Evangelisation und Missionen und die Wichtigkeit eines spirituell veränderten Lebens. Evangelikalismus im weiten Sinne ist eine Bewegung von verschiedenen Gruppen, zwischen denen zwar oft wenig Verbindung oder Unterstützung besteht, die aber dennoch Teile der gleichen historischen Bewegung mit gemeinsamen Wurzeln und Tendenzen hinsichtlich dem sind, worauf sie ihre Aufmerksamkeit richten und ihre Akzente setzen. Weit verbreitete Liedersammlungen, Techniken der Evangelisation, Stile des Gebets und des Bibelstudiums, Gottesdienste und Verhaltensweisen zeugen vom gemeinsamen Ursprung. Evangelikalismus im engen Sinne ist eine überkonfessionelle Gemeinde bewusster "Evangelikaler" mit komplizierter Infrastruktur von Institutionen und Personen. Fundamentalisten sind nach Marsden speziell militante Evangelikale, die gegen moderne Entwicklungen kämpfen.

Die Annahme, dass es zwischen dem Christentum und der Entwicklung der Moderne, speziell zwischen dem Protestantismus und dem Kapitalismus, einen besonderen Zusammenhang gibt, ist nicht neu und mit kontroversen Hypothesen ausgeführt worden (ABERCROMBIE et al. 1986, 5-72; HUNTER 1987, 187-20): Während Max Weber nach seiner Studienreise durch die USA (1904) in der protestantischen Ethik mit ihrer asketischen, selbstdisziplinierten, sparsamen, fleissigen und pragmatischen Ausrichtung allein auf den Willen Gottes die Grundvoraussetzung für den modernen Individualismus und den Geist des Kapitalismus erkannnte (WEBER 1988, 235), ortete sein amerikanischer Zeitgenosse und Vorläufer der institutionellen Ökonomie, Thorstein Veblen, in den religiösen Sitten und Gebräuchen bereits 1899 skeptisch "ein Hindernis auf dem Weg zur höchstmöglichen Leistungsfähigkeit der Industrie unter modernen Verhältnissen", das der Entwicklung wirtschaftlicher Institutionen Widerstand entgegensetzt (VEBLEN 1989, 294f). Dennoch bedeutet die Thematisierung von Evangelikalismus und Fundamentalismus im Rahmen der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, dass für dieses klassisch religionswissenschaftliche Thema zuerst ein wirtschaftstheoretischer Anknüpfungspunkt und ein entsprechendes Erkenntnisinteresse aufgezeigt werden muss.

1.2. Der neoklassische Ansatz

Der "Wohlstand der Nationen" wird seit Adam Smith gerne von der Effizienz der Märkte abhängig gesehen. In perfekt effizienten Märkten würde eine "unsichtbare Hand" zu einer gleichgewichtigen Stabilität führen. Die neoklassische Wirtschaftstheorie erkennt Märkte dann als effizient, wenn die einzelnen Akteure ungebunden sind (Gewerbe-, Handels- und Konsumfreiheit), über sämtliche Informationen verfügen (Markttransparenz bezüglich Nachfragevolumen und Angebotskosten) und durch rationale Überlegungen bestrebt sind, ihren eigenen Nutzen zu maximieren ("rational choice"). Mit anderen Worten: Paretoeffiziente Güterallokation ist dann gewährleistet, wenn die einzelnen Akteure immer anbieten, wenn sich eine gewinnbringende Nachfrage bildet, und kaufen, wenn ein Angebot lohnenswert, das heisst, der Grenznutzen grösser ist als die Kosten. "Rational" lohnenswert meint, dass der Akteur die Opportunitätskosten mitberücksichtigt, nämlich die Kosten eines alternativen Nutzens, der einem durch die getätigte Investition entgeht. Neoklassiker sprechen zwar vom freien Spiel der Marktkräfte, die wenigsten waren jedoch Anhänger von Laissez-faire: Dem Staat wurde die Aufgabe zugewiesen, Ungleichheiten zu mildern und monopolistische Verzerrungen wie externalisierte Kosten zu korrigieren (SAMUELSON / NORDHAUS 1985, 678f; 761f).

Dieses neoklassische Grundmodell gewinnt Erklärungsplausibilität für bestimmte Situationen wirtschaftlichen Austausches. Wo es jedoch generell zur Erklärung wirtschaftlicher und gar gesellschaftlicher Prozesse herangezogen wird, zeigen sich seine Grenzen an zahlreichen systematisch unterschätzten Faktoren, die sich in Realität nicht auf Null reduzieren lassen: die Verteilung von kulturellem, sozialem und wirtschaftlichem Kapital, die erst eine Wettbewerbsteilnahme möglich macht, chronisch mangelnde Markttransparenz, Kosten des Güteraustausches und externalisierte Kosten der Güterproduktion etc. Entsprechend hat es zahlreiche Kritik provoziert. Radikal kritisiert der philosophische und politische Kommunitarismus das Modell, entweder als Widerspiegelung gemeinschaftszersetzender und vermeintlich demokratiebedrohender Individualisierungsprozesse oder als verzerrende Darstellung einer viel gemeinschaftlicheren Welt (WALZER 1993, 157-164). Die Menschen seien nicht eigennützig, sondern moralisch Handelnde, nicht einfach ungebundene Individuen, die bloss gemeinschaftlich kooperieren, sondern Wesen, deren Identität und Werte von Gemeinschaften konstituiert werden (SANDEL 1993, 20-25). Dementsprechend würden Sitten und Bräuche - "Habits of the Heart" (Robert N. Bellah; vgl. : HADDEN / SHUPE 1988, 88-91) - die zentrale gesellschaftliche Integrationsfunktion ausüben. Der radikale Wirtschaftsliberalismus führt seit den 1970er Jahren die Ineffizienz der Wirtschaftsleistung darauf zurück, dass der Staat innovative Akteure in ihren Entscheidungen und Handlungen zu stark einschränke und mit Steuern belaste, und begann in den 1980er Jahren mit der "supply side"-Deregulierung, die wiederum das Wasser auf die Mühlen der kommunitaristischen Kritik lenkte.

Die Ideologiediskussion in der Neuen Institutionellen Wirtschaftstheorie

Die beiden kritischen Positionen stecken den Problembereich ab, mit dem sich die Neue Institutionelle Wirtschaftstheorie auseinandersetzt: Die Einsicht, dass Märkte auf Angebot und Nachfrage regulierenden Institutionen beruhen und ihre Effizienz von der Qualität dieser Institutionen abhängt, dass das neoklassische "zero transaction cost framework" (NORTH 1991) eine Illusion ist. Mancur Olson machte darauf aufmerksam, dass es für die tatsächliche Interessenswahrnehmung eines rational handelnden Akteurs einen Unterschied macht, ob das Gut, worauf sich sein Interesse richtet, ihm einen individuellen Nutzen bringt oder lediglich einen Nutzen, den er mit anderen gemeinsam beanspruchen kann. Aus einem rationalen Kostenoptimierungsverhalten heraus tendiert er deshalb dazu, die Bereitstellung eines solchen Kollektivgutes anderen zu überlassen (OLSON 1992, 4-20). Daraus folgt, dass es darauf ankommt, ob dieser Akteur ein einzelnes Individuum, eine kleine, mittelgrosse oder grosse Gruppe ist: "Gemeinsame" Interessen können nicht einfach als Schnittmenge der "individuellen" Interessen gesehen werden, sondern beruhen auf stillschweigenden oder expliziten Absprachen, die einer Organisation von "selektiven" Anreizen für die einzelnen Gruppenmitglieder bedürfen. Bei der Organisation solcher negativer oder positiver Anreize sind kleine bis mittelgrosse Gruppen gegenüber grossen latenten Gruppen bevorteilt (OLSON 1992, 21-51). Olson hat dazu die beiden Theorien der "Nebenprodukte" und der "Sonderinteressen" formuliert. Die Nebenprodukttheorie besagt, dass grosse latente Gruppen, die sich zu Lobby-Organisationen für ein Kollektivgut formieren können, neben dieser politischen Funktion für die Mitglieder auch andere nicht-kollektive Funktionen wirtschaftlicher, sozialer oder eben auch intellektueller Art erfüllen. Die Theorie der Sonderinteressen ergänzt die Nebenprodukttheorie für oligopolistisch kleine, privilegierte oder zumindest mittelgrosse Gruppen, die gegenüber den grossen über die Mobilisierungsvorteile besserer Absprachemöglichkeiten, stärkerer individueller Interessen und sozialer Nähe der Mitglieder verfügen und so eine überproportionale Lobby für ihre "Sonderinteressen" zu entwickeln vermögen (OLSON 1992, 130-132; 139-142).

