Ehemaligenbericht von Sri Chinmoy: „Der Meister weiss alles, der Meister sieht alles.“(Lang/Schaaf, 2005)

Interview mit einem ehemaligen Mitglied der hinduistischen Sri Chinmoy-Bewegung

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von Andrea Lang & Susanne Schaaf


Kurzinfo: Die Sri Chinmoy-Bewegung

Sri Chinmoy, bürgerlich Chinmoy Kumar Ghose, wurde 1931 in Shakpura/ Indien geboren und wuchs nach dem Tod seiner Eltern im Sri-Aurobindo-Ashram auf. Im Alter von 12 Jahren soll er bereits das „höchste Transzendentale Bewusstsein“ erreicht haben. Bis 1964 lebte er als Internatsschüler in diesem Ashram und liess sich danach in den USA nieder. Er begann mit der Missionstätigkeit, und Mitte 70er Jahre breitete sich die Bewegung nach Europa aus. Die Mitgliederzahl wird heute auf weltweit unter 3'000 Personen geschätzt. Das europäische Zentrum ist in Zürich. Die Bewegung erregt Aufmerksamkeit durch Friedensfestivals, -konzerte und –läufe sowie angebliche Rekordleistungen Sri Chinmoys in Sport und Kunst (z.B. 100'000 Bilder in 11 Monaten gemalt). Die angeblich übermenschlichen Leistungen sollen die Stellung Sri Chinmoys als „Kanal des höchsten Bewusstseins“ verdeutlichen und Gottverwirklichung ausdrücken. Die Bewegung wirbt mit kostenlosen Einführungskursen in Meditation. Durch regelmässige Meditation und Atemübungen vor dem Bild Sri Chinmoys, vor allem in den frühen Morgenstunden (Stunde Gottes), soll eine direkte Verbindung mit dem Guru hergestellt werden. Sri Chinmoy sieht sich aber nicht nur als Guru, sondern als Gott und das Göttliche (The Supreme), auf einer Ebene mit Buddha, Krishna oder Jesus. Als hinduistische Bewegung beinhaltet die Lehre die wesentlichen Elemente des Hinduismus, insbesondere auch die Vorstellung von Reinkarnation und Karma. Ziel der Gemeinschaft ist es, durch Meditation, Kundalini-Yoga, Hingabe an den Meister, absoluten Gehorsam und strikte Einhaltung der Gruppenregeln die menschliche Begrenztheit zu überwinden und zur eigenen Gottverwirklichung zu gelangen. Der Mensch von heute ist der Gott von morgen.
Die Organisation finanziert sich hauptsächlich durch den Vertrieb von Büchern und Musikdokumenten von Sri Chinmoy sowie durch Spenden. Eine zentrale Rolle spielen auch die Divine Enterprises (Göttliche Unternehmen), in denen die Schüler ehrenamtlich oder zu symbolischer Entlöhnung mitarbeiten. Durch die ehrenamtliche Mitarbeit gelangt der Schüler angeblich rascher zur Gottverwirklichung. Zu den bekannten Unternehmen gehören Reformhäuser (z.B. Madal Bal), Musikschulen und Musikläden (z.B. Sangit-Sushama), Druckereien (z.B. Perfection Glory Press) sowie Sportgeschäfte und andere Einrichtungen.

 

Eine mögliche Gefahr der Sri Chinmoy-Bewegung sind die starke Bindung der Schüler an den Guru und das schematische Menschen- und Weltbild. Die Fixierung auf den Meister und die Ideologie kann zu seelischer Abhängigkeit und Selbstaufgabe führen.

(basierend u.a. auf der Quelle u.a.: Gandow Th. 1993, Guru Chinmoy und die Sri-Chinmoy-Bewegung. München: Evang. Presseverband für Bayern./ infoSekta/ SCH

Kurzinfo Interview:

Herr X. war langjähriges Mitglied der Sri Chinmoy-Bewegung. Die genauen Jahreszahlen seiner Mitgliedschaft und seines Ausstieges sowie Angaben zu seiner Identität werden auf Wunsch von Herrn X. nicht veröffentlicht. Das Interview wurde im Oktober 2005 von Andrea Lang, Praktikantin bei der Fachstelle infoSekta, durchgeführt.