Das Problem an dieser wichtigen "Logik des kollektiven Handelns" sieht Robert Higgs darin, dass auch Olson noch von einem "homo oeconomicus" ausgeht, der eher einem hypernervös nutzenmaximierenden sozialen Autisten gleicht, oder wie er A.K. Sen zitiert: "The purely economic man is indeed close to being a social moron." (HIGGS 1987, 41). In Anlehnung an Douglass C. North schlägt er vor, Ideologie als gruppenkonstituierendes Konzept ins Modell einzuführen. Ideologie nach Higgs ist ein einigermassen kohärentes und ziemlich umfassendes Glaubenssystem über soziale Beziehungen, ein symbolisches Subsystem der Kultur, das mit den vier Aspekten des Kognitiven, Affektiven, Programmatischen und Solidarischen sowohl in der Identität der einzelnen Subjekte verankert ist, als auch regulierend auf das kollektive Handeln einer Gruppe wirkt. Ideologien sind seiner Ansicht nach knappe Güter, die von Meinungsmachern produziert und verbreitet werden und von Eliten als Instrumente der politischen Mobilisation und Manipulation eingesetzt werden können. Entsprechend werden sie besonders in sozialen Krisen prominent. Krisen würden das ideologische Klima verändern und damit die Veränderung von Institutionen bewirken (HIGGS 1987, 37f, 45-47, 59). Allerdings bleibt Higgs unklar bezüglich dem, was denn eigentlich geschieht, wenn sich das ideologische Klima verändert. Er meint lediglich, dass ideologischer Wandel vergleichbar sei mit technologischem: Technologie und Ideologie als Naturwissenschaft oder Religion hätten mit Wissen zu tun, wie die Welt in einem bestimmten Bereich funktioniert, und ihr Wandel sei bei beiden schwer direkt zu beobachten. Wie die Technologie muss auch Ideologie erfunden, entwickelt und gelernt werden (HIGGS 1987, 70f). In Anlehnung an Simon Kuznets und im Anschluss an Higgs kann also erwartet werden, dass es auch in Ideologien unterschiedliche Typen von Innovationen gibt, wie zum Beispiel neue Lehrelemente als ideologische Basisinnovationen oder neue Propagandatechniken zur Verbreitung bereits entwickelter Ideologien (KUZNETS 1974).

In der Frage des ideologischen Wandels bleibt auch North makrotheoretisch (NORTH 1989; 1991): Nach der Einsicht, dass es keine gesellschaftlichen Marktbedingungen im Sinne eines "zero transaction cost framework" gibt, interessiert ihn die Frage, welche gesellschaftlichen Spielregeln oder Institutionen die Kosten der Wirtschaftsleistung bestimmen und wie diese beschaffen sein müssten, damit die Transaktionskosten minim werden. Institutionen sind so politische und ökonomische Regelsysteme in einem Spiel, in dem politische und wirtschaftliche Unternehmer - die Entscheider in Organisationen - die Spieler sind, während Ideologien die subjektiven Erklärungsmodelle ("mental models") der Individuen für die Welt um sie herum bilden. Ideologien bestimmen somit die subjektive Wahrnehmung institutioneller Spielregeln und erhalten damit zentrale Kostenrelevanz für die Durchsetzung der Regeln und die Kontrolle ihrer Einhaltung (NORTH 1991, 6-9).

Dagegen wird Ideologie bei Hansjörg Siegenthaler präzisiert als ein Set kognitiver Regeln der Selektion, der Klassifikation und der Interpretation, welches dem isolierten Möchtegern-Nutzenmaximierer erlaubt, jede Information, mit welcher er auch immer konfrontiert wird, in brauchbares Wissen umzukonstruieren. Ideologie ist hier eine individuelle Hypothese der besten Informationskonstruktion, die von der Erfahrung falszifiziert wird. Driften konstruiertes Wissen und Erfahrung auseinander, gerät das Individuum an seine intellektuellen Grenzen, da seine kognitiven Regeln der Informationsverarbeitung offensichtlich auf dem Spiel stehen. Es sucht den intersubjektiven Kommunikationszusammenhang einer Gruppe, die ihm die Chance der gemeinsamen Entwicklung einer neuen Hypothese bietet - die Chance zu "fundamentalem Lernen" (SIEGENTHALER 1989). Eine fundamentale Unsicherheit, die die gewohnte Wahrnehmungsstruktur entwertet und so die Opportunitätskosten zur Entwicklung neuer reduziert, wird hier zum entscheidenden Verständnis von ideologischem und institutionellem Wandel (SIEGENTHALER 1991, 12f). Siegenthaler bietet nun zwar ein subjektzentriertes Modell, das eine Veränderung des "ideologischen Klimas" verständlich macht, Higgs hält jedoch dagegen, dass der Ideologiebegriff so einerseits zu weit sei und eine Beschränkung auf Glaubenssysteme über soziale Beziehungen angemessen wäre, sowie andererseits zu eng, weil er nur Kognitionen identifiziere und die gruppenkonstituierenden Aspekte des Programmatischen und Solidarischen vermissen lässt.

1.3. Problemstellung und Hypothese

Die hier vorgestellte theoretische Diskussion, wie die Institutionenanalyse in die Politische Ökonomie eingeführt werden könnte (FURUBOTN / RICHTER 1989), macht deutlich, dass offenbar dem Begriff der "Ideologie" eine zentrale Bedeutung zukommt. Allerdings scheint man sich nicht einig zu sein, auf welcher theoretischen Ebene er wie eingesetzt werden soll. Und die unterschiedliche Verwendung des Ideologiebegriffs impliziert auch unterschiedliche Vorstellungen von "Lernen". Während Higgs mesotheoretisch ideologischen Wandel aus dem kollektiven Problemlösungshandeln erklärt, ortet Siegenthaler die Ursache ideologischen Wandels mikrotheoretisch im Bedarf des verunsicherten Subjekts nach fundamentalem Lernen. Ich gehe nun davon aus, dass - unabhängig, ob man Ideologie als ein kognitives Regelset thematisieren will, das im Gruppenzusammenhang erarbeitet wird, oder als ein gruppenkonstituierendes Konzept mit solidarischen und programmatischen Aspekten - zumindest darin Einigkeit besteht, dass es sich bei der Ideologie um ein Kollektivgut handelt mit all den Problemen, die nach Olson damit verbunden sind. Damit werden neben finanziellen und sozialen Anreizen auch symbolische wie "erotische, psychologische und moralische Anreize", die Olson lediglich im Rahmen einer Fussnote berücksichtigte (OLSON 1992, 60), theoretisch integrierbar und auch "nicht-wirtschaftliche Lobbies" mit den Theorien der "Nebenprodukte" und "Sonderinteressen" besser erklärbar, als Olson meinte (OLSON 1992, 158).

In dieser Arbeit geht es nun um die Frage, was erklärt werden kann, wenn das Lernen im protestantischen Fundamentalismus der USA zwischen 1930 und 1950 als das fundamentale Lernen einzelner verunsicherter Subjekte verstanden wird. Ist es alleine die Übernahme eines neuen Sets kognitiver Regeln im Rahmen einer "Rhetorik des Verstehens" durch verunsicherte Individuen, die eine Krise bewältigen hilft? Welche Dimensionen der fundamentalistischen Neuformierung werden damit nicht berücksichtigt? Meine Hypothese lautet, dass Lernen im protestantischen Fundamentalismus in einer Zeit stattfand, in der nicht nur die Existenz vieler Individuen objektiv oder subjektiv auf dem Spiel stand, sondern auch die Aufrechterhaltung des symbolische Systems des Fundamentalismus. Es kann deshalb erwartet werden, dass nicht nur die verunsicherten "isolierten" Individuen auf der Strasse Anreize zu "fundamentalem Lernen" empfanden und deshalb offen für die Ideologieangebote von Gruppen waren, sondern auch die religiösen Unternehmer als Elite der Gruppe bestrebt war, das kollektive Überleben der Gemeinschaft zu sichern.

In einem ersten Schritt werde ich plausibel machen, dass der Protestantismus als Ganzes seit dem Bürgerkrieg zusehends in eine grundlegende Krise geriet, seine kulturelle Hegemonialmacht verlor und als Reaktion darauf ideologische Basisinnovationen für den Umgang mit den neuen gesellschaftlichen Verhältnissen entwickelte. Im zweiten Schritt werden jene entscheidenen Innovationen zwischen 1930 und 1950 dargestellt, die das erfolgreiche Überleben des Evangelikalismus sicherten. Und im dritten Teil geht es dann um die Frage, wie die einzelnen Individuen in den fundamentalistischen Umfeldern gelernt haben.

2. Protestantische Hegemonie und die Krise des Protestantismus

Fundamentalismus und Evangelikalismus berufen sich auf eine Vergangenheit, in der der Protestantismus eine grosse Blüte erlebte, jedoch schon damals alles andere als ein einheitliches und unveränderliches kulturelles Gebilde war. Für das Verständnis unterschiedlicher Entwicklungen im Fundamentalismus zwischen 1930 und 1950 ist es deshalb unerlässlich, die Entwicklung des ideologischen Bündels des frühen Protestantismus kurz darzustellen. Als die Puritaner zuerst 1620, dann Ende der 1620er Jahre im grossen Puritaner-Exodus in der Massachusetts Bay anlangten, brachten sie Calvins Lehre nach Amerika (HADDEN / SHUPE 1988, 96-104; GUGGISBERG 1988, 17f). Im Kern war diese Ideologie eine "privatisierte" Religion, die ganz auf das sündige Gewissen der einzelnen Gläubigen setzte und sie so der alleinigen Autorität des biblischen Gottes anheim stellte. Das "gute Gewissen" wurde zum Konformitätstrick der symbolischen Ordnung und mit der Einführung des Tagebuch-Schreibens und öffentlicher Glaubensbezeugnisse individuell kontrolliert (ROSE 1989, 220). Weltlicher Erfolg wurde der Vorsehung Gottes und nicht der individuellen Leistung der einzelnen zuattribuiert (Prädestination). Sie begründetete damit auch die Idee eines speziellen Bundes mit Gott ("Convenant"), die in dieser calvinistischen Version entsprechend elitär ausgerichtet war. Diese europäische Ideologie war insofern pessimistisch, als sie die gegenwärtige Welt im Herrschaftsbereich Satans interpretierte und zwar in der Phase "vor" dem Ewigen Gericht, das eine Tausendjährige Gottesherrschaft (Chiliasmus), das Paradies begründen sollte. Calvinismus wurde so zwar zur protestantischen Kernkultur Amerikas, der Protestantismus als Ganzes aber erlebte in der Folge zahlreiche ideologische Variationen und zum Teil grundlegende Veränderungen.

2.1. Die Institutionalisierung und Amerikanisierung der protestantischen Kultur

... wurde wesentlich von vier Faktoren getragen: Sektengemeinschaften, Bildungsinstitutionen, "Revivals" und "Awakenings". Der Protestantismus wurde bis ins 19. Jahrhundert wesentlich von einer Vielzahl kleiner Gemeinschaften getragen, die Max Weber 1904 als "protestantische Sekten" aufschlussreich beschrieb. Diese kleinen bis mittelgrossen Gemeinschaften genossen nicht nur sämtliche Mobilisierungsvorteile kleiner Gruppen, die ihre Mitglieder mittels sozialer Anerkennung oder Ächtung wirksam zu kontrollieren vermochten, sondern erwiesen sich im sozialen und wirtschaftlichen Kontext der frühen Siedlerzeit als optimalste Integrationsinstrumente. Christoph Buchheim sieht die ökonomischen Bedingungen um 1790 durch einen unübersehbaren Überschuss am Produktionsfaktor Land und einen vergleichsweise krassen Mangel am Produktionsfaktor Arbeitskraft bestimmt (BUCHHEIM 1994, 105-107). Die Gemeinschaften wurde so für die Wirtschaftselite ein willkommener Pool knapper Arbeitskraft und boten den einzelnen Menschen existentielle Sicherheit und Geborgenheit in einer rauhen, unvertrauten und zum Teil gefährlichen Umwelt. Die protestantischen "Wahrheiten" waren somit politische Nebenprodukte anderer selektiver Anreize, und obwohl die protestantische Kultur insgesamt wenig ernsthafte Konkurrenz hatte, konkurrierten die Sekten bei der Anwerbung neuer Mitglieder einerseits geschlossen mit der aufkeimenden Kultur der Aufklärung bei Juristen, Kaufleuten, kultivierten Pflanzern und den Gründerv& auml;tern (BIRNBAUM 1989, 124f), und andererseits untereinander um die "wahre" Interpretation des künftigen Gottesstaates. Wenn erwartet werden kann, dass jene Interpretation sich durchsetzen müsste, die mit den realen Umwelterfahrungen am besten korrespondiert, dann wird u.a. erklärbar, warum der calvinistische Pessimissmus im 18. und 19. Jahrhundert von der Hegemonie eines optimistischen Fortschrittsglaubens überdeckt wurde. Mehr dazu weiter unten.

Seit der Gründung von Harvard durch die Puritaner 1636 bildete das Bildungswesen die zentrale Institution des protestantischen Christentums in Amerika (HUNTER 1987, 165-170). Seine Aufgabe bestand in der Wissensvermittlung und Vorbereitung auf Führungspositionen in einer christlichen Gesellschaft. Das erzieherische Schwergewicht lag auf der moralischen Entwicklung, auf Bürgerpflichten und integrativen Fähigkeiten. Die Ausbildung kulminierte in "Moral Philosophy", einer übergreifenden Perspektive, die die Einbindung von akademischer Wissenschaft und Moralphilosophie in eine trraditionell protestantische Kosmologie zum Zweck hatte. Insgesamt blieben diese Colleges bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts einer kleinen Elite vorbehalten, waren meistens klein und von Finanznöten geplagt. Um 1860 soll es etwa zweihundert solcher Colleges gegeben haben, und nur gerade 20% jener, die vor dem Bürgerkrieg gegründet wurden, haben bezeichnenderweise überlebt.

Während sich viele der kleinen Sektengemeinschaften im Laufe der Zeit zu veritablen Konfessionen (denominations) entwickelten, die immer mehr Merkmale und Mobilisierungsprobleme grosser latenter Gruppen zeigten, behielt die protestantische Kultur mit der Institution des Missionierens ein äusserst dynamisches, überkonfessionelles Moment, das den Wandel der protestantischen Ideologien und Institutionen nachhaltig zu bestimmen vermochte. Hadden und Shupe unterscheiden zwischen "Revivals" und "Awakenings" (HADDEN / SHUPE 1988, 98): Revivals oder Evangelisationsveranstaltungen erreichen überwiegend die bereits Konvertierten, festigen deren ideologischen Bindungen und finden ausserhalb der engen Gemeinschaften verhältnismässig wenig neuen Grund. Awakenings oder Erweckungen dagegen sind Bewegungen, die gesellschaftlich grundlegende Veränderungen bewirken. Wenn Evangelisationen während verhältnismässig kurzen Zeitperioden wirksam sind, so verändern Erweckungen das fundamentale Verständnis von Kultur und die Visionen einer oder mehrerer Generationen.

Ein "First Great Awakening" in Amerika begann 1739 mit der Ankunft des britischen Evangelisten Georg Whitefield, der zur Methodistischen Kirche konvertiert war und einen charismatischen, energischen Predigerstil pflegte. Whitefield widersprach der calvinistischen Prädestinationslehre und meinte, die Vernunft und der freie Wille des Menschen ermöglichten es diesem, das Erlösungsangebot von Christus zu "wählen". Diese Ideologie erwies sich als mit den ungeheuren Möglichkeiten der Grenzer und Siedler, aber auch mit dem säkularen Individualismus und Egalitarismus als kompatibel. Der "Convenant" der Puritanerelite wurde demokratisiert und die protestantische Reichsvision ("Dominion") zum Versprechen für alle, die sich in rechtschaffener Weise für den Bund mit Gott einsetzten. Leistung wurde individualisiert und war nicht mehr blosser Indikator eines prädestinierten Schicksals. Damit bot die Ideologie nicht nur ein neues Set von Werten und Hoffnungen, sondern erzeugte auch einen politischen "spill-over", in dem sie die Konvertierten von der alten Ordnung entband und mit dem optimistischen "nach"-chiliastischen Gefühl erfüllte, dass eine Verbesserung möglich und das Tausendjährige Gottesreich sich bereits am Entfalten ist. Die Erste Erweckung legte damit einen Grundstein für die Entstehung der amerikanischen Nation und die politische Revolution.

Das "Second Great Awakening" begann nach der Proklamation des amerikanischen Bundesstaates mit einer Serie von Evangelisationen in der apalachischen Grenzregion und wurde getragen von Timothy Dwight, Lyman Beecher, Nathaniel W. Taylor und vor allem dem konvertierten Rechtsanwalt Charles Grandison Finney. Ideologisch vermischte die Erweckung ein wachsendes Gefühl nationaler Identität mit optimistisch "nach"-chiliastischem Evangelikalismus. Es entstand der Glaube an die göttliche Vorsehung für das auserwählte Volk, an das nationale "Manifest Destiny" Amerikas, das zum Inhalt einer Mission, eines Kreuzzuges wurde und von der "New Christian Right" bis heute gepredigt wird.

Die weitere protestantische Institutionsgeschichte des Missionierens beschränkt sich auf Innovationen und Entwicklungen verbesserter Evangelisationstechniken, die interessanterweise trotz immensen Anstrengungen nie mehr jene Wirkung erzielten wie die beiden grossen Erweckungen. Bezeichnenderweise war es Finney, der 1835 mit seinem Grundlagenwerk "Lectures on Revivalism of Religion" die programmatische Grundlage dazu lieferte: Evangelismus und Konversion sah er als rationales, logisches Produkt eines überlegten Prozesses. Konversion "is not a miracle or dependent on a miracle in any sense (...). It is purely a philosophical result of the right use of constituted means." (zitiert nach HADDEN / SHUPE 1988, 44). Der Protestantismus in der Mitte des 19. Jahrhunderts lässt sich zusammenfassend als eine Vielzahl von Gemeinschaften beschreiben, deren Ideologien unter der kulturellen Hegemonie eines Evangelikalismus standen, der bestimmt wurde durch calvinistische Orthodoxie (absolute Souveränität Gottes), durch eine optimistisch "nach"-chiliastische Vorstellung von der Art der Endzeit und durch die Heiligungslehre des Methodistengründers John Wesley, der die besondere Heiligung oder Weihung durch den Heiligen Geist betonte (HUNTER 1983, 23-27).

2.2. Bürgerkrieg, Verfall der kulturellen Hegemonie und ideologische Innovationen

Mit Norman Birnbaum kann nun postuliert werden, dass der Bürgerkrieg die zentrale Zäsur in der weiteren Entwicklung des Protestantismus bildete (BIRNBAUM 1989, 126-127; auch CARPENTER ed.1988a, 2). Die Frage der Sklaverei spaltete die Nation nicht nur geographisch und politisch, sondern auch religiös. Während die Kirchen im Süden das christliche Wesen der Sklaverei mit der patriarchalischen Verpflichtung gegenüber der rassisch unterlegenen, sündhaften Natur der Schwarzen zu rechtfertigen suchten, manifestierte der Protest der christlichen Abolitionisten im Norden eine soziale Interpretation des Evangeliums, die sich später zur Ideologie des "social gospel" weiterentwickelte und zunehmend mit der evangelikalen Orthodoxie in Konflikt geriet.