Interview: Eintritt

Wie sah Dein Leben vor dem Eintritt in die Chinmoy-Bewegung aus? Wie wurde Dein Interesse an der Bewegung geweckt?

Vor dem Eintritt habe ich bereits einige Jahre Yoga praktiziert, als Teenager hatte ich das erste Yogabuch in der Hand. Es hat mich sehr interessiert, wie ich in die eigene Tiefe gelangen und das Glück aus mir hervor holen kann. So habe ich Buch um Buch verschlungen. Zu dieser Zeit ist mir beim Lesen folgender Satz aufgefallen: „Wenn der Schüler bereit ist, dann ist der Meister da“. Da spielte ich das erste Mal mit dem Gedanken, mir einen Meister zu suchen. Einige Jahre später sah ich ein Poster, auf dem Sri Chinmoy abgebildet war und auf dem für eine Veranstaltung der Gruppe geworben wurde. Das weckte mein Interesse, und ich besuchte diese Veranstaltung. An diesem Abend wurde ein Diavortrag mit musikalischer Einlage gezeigt. Die lächelnden, weiss gekleideten Menschen, die Disciples (1), die diese Veran­staltung organisierten, waren mir sehr sympathisch. Ich entschied mich, einen Einführungskurs zu besuchen. Dazu ging ich in das Centre. Dort war es noch schöner. Da war irgendetwas, eine Ausstrahlung, die einem das Gefühl von Entspannung gab, die wohltuend war. Ich habe mich gleich wie zu Hause gefühlt. Und so habe ich nach diesem Einführungskurs den Antrag gestellt, Schüler zu werden.

 

Das Leben in der Gruppe / Organisation

Wie sieht das Leben in der Gruppe aus? Welche Regeln sind für die Anhänger wichtig?

Wie in jeder anderen Gruppe gibt es auch hier Regeln. Der Schüler (2) befindet sich am Anfang rund sechs Monate auf Probezeit. In dieser Zeit wird er in die Regeln und "internen Gesetze", die er als Schüler von Sri Chinmoy befolgen muss, eingeführt. Dazu gehört, dass er jeden Tag um sechs Uhr morgens aufsteht, um zu meditieren, um Lieder zu singen, die Sri Chinmoy selber komponiert hat, und um Gedichte zu lesen. Zur körperlichen Ertüchtigung soll der Schüler mindestens zwei Meilen pro Tag rennen. Nach einiger Zeit darf der Schüler auch die wöchentliche Meditation besuchen. Bei der Meditation ist es wichtig, sich auf das Trans­zendental (3) zu konzentrieren und so Kontakt mit Sri Chinmoy aufzunehmen. Sri Chinmoy sagt, dass er sich auf diesem Photo in einem sehr hohen Bewusstseinszustand befinde, dem Nirvikalpa Samadhi. In diesem Stadium sei der Meditierende vollständig in Gott aufgelöst. Sri Chinmoy wird von seinen Schülern als Inkarnation oder Wiederverkörperung Gottes, als so genannter Kalki, verehrt. Konsequenterweise wird dann auch das, was er sagt, von den Schülern als Gottes Wort verstanden. Später, nach einem Jahr etwa, darf der Schüler nach New York fliegen, um Sri Chinmoy per­sönlich kennen zu lernen. Es kommt mir vor, als sei meine erste Begegnung mit ihm erst gerade gestern gewesen. Es war früh morgens. Rund um Sri Chinmoy hatte sich eine riesige Menschenmasse versammelt, um mit ihm zu meditieren. Seine Erscheinung ist unverkennbar. Er hat eine besondere Ausstrahlung, die man sonst nicht antrifft. Man hat das Gefühl, er komme von einem anderen Planeten. Die Boys und Girls - Sri Chinmoy nennt seine Schüler so - kleiden sich vorwiegend in Weiss, damit sie das Kindliche bewahren. Dies hängt mit dem Reinheitsgedanken zusammen. Die weisse Kleidung bringt die äussere Reinheit zum Ausdruck, welche wiederum zur Unter­stützung der geistigen Reinheit beitragen soll. Der Schüler soll durch die weisse Kleidung das Gefühl bekommen, rein und unbefleckt zu sein, ein Diener Gottes, an dem alles Negative und Schmutzige abprallt. Die Farbe Schwarz ist bei dieser Bewegung verpönt und wird niemals getragen. Eine strikte sexuelle Enthaltsamkeit ist für alle Boys und Girls Bedingung. Wenn jemand, der eine Beziehung führt, Schüler werden möchte, muss er sich von seinem Partner trennen. Auch unverheiratete Paare, die gemeinsam beitreten möchten, müssen sich trennen. Verheiratete Paare dürfen zusammenbleiben, aber keinen sexuellen Kontakt mehr haben. Die Liebe soll nur auf den Meister gerichtet werden. Des weiteren ist es nicht erlaubt, Kinder zu zeugen. Wenn ein verheiratetes Paar, das schon Kinder hat, beitritt, darf es die Kinder natürlich mitbringen. Aber das Paar muss sich trennen, es darf kein Liebespaar mehr sein. Es wird empfohlen, mit der Zeit in einer Divine Enterprise zu arbeiten. Zu den Divine Enter­prises gehören das Geschenkparadies, die Madal Bal, die Soyana und die SEWA (4). Auch ich arbeitete kurz nach meinem Eintritt für längere Zeit in einer Enterprise.