Gefolgt von enormen Industrialisierungsschüben, Einwanderungswellen und verstärkter Weltmarkteinbindung in der Nach-Bürgerkriegszeit war der Bürgerkrieg der Beginn des allgemeinen langsamen Zerfalls der hegemonialen Vormacht protestantischer Kultur und ihrer Institutionen, die nun zunehmend durch effizientere moderne und säkulare Institutionen und Ideologien konkurriert wurden. Nach der These von Frederick Jackson Turner, dass mit der offiziellen Verkündigung vom Ende der "Frontier" 1890 eine Funktion verloren gegangen war, die nicht nur den individualistischen Lebensstil des amerikanischen Volkes prägte, sondern auch ein nationales "Sicherheitsventil" bildete (ANGERMANN 1987, 12), kann vermutet werden, dass so auch die protestantische Orthodoxie eine zentrale ideologische und institutionelle Legitimation verloren hatte. Angesichts wachsender Vermassung der Städte und übersehbarer sozialer Probleme stand das "Manifest Destiny" der amerikanischen Nation und ihre Mission plötzlich in Frage. Und die Intergrationskraft der protestantischen Gemeinschaften erwies sich zunehmend als ineffizient und massiv konkurriert durch die enorme Expansion säkularer Bildungsinstitutionen, durch die Verbreitung wissenschaftlicher Theorien und die Entstehung der Massenpresse sowie durch die nun gewerkschaftlich organisierte Arbeiterschaft (HUNTER 1987, 187-194; MARSDEN 1991, 13-16). Die protestantischen Gemeinschaften verloren Schritt für Schritt jene "selektiven" Anreizfunktionen, die die Basis zur Mobilisierung für ihre Wahrheiten gebildet hatten.

Diese äusseren Bedrohungswahrnehmungen wurden aber auch von inneren ideologischen Entwicklungen und Innovationen bestimmt. Aufgeschlossene liberale Protestanten entwickelten an den Universitäten sowohl die Methode der historisch-hermeneutischen Bibelinterpretation als auch die neuen Basisideologien des "social gospel" und der "New Christianity", die neue Möglichkeiten einer christlichen Interpretation der veränderten sozialen Wirklichkeit boten.

Die Bewegung zur Verteidigung der Orthodoxie

Obwohl um 1890 die Mehrheit der Protestanten noch einer traditionellen Orthodoxie verhaftet war, begann sich aber auch ein Widerstand gegen säkulare Einflüsse im allgemeinen und die moderne Theologie im besonderen zu organisieren (HUNTER 1983, 29f). Führend wurden dabei die Evangelisationsorganisation um Dwight L. Moody (1837-1899) und die konservativen Calvinisten am Princeton Seminary, der konservativen Hochburg von der Lehre der vollständigen göttlichen Inspiration der Bibel. Für die weitere Entwicklung des konservativen Protestantismus sind zwei ideologische Entwicklungen zentral:

Moody und seine Anhänger hatten sich zum pessimistischen Vor-Chiliasmus "zurück"-bekehrt, aber nicht in der Version der calvinistischen Pilgerväter, sondern in der Version wie er seit der unmittelbaren Nach-Bürgerkriegszeit von den "Plymouth Bretheren" um John Nelson Darby evangelisiert wurde (MARSDEN 1991, 39-41). Dieser beinhaltete die Innovation einer neuen "Dispensationslehre", nach der die biblische Erlösungsvorsehung für die Menschheit durch verschiedene, anhand der biblischen Symbolik bestimmbare Heilsperioden geprägt ist. Entsprechend prägte diese Ideologie die Erwartung einer nahen Endzeit, der Apokalypse und der Zweiten Ankunft Christi. Einer der engsten Anhänger von Moody, William Blackstone, publizierte 1878 das programmatische Grundlagenwerk, das mit der finanzkräftigen Unterstützung durch den kalifornischen Ölbaron Lyman Stewart 1908 eine grosse Verbreitung erhielt und sich schliesslich im defensiven Evangelikalismus und Fundamentalismus durchsetzte (CARPENTER ed. 1988a; MARSDEN 1991, 21, 39f). Im Zentrum dieser neuen Ideologie stand nie eine umfassende Sozialreform als Antwort auf die drängenden sozialen Probleme, sondern einzig die dringende Errettung der Seelen angesichts einer vermeintlich nahen Endzeit ... "to 'rescue' people or call them out from the sin and degradation of the culture." (HUNTER 1983, 30. Das Sozialengagement der Heilsarmee bildet eine der wenigen Ausnahmen im konservativen Protestantismus).

Mit Moody's Evangelisationsanstrengungen gewann aber auch die Heiligungstheologie zunehmend an Bedeutung. Die Grundidee geht auf den methodistischen Kirchegründer John Wesley zurück und wurde ab 1835 am Oberlin-College in Ohio unter Federführung von Charles G. Finney zur Ideologie der "Geisttaufe durch den Heiligen Geist" ausgebaut. Mit ihrer Betonung der Moralität ist sie das Gegenstück des liberalen Postulats der Ethik: Der Mensch ist schlecht, und sein sündiges Herz muss zuerst durch die Kraft des Heiligen Geistes gereinigt werden. Das heisst, die Bekehrung wurde als die Erfahrung eines erschütternden Erlebnisses mit der totalen Hingabe an Christus gelehrt, der allein den Kampf gegen die Sünde entscheiden könne. Mit der schnellen Ausbreitung der Pfingstbewegung nach der Jahrhundertwende unter sozial entwurzelten Weissen und Schwarzen erlangte diese Ideologie des "full gospel" schliesslich eine enorme Breitenwirkung, und ekstatisches Zungenreden wurde zu einem Echtheitsbeweis für die Geisttaufe (MARSDEN 1991, 41-43).

2.3. Die Spaltung des Protestantismus

Die Folgen dieser unterschiedlichen ideologischen Entwicklungen manifestierte sich in einer wachsenden Kluft zwischen modernistischen und orthodoxen Protestanten. Es würde zu weit führen, diesen schwierigen Prozess hier im Detail nachzuzeichnen. Deshalb nur die wichtigsten Stationen. Nach Jahrhundertwende erhielt im Zuge der "progressive movement" als Gegenbewegung zur vorangegangenen "populist movement" das modernistische "social gospel" Breitenwirkung. 1910 bis 1915 erschien dann die orthodoxe Schriftenreihe "The Fundamentals" und wurde - finanzkräftig unterstützt durch den Ölmagnat Lyman Stewart - gratis an einen grossen Kreis der orthodoxen Elite verschickt. Die Reihe war ein weiterer, konsequenter Schritt in der Verbreitung der Dispensationslehre (MARSDEN 1988). Dass sich der Protestantismus in zwei völlig verschiedene Richtungen entwickelte, wurde den Leuten auf der Strasse spätestens 1919 mit der Gründung der "World's Christian Fundamentals Association" in Philadelphia klar. Die Auseinandersetzung eskalierte schliesslich im sog. "Fundamentalist-Modernist Conflict" (CARPENTER ed. 1988b; 1988). Im wesentlichen gab es drei Fronten in dieser heftig geführten Debatte: Evolutionslehre oder Schöpfungsgeschichte an den öffentlichen Schulen, Dispute über Lehrstandards und die Missionsarbeit im Ausland. Wesentliche Themen waren überdies die Kritik der Modernisten an der vor-chiliastisch begründeten Ablehnung des "war to end all wars", dem Ersten Weltkrieg, dann die Kritik der Fundamentalisten an der "Interchurch World Movement" (1919/20), die zum pro-testantischen Pendant des Völkerbundes werden sollte, sowie die modernistischen Ansichten zur Bedeutung des Christentums von Harry Emerson Fosdick. Trotz einigen beachtlichen politischen Erfolgen wie die Alkohol-Prohibition (1919-1933) und 37 antievolutionistische Gesetzeserlasse in 20 Staaten zwischen 1912 und 1929 scheiterte der fundamentalistische Kreuzzug gegen die Moderne (HUNTER 1987, 120). Während die Modernisten sich mehr oder weniger mit den kulturellen Entwicklungen der Moderne zu arrengieren wussten, führte die Verweigerungshaltung der Fundamentalisten diese in eine noch tiefere Krise. Im folgenden geht es nun darum, was die Fundamentalisten in dieser Krise lernten und welche Problemlösungsstrategien sie entwickelten.

3. Neue Strategien der Evangelisation: 3.1. Zur Krise des Fundamentalismus zwischen 1930 und 1950

Seit dem "Affenprozess" in Tennessee von 1925, in dem es dem fundamentalistischen Populisten William Jennings Bryan gelang, an den Schulen die biblische Schöpfungslehre gegenüber der modernen Evolutionstheorie gerichtlich durchzusetzen, erschien der Fundamentalismus in der amerikanischen Öffentlichkeit als lächerlich, als eine sterbende Kraft. Und auch in den protestantischen Denominationen verlor der militant-konservative Flügel zusehends an Einfluss, weil niemand mehr mit ihnen streiten wollte (CARPENTER ed. 1988d, 1; MARSDEN 1991, 60). Den Zusammenbruch des fundamentalistischen Kreuzzuges gegen die Moderne symbolisiert schliesslich die Reorganisation und Liberalisierung des altehrwürdigen Princeton Seminary 1929: Moderat-orthodoxe und liberale Theologen konnten sich endlich durchsetzen, und der führende Kopf in der fundamentalistisch-konservativen Koalition, J. Gresham Machen, sowie drei weitere Professoren verliessen Princeton und gründeten in Philadelphia das "Westminster Theological Seminary". Machen war besonders frustriert, dass nicht die liberalen Theologen seine stärksten Opponenten waren, sondern moderate Konservative um Charles Erdman und Robert Speer, die er nun als die gefährlichsten Feinde der Orthodoxie bezeichnete (CARPENTER ed. 1988c; HUNTER 1983, 36; NOLL ed. 1988).

3.2. Die separatistische "independent church movement"

Machens Abgang war sozusagen der Startschuss für eine eigentliche "independent church movement". Die Fundamentalisten in den protestantischen Denominationen begannen die Auseinandersetzung gegen die Modernisten als verloren zu erkennen. Der Traum vom heiligen Bund mit Gott ("convenant") und von einem christlichen Amerika ("dominion") war zerbrochen, und Religion war zu einer Privatsache geworden. Die Fundamentalisten standen nun vor der Wahl, ob sie dennoch in den "abtrünnigen" Denominationen weiterverharren oder in eigenen Gemeinden die Reinheit der Orthodoxie konservieren sollten (HUNTER 1983, 39). Verschiedene kleinere konservative Denominationen - unter anderem Denominationen der täuferischen Tradition und auch starke Kohorten baptistischer und methodistischer Kirchen - entschieden sich geschlossen für den Fundamentalismus, und die Heiligungs- und Pfingstbewegungen sowie die adventistischen Gruppen expandierten in der Folge stark. Andere Denominationen spalteten sich und zahlreiche neue fundamentalistische Gemeinden wurden gegründet wie die "Independent Fundamentalist Churches of America" (1930), "General Association of Regular Baptist Churches" (GARBC, 1932), "Orthodox Presbyterian Church" (1936) und die "Bible Presbyterian Church" (1937; CARPENTER ed. 1988d ). Vor allem in der Anfangszeit der "independent church movement" entstand ein Wirrwarr neuer Sekten und nicht-konfessioneller Unternehmen, die politisch kaum organisiert waren. Entsprechend fragmentiert waren auch die Loyalitäten und Anhängerschaften der Fundamentalisten. Erst im Herbst 1941, als sie erkannten, dass ihr kollektives Überleben von einer organisatorischen Einheit abhing, gelang es Carl McIntire von der "Bible Presbyterian Church", die separatistischen und militantesten Gruppen in der Koalition des "American Council of Christian Churches" (ACCC) zusammenzufassen (CARPENTER 1984, 12; HUNTER 1983, 43).

Andere Fundamentalisten dagegen blieben in den herkömmlichen Denominationen, bauten dort aber ihr eigenes parakirchliches Netzwerk aus, das sowohl Separatisten wie Nicht-Separatisten diente. Doch die separatistischen Fundamentalisten-Führer zeigten sich herausgefordert und zunehmend frustierter durch die grosse Zahl der traditionalen und denominational loyalen Evangelikalen, die sie nicht hinter ihr Banner zu mobilisieren vermochten. Entsprechend aggressiv entwickelte sich ihre Polemik in den 1930er und 1940er Jahren. Diese Entwicklung soll am Beispiel von vier militanten Autoren aufgezeigt werden.

 

Die fundamentalistische Polemik und ihr Erfolg (CARPENTER ed. 1988d)

"Fighting Bob" Robert T. Ketcham (1889-1978), Mitbegründer der "Regular Baptist Movement" (GARBC) und bis zu seinem Rücktritt ihr kontroversester Rekrutierer, veröffentlichte beispielsweise 1936 das Büchlein "Facts for Baptist to Face" mit dem Ziel, bibelgläubige Evangelikale der "Northern Baptist Convention" für die GARBC zu mobilisieren. Das Büchlein war eine feurige Anklage gegen Modernismus und "Kommunistenfreundlichkeit". Die Verhältnisse in der Convention sah er als hoffnungslos auf dem Weg in die Fänge des "Communistic Socialism". Die GARBC umfasste 1936 84 Kirchen mit 22'000 Mitgliedern, wuchs bis 1948 auf 468 Kirchen und bis 1966 auf 1'200 Kirchen mit 165'000 Mitgliedern.

Judson E. Conant (1867-1955) reagierte 1937 mit dem Buch "The Growing Menace of the Social Gospel" auf das Wiedererwachen der "social gospel"-Bewegung im New Deal-Klima der 1930er Jahre. Das "social gospel" war die ideologische Innovation der aufgeschlossenen modernistischen Protestanten, das Gegenstück zur vor-chiliastischen Dispensationslehre, und bildetete ursprünglich den religiösen Flügel in der "Progressive Movement". Besonders dubios erschien es Conant, weil es offenbar mit der wachsenden Staatsmacht korrespondierte. Aus der dispensationalistischen Perspektive war die Entstehung einer weltumspanndenden "kollektivistischen" Bewegung, etwa Nazi-Deutschland, die Sowjetunion, die Katholische Kirche oder gar die prophezeite Superkirche, ein untrügliches Zeichen der nahen Endzeit. James M. Gray, der wohl bedeutendste Fundamentalist der 1920er Jahre, bezeichnete beispielsweise "big government" als ein Teil von Satans Plan und assoziierte das kommende Reich des "Great Beast" (Offenbarung 13) mit dem Völkerbund (CARPENTER 1984, 9; CARPENTER ed. 1988b, 5). Conant's Buch ist eine alarmierende Attacke gegen die Linken, den "sworn enemies of our Constitution" (zitiert nach CARPENTER ed. 1988d, 8), die das amerikanische System zerstörten, und reflektiert die praktisch totale Absage der Fundamentalisten an soziale und politische Reformen.

Als William Bell Riley (1861-1947) sein Büchlein "The Conflict of Christianity with Its Counterfeits" 1940 veröffentlichte, hatte er die Hoffnung, die Modernisten noch zurückdrängen zu können, beinahe aufgegeben, war resigniert, verbittert und hatte zudem begonnen, mit einigen der paranoidesten und anti-semitischsten Verschw örungstheorien jener Jahre zu spielen. Riley war ein prominenter Militanter, der innerhalb der Denomination der "First Baptist Church" kämpfte und war national führend in der "World's Christian Fundamentals Association" sowie in der "Baptist Bible Union". Sein These lautete, die Geschichte der Kirche werde markiert durch einen konstanten Krieg mit satanischen oder "antichristlichen" Nachahmern, womit er den modernistischen Protestantismus bezeichnete. Carpenter meint, Riley bestätige sich in dem Buch als ein "red-blooded, militant, fighting fundamentalist". Aggressivität sei in jener Zeit zu einem wichtigen selbstidentifizierenden Merkmal der Fundamentalisten geworden und aggressive Auftritte vor einer Kongregation dienten dem ritualisierten Aktualisieren kollektiver Gefühle, die die Anhänger ermutigten, "to fight the good fight" (CARPENTER ed. 1988d, 11).

Neben der GARBC ging aus der "Northern Baptist Convention" 1943 auch die "Conservative Baptist Foreign Mission Society" hervor, die sich 1947 zur "Conservative Baptist Association" entwickelt. 1946 wurde Chester T. Tulga zu ihrem Rekrutierer gewählt. Und wie Ketcham wurde Tulga zum polemisierenden Zentrum einer neuen separatistischen Bewegung. 1948 initiierte er eine Taschenbuch-Serie, "The Case Books", deren erster Band, "The Case against the Federal Council of Churches" gegen den ökumenischen Rat der liberalen protestantischen Denominationen gerichtet war und von dem bis 1951 rund 100'000 Exemplare verkauft wurden. 1949 erschien "The Case Against Modernism" und richtete sich mit mobilisierender Absicht an die noch -nicht-separatistischen Bibeltreuen in der Convention. Carpenter beschreibt den Band als ein "ritual slaying of one's opponent for an appreciative audience" (CARPENTER ed. 1988d, 12). Tulga's kämpferische Polemik begann aber auch in den eigenen Reihen Kritik zu wecken, und bereits 1954 musste er sein Amt niederlegen.

Alle vier Autoren gehörten zur fundamentalistischen Elite, die mit der drohenden Auflösung der Gruppenideologie auch das kollektive Überleben der Gruppe bedroht sahen und verzweifelt nach Mitteln suchten, die eigenen Mitglieder bei der Stange zu halten und neue zu rekrutieren. Ganz nach dem Vorbild der alten puritanischen Sektengemeinschaften sahen sie die Lösung im Separatismus und in den Mobilisationsvorteilen der kleinen Gruppen. Bei ihren Werken handelt es sich nicht um ideologische Basisinnovationen, nicht einmal um besondere ideologische Verfeinerungen, sondern mehr oder weniger um rezeptbuchartige Anwendungen der Dispensationsideologie in der Interpretation der sozialen Wirklichkeit. Von einem "fundamentalen Lernen" kann bei ihnen kaum die Rede sein. Als Wortführer kleiner Gruppen mit extremen Sonderinteressen dürften sie jedoch in der Öffentlichkeit eine überproportional dominante Lautstärke entwickelt haben und so bei vereinzelten Individuen latente Unsicherheiten jener Zeit verstärkt und entsprechend Bekehrungen als "fundamentales Lernen" bewirkt haben. Zudem kann auch vermutet werden, dass sie mit ihrer Polemik wesentlich zur Kommunismus-Hysterie des McCarthyismus von 1952 bis 1954 beitrugen. So gehörte beispielsweise der notorisch antisemitische Agitator Gerald L.K. Smith, ein Vertreter der politischen "Old Christian Right", zum Umfeld von McCarthy, und dem Antikommunismus galt auch das Engagement der militantesten Organisationen um Carl McIntire, Billy James Hargis und Edgar Bundy. Hunter fasst die politische Position des Fundamentalismus in der Formel zusammen: Liberalismus ist Sozialismus, und Sozialismus ist die erste Phase des Kommunismus (FRIED 1976, 187; HADDEN / SHUPE 1988, 111; HUNTER 1983, 43f). Insgesamt aber kann der Mobilisierungserfolg der separatistischen Fundamentalisten als gering eingeschätzt werden.