Welchen Lohn erhält man, wenn man in einer Divine Enterprise arbeitet?

Wenig. Zu meiner Zeit haben die meisten Schüler das Existenzminimum erhalten, also 1‘500.- bis 2‘500.- sFr., je nach Verantwortung. Man kann sich ja selber ausrechnen, wie weit das reicht.

Gibt es sonstige Gegenleistungen, die man bekommt, ausser Geld?

Auf dem Weg Sri Chinmoys geht es vor allem um Liebe, Hingabe und Ergebenheit. Je intensiver der Schüler diese drei Eigenschaften lebt, um so mehr Fortschritte macht er. Das ist der Lohn. Hingabe und Ergebenheit bedeuten auch Gehorsam. Gehorsam ist die oberste Pflicht. Nur wenn ein Schüler die Regeln genau befolge, sagt Sri Chinmoy, könne er Fortschritte erzielen. Wenn ein Schüler gegen die Regeln verstösst, zum Beispiel sexuellen Kontakt zu einem anderen Mitglied hat, der Meditation oder den New York-Besuchen fernbleibt oder ähnliches, dann wird er für eine unbestimmte Zeit aus dem Centre geworfen. Dabei darf er keinen Kontakt mehr zu anderen Schülern haben. Er ist ein Verstossener, dem keine Beachtung mehr geschenkt wird. Die rausgeworfenen Schüler fühlen sich schuldig. Sie glauben, etwas Falsches getan zu haben, und leiden unter dem Liebesentzug Sri Chinmoys. Sri Chinmoy ermutigt seine Schüler auch, über ihre Grenzen hinaus zu gehen, etwa in Form von 24-Stunden-Läufen oder Tagesmärschen. Sri Chinmoy sagt, dass die Energie, die man sonst für die Sexualität gebraucht hätte, durch das Rennen umgewandelt werden könne. Die Sexualität könne durch das Rennen transzendiert werden.

Dann ist es so, dass über das „Problem Sexualität“ doch gesprochen wird?