3.3. Die "National Association of Evangelical" (NAE) und ihre Strategie

Doch damit ist noch nicht alles über den Fundamentalismus der 1930er und 1940er Jahre gesagt. Marsden meint, dass im Evangelikalismus des 19. Jahrhunderts, auf dem der Fundamentalismus der 1920er Jahre basierte, zwei paradoxe Impulse steckten, die vor allem seit dem gescheiterten Kreuzzug gegen die Moderne nur mit wachsender Schwierigkeit zusammengehalten werden konnten: einerseits die Aufrechterhaltung der Orthodoxie gegenüber moderner Theologie und kulturellem Wandel und andererseits die evangelikale Erweckungstradition im Sinne von Whitefield und Finney (CARPENTER 1984, 9f; MARSDEN 1991, 66f). Das militante Orthodoxieerhaltungsstreben der Separatisten stiess zunehmend auch auf die Kritik der gemässigteren Fundamentalisten, die sich stärker in der Erweckungstradition verwurzelt sahen, zum Teil in den Denominationen blieben und ihre eigenen evangelistischen parakirchlichen Netzwerke aufbauten. Es waren diese "neo-evangelikalen" Reformer des Fundamentalismus, die als erste die Möglichkeit eines evangelikalen Comebacks antizipierten, ganz auf die Macht der von Moody und Billy Sunday professionalisierten "Rivival"-Techniken setzten und bereits um 1940 überzeugt waren, damit die militanten Stimmen zu mässigen und Amerika für das evangelikale Christentum zurückgewinnen zu können. Ideologisch blieb zwar eine gemeinsame orthodoxe Basis mit den Separatisten erhalten - "go back to the Bible" -, die Moderaten erkannten aber, dass dies nicht geschieht, wenn sie nicht die Massen erreichten und wollten einen "no dog-in-the-manger, reactionary, negative or destructive type of organization" (zitiert nach HUNTER 1983, 41). Zwischen 1939 und 1941 tourte J. Elwin Wright mit dieser Vision durch die Staaten und warb für die Idee, eine neue evangelikale Organisation zu gründen. Doch die Militanten blieben auch nicht untätig, und mit der Gründung des ACCC 1941 kamen sie den Moderaten zuvor. Diese sahen sich nun vor der Entscheidung, sich dem ACCC anzuschliessen oder eine eigene Organisation zu gründen. An der nationalen Konferenz in St. Louis im April 1942 wurde dann die "National Association of Evangelicals" (NAE) gegründet. Ihr Cheforganisator wurde Harold John Ockenga, ein ehemaliger Schüler von J. Gresham Machen, und getragen wurde sie überwiegend von Baptisten und Presbyterianern mit Verbindungen zu Institutionen wie Wheaton College, Moody Bible Institute, Dallas Theological Seminary, Gordon College and Seminary sowie nicht-separatistischen Anhängern von Machen.

Die NAE löste einerseits eine bittere Debatte aus, in der McIntire und seine Anhänger die neue Organisation denunzierten - das liberale Gift sei nun auch ins fundamentalistische Lager eingedrungen und die Neo-Evangelikalen die gefährlichsten Gegner der Orthodoxie -, und wurde andererseits zum Beginn des evangelikalen Aufstiegs. Die NAE wurde zu dessen Hauptsymbol und Koordinationszentrum und repräsentierte 1947 bereits 30 Denominationen mit 1.3 Millionen Mitgliedern. NAE und ACCC unterschieden sich gemäss Hunter ideologisch in den Motiven "no cooperation, no compromise" (ACCC) versus "cooperation without compromise" (NAE) und organisatorisch als "exklusiver" versus "inklusiver Typ" - eine Unterscheidung, die sehr gut in die Gruppensystematik von Olson integriert werden kann (OLSON 1992, 35-41). In der Perspektive des ACCC ist die orthodoxe Ideologie ein exklusives Kollektivgut auf dem gesellschaftlichen Markt politisch-normativer Ideologien, das ganz der "Alles-oder-Nichts-Regel" oligopolistischer Märkte folgt. Für die NAE ist die Ideologie dagegen ein nicht-marktorientiertes, inklusives Kollektivgut, dessen Bereitstellungskosten möglichst auf viele Mitglieder verteilt werden sollen. Entsprechend wurde einer weiteren Bandbreite von Gruppen der Zugang zur NAE ermöglicht und begann die NAE eine eigentliche Gegenkultur mit Organisationen und Institutionen für die verschiedensten intellektuellen, sozialen und wirtschaftlichen Bedürfnisse ihrer Mitglieder aufzubauen. Die fundamentalistische Ideologie wurde damit zu einem Nebenprodukt anderer selektiver Anreize, die der NAE letztlich die erfolgreiche Mobilisierung ihrer Mitglieder ermöglichte. Dieses Netzwerk soll nun im Überblick kurz dargestellt werden.

Das "neo-evangelikale" Netzwerk

Ein wichtiger Wegbreiter der NAE war das Radio, das sich in den Händen der propagandaerfahrenen Fundamentalisten als sehr potentes Moblisierungsinstrument erwies. Das erste erfolgreiche fundamentalistische Radio war das 1926 gegründete "WMBI" des Moody Bible Institute in Chicago, das bereits 1930 zu einer festen Institution des Fundamentalismus im Mittleren Westen wurde (CARPENTER 1984, 11). Die 1938 initiierte Sendung "Let's Go Back to the Bible" mit 26 Predigten ging bereits über ein Radionetzwerk mit elf angeschlossenen Stationen. Eine anderes Programm, "Miracles and Melodies", erreichte 1942 seine Zuhörerschaft über 197 Stationen in 43 Staaten. Eine der grössten Einschaltquoten im Land erreichte die Sendung "Old Fashioned Revival Hour" von Charles E. Fuller. Fuller war ursprünglich ein militanter Fundamentalist. Mit seinem Aufstieg zur nationalen Figur übernahm er jedoch den "positiven" Impuls und enthielt sich orthodoxer Kontroversen (MARSDEN 1991, 68). Wie Carpenter meint, hat das Radio bei den Zuhörern instruierend und ermutigend gewirkt und dürfte stark dazu beigetragen haben, dass die "Neo-Evangelikalen" ihre Vision wieder fanden. Es hat sozusagen die kognitive "Plausibilitätsstruktur" (Peter L. Berger) wiederhergestellt.

Die modernistischen Protestanten waren mit dem fundamentalistischen Radio jedoch keineswegs glücklich. 1944 attackierten sie die "religiösen Erpresser" und das "Mutual Broadcasting System", das unter anderem auch Fuller's Programm sendete, sie würden das Radio als Medium der Ausbeutung benutzen, und forderten erfolgreich restriktivere Sendezeitregeln für religiöse Sendungen (HADDEN / SHUPE 1988, 48). Doch die Evangelikalen hatten das geahnt und zum Kampf mobilisiert, wie die NAE-Gründungsrede von Ockenga zeigt: Im April 1944 schlossen sich 150 evangelikale Radiomacher zur "National Religious Broadcasters" (NRB) zusammen und legten damit den Grundstein einer mächtigen Medienlobby religiöser Gruppen. 1966 zählte die NRB 104 Mitgliedorganisationen und wuchs bis in die 1980er Jahre zu einer Institution, der 922 Radiostationen, 65 Fernsehstationen, 535 Radioproduzenten und 280 Fernsehfilmproduzenten angeschlossen waren (OSTLING 1984, 49).

Der Hauptimpuls für das nationale Comeback ging jedoch von einer enthusiastischen Jugendgruppe aus, die während dem Zweiten Weltkrieg gegründet und nach erfolgreichen Massenevangelisationen in New York und Chicago 1945 zur "Youth for Christ International" erweitert wurde (HUNTER 1983, 44; MARSDEN 1991, 69; CARPENTER 1984, 15). Bis 1948 erreichte diese mit ihren "invasion teams" rund 46 Länder. In ihrem ersten Jahr sponsorte "YfC International" USAweit 900 Veranstaltungen mit gegen einer Million Besucher. Ihr erster Vollzeitevangelist war Wheaton College-Abgänger Billy Graham. Graham trat damit praktisch in die Fussstapfen von Finney, Moody und Sunday, war zudem einer der ersten, der auch das Fernsehen für die Evangelisation einsetzte, und machte so die vor-chiliastische Seelenretteridee wieder salonfähig. Mit den Wahlen von Eisenhower und Nixon erhielt Graham auch Zugang zum Weissen Haus und wurde von politisch konservativen Geschäftsleuten unterstützt, vor allem von J. Howard Pew von "Sun Oil". Er selber wurde ähnlich wie Moody zum Ausgangspunkt zahlreicher weiterer Bewegungen wie die "Billy Graham Evangelistic Association", "Far East Gospel Crusade", "Greater Europe Mission", "Trans-World Radio" und "World Vision International".

Zu einer weiteren grundlegenden Institution wurde die Gründung des "Fuller Theological Seminary" im kalifornischen Pasadena 1947 und betraf nach den vorangegangenen strategischen Innovationen nun auch eine ideologische Basisinnovation, die Dispensationsideologie (MARSDEN 1991, 72; HUNTER 1983, 44). Es wurde erkannt, dass es um die amerikanische evangelikale Tradition wiederzuerwecken, nötig sei, die fundamentalistische Position in die breite Tradition Augustinischer Theologie zu stellen, und nicht den engen Dispensationalismus weiter zu propagieren. Das neue theologische Zentrum wurde von Charles E. Fuller gegründet und von Harold J. Ockenga präsidiert. Getragen wurde es von einer breiten evangelikalen Prominenz, ein enger Vertrauter war auch Billy Graham. Das "Fuller Theological Seminary" löste einen neuen evangelikalen Bildungsboom aus mit Gründungen von "Bible institutes", "Evangelical liberal arts colleges" und "Evangelical seminaries".

Weiter ist zu erwähnen, dass 1949 die "Evangelical Press Association" gegründet wurde, die bis in die 1980er Jahre auf 275 angeschlossene Zeitschriften angewachsen war und die ganze Bandbreite evangelikaler Ansichten abdeckte, vom rechts-konservativen Flügel über die Moderaten zum linken Flügel. 1950 schlossen sich auch die evangelikalen Buchhandlungen zur "Christian Booksellers Association" zusammen, die in den 1980er Jahren mit rund 3'200 Buchhandlungen einen Jahresumsatz von 179 Millionen Dollar erzielte (OSTLING 1984). Und schliesslich erhielt mit dem neo-evangelikalen Aufbruch auch die charismatische Pfingstbewegung einen neuen Impuls und stieg mit der Gründung der "Full Gospel Business Men's Fellowship International" 1951 unter Führung von David du Plessis, einem Prediger der "Assemblies of God" und Freund von Geistheiler Oral Roberts, in die Evangelisationsoffensive ein (MARSDEN 1991, 78).

Im Schatten der öffentlich diskreditierten, militanten Fundamentalisten war es den Moderaten bis zum Ende der 1940er Jahre also gelungen, "lines of cognitive defense" (HUNTER 1983, 45) aufzubauen, mit denen sie den Herausforderungen der modernen Kultur folgen und dennoch das Bedeutungssystem des konservativen Protestantismus erhalten konnten. Das "fundamentale Lernen", das hier statt gefunden hatte, war das einer Elitengruppe gestandener Persönlichkeiten, die ihr kollektives Set kognitiver Regeln auf dem Spiel stehen sah, jedoch keinen Bedarf nach einem neuen empfand, sondern alles daran setzte, das alte Set zu verteidigen und entsprechend neue kognitive Verteidigungstechniken entwickelte. Was also kann erklärt werden, wenn das Lernen im protestantischen Fundamentalismus als das fundamentale Lernen verunsicherter, vereinzelter Subjekte verstanden wird? Im folgenden versuche ich eine Annäherung anhand einer Typisierung verschiedener Lernmomente.

4. Zum Lernen in fundamentalistischen Umfeldern

In Kapitel 3 habe ich die Lernunterschiede im Problemlösungsverhalten der separatistischen und der moderaten Elite des Fundamentalismus beschrieben. Im folgenden fasse ich die beiden Strategien nochmals zusammen und entwickle davon ausgehend Hypothesen, was Lernen für die Anhängerschaft einerseits und die potentiellen Neumitglieder solcher Gemeinschaften andererseits bedeutet.

4.1. Lernen im exklusiven Umfeld

Im Moment, als die separatistische Elite ideologische Abtrünnigkeitstendenzen in den eigenen Reihen wahrnahm, besann sie sich zurück auf das protestantische Erfolgsrezept des 18. und 19. Jahrhunderts, auf die engen Sektengemeinschaften mit ihren sozialen Kontrollmöglichkeiten. Die Mitglieder dieser Elite waren nicht individuell, sondern als eine Gruppe Gleichgesinnter verunsichert. Eine Änderung der Ideologie drängte sich ihnen jedoch nicht auf, zumal der pessimistische Dispensationalismus ihre Weltdeutung zu bestätigen schien und zudem die sozialen Gruppengrenzen auch kognitiv optimal verstärkte: hier das kommende Paradies, dort die drohende Apokalypse. Und erst als sie erkannten, dass auch in dieser zersplitterten Sektenlandschaft die Erhaltung der gemeinsamen Orthodoxie nicht garantiert war, schlossen sie sich in der ACCC zusammen. Aber dieser Dachverband zeugte nicht von wesentlichen Lernfortschritten, war exklusiv und formal organisiert wie die Mitgliedergemeinschaften und kämpfte eifersüchtig um das ideologische Wahrheitsmonopol, um sein Sonderinteresse. Wenn also die separatistische Elite, die in ihrem Bestreben, das Überleben der Gruppe zu sichern, vor allem auf die Reinerhaltung ihres exklusiven Kollektivgutes Orthodoxie setzte, sich gegenüber einer "Rhetorik des Verstehens" verschloss und routiniertes Lernen manifestierte, fragt sich nun, wie weit ihre Anhängerschaft und die missionierten Aussenstehenden oder Neueintretenden Krisensituationen durch fundamentales Lernen zu bewältigen vermochten. Die folgenden Überlegungen müssen allerdings Hypothesen bleiben, da sich die Literatur zum Fundamentalismus vor allem mit der Elite auseinandersetzt.

Die Gemeinschaften mit ihren engen symbolischen und sozialen Grenzen boten der Anhängerschaft zuerst einmal Schutz, Geborgenheit und intellektuelle Orientierung. Hunter meint, dass im Kontext der Wirtschaftskrise die Fundamentalisten unter den religiösen Gruppen am wenigsten litten. In ihrer Perspektive war die Wirtschaftskrise Gottes Strafe für das abtrünnige Amerika, und ihr Bewusstsein der persönlichen Errettung durch Christus diente ihnen als Kompensation für entgangene Privilegien im sozialen und wirtschaftlichen Bereich (HUNTER 1983, 39). Für die Anhängerschaft kann also vermutet werden, dass ihr individueller Nutzen aus alternativen Informationen die Kosten einer Aufgabe der Gruppenideologie als exklusives Kollektivgut nicht aufwog. Mit anderen Worten: Die Gemeinschaft konstruierte soziale Bedingungen und Anreize, die eine fundamentale Verunsicherung ihrer Anhängerschaft praktisch systematisch ausschloss. Deren Lernen dürfte sich wesentlich auf routiniertes Lernen der gruppenspezifischen Weltdeutung beschränkt haben. Möglicherweise ist für die Anhängerschaft der Begriff Lernen zu spitzfindig und die Vorstellung von traditionalem, alltäglichem oder ritualisiertem Verhalten angemessener. Ein solches Verhalten braucht dabei keineswegs mit der neoklassischen Rationalitätsannahme in Konflikt zu geraten: Die Wahrnehmungsmöglichkeiten, welche die Gruppe offen lässt, schafft für die Anhänger Situationen, die in der subjektiven Einschätzung die gewohnten Gruppenlösungen rational lohnenswerter erscheinen lassen als alternative Lösungen der säkularen und modernen Welt.

Dennoch stellt sich die Frage, warum die separatistischen Gruppen in einer Zeitperiode, in der die Gesellschaft von drei grossen Krisen geschüttelt und verunsichert wurde - der Weltwirtschaftskrise, dem Zweiten Weltkrieg und dem Ausbruch des Kalten Krieges -, nicht erfolgreicher waren. Eine Hypothese ergibt sich aus der Frage, was das Angebot einer Chance zu fundamentalem Lernen durch eine separatistische Gruppe für verunsicherte Aussenstehende bedeutetet. Wie ich anhand der vier separatistischen Autoren deutlich gemacht habe, bestand ihr Evangelisationskonzept weitgehend in einem "ritual slaying of one's opponent", das eine Erwartung des gegenseitigen Lernens in einer "Rhetorik des Verstehens" bei Aussenstehenden deutlich beeinträchtigte. Polemische Argumente vermögen vielleicht die Überzeugungen der eigenen Anhängerschaft bestärken, für Aussenstehende dürften sie aber je nach sozialer und intellektueller Nähe zum Rekrutierer auch mehr oder weniger abschreckend gewirkt haben. Wenn sich dennoch Leute zu solchen separatistischen Gruppen bekehrt haben, dürfte dies vor allem mit der Art und Stärke der individuellen Probleme der Leute und den selektiven Anreize, die die Gruppe sonst noch anzubieten hat, zu tun gehabt haben.

4.2. Lernen im inklusiven Umfeld

Natürlich waren auch die moderaten Fundamentalisten nicht weniger besorgt um die Verteidigung der Orthodoxie als die separatistischen. Ihre Wahrnehmung der Bedrohungslage wurde jedoch stärker von einer anderen Ideologietradition geprägt, der Erweckungstradition. Ganz im Sinne von Finney wussten sie, dass die Kraft der orthodoxen Wahrheit allein die Leute noch nicht zu überzeugen vermag, sondern ein rationaler Einsatz wirkungsvoller Lehr- und Überzeugungstechniken erst die Bekehrung der Massen ermöglicht. Insofern hatte ihre Niederlage im Kreuzzug gegen die Moderne noch eine andere Dimension: Sie machte ihnen deutlich, dass die alten Techniken der Wanderprediger und demagogischen Massenevangelisationen unter den Bedingungen der sich entwickelnden Massengesellschaft offenbar unzureichend geworden waren. Diese Erkenntnis war aber insofern auch eine Chance, als sie eine neue Problemstellung nach sich zog: Plötzlich ging es nicht mehr nur um eine inhaltliche Verbesserung der Argumente gegen die säkulare Moderne und die modernistische Theologie, sondern um die richtige Verkündigungstechnik. Damit wurde aber die Verunsicherung der Gruppe Gleichgesinnter zu einer Verunsicherung der einzelnen Evangelisten, die nun ihre individuelle missionarische Kompetenz in Frage gestellt sahen. Diese These macht verständlich, warum viele Fundamentalisten sich trotz Bemühungen der Separatisten nicht zum Verlassen der Denominationen entschliessen konnten, sich zunehmend aus den nervenaufreibenden Kontroversen zurückzogen und intensiv an eigenen parakirchlichen Netzwerken zu experimentieren begannen. Damit war für sie eine wichtige Voraussetzung für fundamentales Lernen gegeben und machte die Gründung der NEA als Innovation eines neuen, föderalistischen Organisationstyps innerhalb der fundamentalistischen Welt möglich. Mit anderen Worten: Die NEA ist nicht das Produkt eines kollektiven Kampfes ums Überleben, sondern von individuellen Interessen jener, die ihre "selektiven" Anreize in Form von Prestige und Macht in Frage gestellt sahen, Anreizen, die sich weniger an der Glaubensqualität als vielmehr an der Quantität der Anhängerschaft orientierten. Ein inklusiver Organisationstyp war somit eine rationale Entscheidung. Diese Orientierung dürfte auch dafür verantwortlich sein, dass die NEA zu einer breiteren Koalition verschiedener konservativer Strömungen wurde.

Es ist ebenfalls bezeichnend für die Orientierung der Moderaten, dass gerade Moody's parakirchliches Evangelisationsunternehmen in den 1920er Jahren das erste erfolgreiche fundamentalistische Radio betrieb. Die moderaten Fundamentalisten begannen offenbar zu entdecken, dass die Kommunikationsebene der face-to-face-Missionierung nicht genügt, sondern der Informationsflut säkularer Medien mit vergleichbaren Techniken begegnet werden muss. Umgekehrt bot der Einstieg in die mediale Auseinandersetzung mit der Moderne wiederum zahlreiche selektive Anreize für die Mitglieder. In die Logik der moderaten Orientierung passt ausserdem, dass sie es waren, die sich wieder auf die alte Domäne des protestantischen Bildungswesens zurückbesinnten und begannen, auch im inzwischen komplett säkular dominierten Bildungsbereich eine private Gegenkultur aufzubauen. Wenn nun zusammenfassend gesagt werden kann, dass die Neo-Evangelikalen nicht auf der Ebene einer kollektiven Verunsicherung in der Lehrmeinung, jedoch auf der Ebene einer individuellen Verunsicherung bezüglich individueller Verkündigungstechniken "fundamental lernten", fragt sich abschliessend noch, was über das Lernen der moderaten Anhängerschaft und der missionierten Aussenstehenden vermutet werden kann.

Es ist wohl davon auszugehen, dass relativ enge Gemeinschaften auch bei den moderaten Fundamentalisten eine zentrale Integrations- und Kontrollfunktion behielten und ihr Lernen mit jenem der separatistischen Anhänger in vielem vergleichbar blieb. Jedoch dürfte der mediale Schutzschild zu einer gewissen ideologischen Entspannung innerhalb der Gemeinschaften geführt haben. Hunter vertritt die These, dass mit der Etablierung des evangelikalen Bildungswesens die unbeabsichtigte Grundlage geschaffen wurde, die langfristig die symboli-schen Grenzen des evangelikalen Fundamentalismus aufweichen wird. Hunter argumentiert dabei mit den Lernerfahrungen, die damit zwar dosiert, aber immerhin einer zunehmend breiteren evangelikalen Anhängerschaft ermöglicht wurden (HUNTER 1987, 165-178). Wie stark nun die neuen organisatorischen und medialen Evangelisationsstrategien tatsächlich zum Missionierungserfolg der evangelikalen Fundamentalisten beigetragen haben, ist schwer zu beurteilen und bedürfte differenzierter Wirkungsanalysen. Als Hypothese lässt sich aber vermuten, dass die Wirkung wohl eher eine indirekte war. So gibt es verschiedene Hinweise dafür, dass religiöses Radio und Fernsehen vor allem ihr interessiertes Publikum erreicht und ausserhalb dieses Bereichs praktisch ignoriert wird. Insofern dürften sie vor allem eine Entlastungs- und Legitimierungsfunktion für die eigenen Anhänger bieten, die so auch entspannter und überzeugender ihrer Missionierungsarbeit auf der face-to-face-Ebene nachgehen können.

5. Schlussfolgerungen

Diese Arbeit hat zuerst allgemein gezeigt, dass sich der Protestantismus als kulturelle Ordnung im 19. und 20. Jahrhundert in der Auseinandersetzung mit der sich schnell veränderten kulturellen und sozialen Umwelt stark verändert hat. Dabei hat sich gezeigt, dass innerhalb des Protestantismus in der Nach-Bürgerkriegszeit verschiedene Gruppen verschiedene Ideologien entwickelten und damit um die richtige Problemlösungsvariante konkurrierten, wobei schliesslich in den 1920er Jahren die fundamentalistischen Konzepte unterlagen. Für die Zeit zwischen 1930 und 1950 wurde dann gezeigt, wie die verschiedenen fundamentalistischen Gruppen ihre Niederlage gegen die Moderne bewältigten. Die separatistischen Fundamentalisten sahen keinen Anlass, ihre orthodoxe Ideologie zu ändern. Ihre pessimistische Weltsicht korrespondierte hervorragend mit den wahrgenommenen gesellschaftlichen Krisensymptomen. Und das Problem des Anhängerschwundes lösten sie mit der Rückbesinnung auf die Integrationskraft der alten puritanischen Sektengemeinschaften. Aber auch die moderaten Fundamentalisten sahen kaum Anlass, ihre orthodoxe Ideologie zu ändern, sondern suchten ihr Comeback in neuen Organisationsstrukturen und im systematischen Einsatz elektronischer Medien.

Wenn allgemein Verhaltensänderung aufgrund von Erfahrung Lernen bedeutet, sind zweifellos in beiden Lagern Lernprozesse abgelaufen. Geht man davon aus, dass fundamentales Lernen die kontinuierliche Übernahme neuer kognitiver Regeln durch einzelne Subjekte unter Unsicherheitsbedingungen bedeutet, so dürfte bei einer kleinen Elite moderater Fundamentalisten tatsächlich ein "fundamentales Lernen" stattgefunden haben, insofern sie erkannten, dass sie mit föderativen und diverse selektive Interessen abdeckenden Organisationsstrukturen einen höheren Mobilisierungsgrad erreichten. Insofern trifft die einleitend formulierte Hypothese für diese Gruppe zu. Dagegen kann bei der separatistischen Elite wohl nur ein "routiniertes Lernen" konstatiert werden. Dennoch lässt dieser subjektbezogene Lernbegriff einige Dimensionen der fundamentalistischen Neuformierung unberücksichtigt, wie zum Beispiel Gruppeprozesse, Machtgefälle und die Tatsache, dass sich die orthodoxe Ideologie selber, die ja letztlich auf dem Spiel stand, in der diskutierten Zeit kaum verändert hat.

Das führt zurück auf die einleitend dargestellte Ideologiediskussion der Neuen Institutionellen Wirtschaftstheorie. Nach Siegenthaler entwickeln sich Glaubenssysteme durch das kommunikative Zusammenlaufen von "Ideologien", also den individuellen Systemen kognitiver Regeln. Verändern sich diese "Ideologien" unter Unsicherheitsbedingungen grundlegend, müsste man erwarten, dass sich auch das Glaubenssystem verändern würde. Ob nun so gesehen tatsächlich ein Wandel des Glaubenssystems bei den Moderaten stattgefunden hat, steht zur Diskussion, zumal diese konsequent in der Evangelisationstradition von Finney bleiben. Bei Higgs bildet der programmatische und solidarische Aspekt der "Ideologie" umgekehrt gerade den gemeinsamen Kommunikationsrahmen, der in den Identitäten der einzelnen Subjekte verankert ist. Mit anderen Worten, die "Ideologie" steckt den Bereich ab, innerhalb dem die einzelnen Gruppenmitglieder nach Lösungsansätzen suchen, entwickeln und beurteilen. Unterschiedliche Verunsicherungen der einzelnen Mitglieder sorgen zwar für unterschiedliche Interessen an neuen Entwicklungen, aber letztlich wirkt das Korsett der gemeinsamen "Ideologie" selektiv. Aus dieser Perspektive wird erklärbar, warum das Lernen im Fundamentalismus der USA zwischen 1930 und 1950 trotz gleichen Ausgangsbedingungen in unterschiedliche Richtungen und mit unterschiedlichem Erfolg stattgefunden hat, ohne dass von einem eigentliche Ideologie- oder Glaubenssystemwandel geredet werden muss: Es hat nicht ein Ideologiewandel, sondern eine Ideologiedifferenzierung stattgefunden, die unterschiedliche Verunsicherungsmomente erzeugt und verschiedene Lernchancen für die einzelnen Gruppenmitglieder eröffnet hat.

Für die Bekehrungserfahrung Neueintretender in fundamentalistische Gruppen bietet das Modell des "fundamentalen Lernens" als die Aneignung eines neuen Sets von kognitiven Regeln ebenfalls eine Erklärungsmöglichkeit an. Allerdings berücksichtigt es damit nicht, dass nicht nur die einzelnen Individuen in den Gruppe eine "Chance" sehen können, sondern auch die Gruppe ein Interesse an neuen Mitgliedern hat und seine Anreizorganisation entsprechend ausrichtet. Gruppenmitglieder können die Verunsicherung Aussenstehender höchst wirkungsvoll verstärken. Zudem können sie auf eine Weise faszinieren, in der nicht die Aussicht auf neue kognitive Regeln im Vordergrund steht, sondern auch emotionale, soziale oder wirtschaftliche Anreize. Im Sinne Olsons ist damit "fundamentales Lernen" ein Nebenprodukt anderer selektiver Gruppenanreize. Für meine Problemstellung haben sich abgesehen von den oben beschriebenen Einschränkungen sowohl das Modell von Higgs als auch das von Siegenthaler als fruchtbar erwiesen. Spannend wäre es nun, den individuumsbezogenen und den gruppenorientierten Ansatz in einem umfassenden Modell zu integrieren.

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 Lernen im protestantischen Fundamentalismus der USA von 1930 bis 1950

Appendix

Unpublizierte Hausarbeit im Fach Sozial- und Wirtschaftsgeschichte an der Universität Zürich, eingereicht 1995 bei Prof. Dr. Hansjörg Siegenthaler

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