Es herrscht grosses Stillschweigen über das Thema Sexualität. Gesprochen wird darüber nur, wenn ein Schüler eine Beziehung hat, die er natürlich aufgeben muss, oder wenn ein Schüler mit jemandem geschlafen hat und dabei erwischt wurde. Sexualität wird tabuisiert und unterdrückt. Vor allem bei jungen Schülern ist das ein schwieriges Thema. Das Resultat ist, dass sehr viele Girls eine starke Liebe zu Sri Chinmoy entwickeln, die meiner Erfahrung nach sehr süchtig macht. Das gilt natürlich auch für Boys, aber dort vielleicht nicht so extrem. Es ist klar, dass bei solch einer enormen Liebesintensität viel Eifersüchteleien entstehen. Die meisten Girls tun alles, nur um einen Blick von Sri Chinmoy zu ergattern. Zudem ist die Mehrheit seiner weiblichen Schüler­innen sehr hübsch und anmutig. Da ist der Schritt zum Übergriff nicht weit. Es hat sich heraus­gestellt, dass Sri Chinmoy seit Anbeginn seiner Guruzeit intime Beziehungen zu seinen Schü­lern, vor allem den Frauen unterhält. So lässt er zum Beispiel die Boys und Girls sexuelle Spiele treiben und schaut dabei zu. Er hat auch Geschlechtsverkehr mit den Frauen. Mit seinem Ent­haltsamkeitsdogma hintergeht Sri Chinmoy seine Schüler regelrecht, indem er Sex mit seinen Schülerinnen hat und gleichzeitig seine Schüler in Enthaltsamkeit leben lässt. Das ist aus meiner Sicht hinterhältig und gemein. Sri Chinmoy ist dabei der festen Überzeugung, dass diese sexuellen Handlungen förderlich für das Wohlergehen seiner Schüler seien, und diese erachten es als eine Ehre, bei diesen Handlungen mitzumachen. Trotzdem gibt er den Schülern Geld, damit sie das Erlebte nicht weitererzählen. Im Jahr 2001 packten drei Schülerinnen aus und publizierten ihre Geschichten im Internet. Sri Chinmoy leugnet diese Übergriffe, und seine Schüler glauben ihm. Wäre er ehrlich genug zuzugeben, was er hinter dem Rücken seiner Schüler treibt, dann würden ihn wohl sehr viele seiner Schüler verlassen.

Kannst Du mir noch mehr von Deinem Leben als Schüler erzählen?

Mit der Zeit kreisen die Gedanken eines Schülers nur noch um Sri Chinmoy und den Supreme, seinen Gott. Der Schüler fragt Sri Chinmoy regelmässig, was er machen solle. Der Schüler ist wie ein Kind, das nicht weiter weiss, und der Meister weiss immer Rat. So entsteht eine starke Abhängigkeit. Doch das wird vielen erst bewusst, wenn sie diesen Weg verlassen möchten. Ich habe das Gefühl, dass Sri Chinmoy nicht so viel Einfühlungsvermögen bei seinen Schülern zeigt. Für ihn kommt an erster Stelle die Erleuchtung. Ihm ist der Fortschritt der Schüler wichtig, dass der Schüler gut meditieren kann. Wichtig ist ihm auch, dass ihm die Schüler gehorchen, dass sie „pleasen“, wie er das nennt. Er sagt, der Supreme und das Gött­liche würden an erster Stelle kommen und dann erst das Menschliche und die Gefühle. Er hat einfach keinen Einblick in die Gefühle der Menschen, er hat keinen wirklichen Kontakt mit ihnen. Jeder muss selber schauen, wie er mit seinen Gefühlen zurecht kommt. Von aussen, solange man noch kein Mitglied ist, erscheint alles schön und blumig. Doch wenn man Schüler wird, ändert sich die Situation drastisch. Als Schüler realisiert man mit der Zeit, dass der Meister und die anderen Disciples auch nur Menschen mit Macken und Fehlern sind. Viele Neueinsteiger versprechen sich von ihrem Eintritt viel: innere Ruhe, persönlichen Fortschritt, Disziplin, Erleuchtung. Vielleicht suchen sie auch einen Mutter- oder Vaterersatz. Vor allem in Amerika gibt es auch Leute, die sich wegen ihres sozial schwachen Status für einen Beitritt entscheiden. Sie finden einen familiären Rahmen, in dem sie umsorgt werden. Alle Kurse, Vorträge und Konzerte werden von der Gruppe kostenlos angeboten. Die Unter­haltskosten für die Veranstaltungen werden grösstenteils durch Spendengelder finanziert. Es heisst, Geld zu spenden fördere den inneren Fortschritt. Zudem gibt es immer wieder glühende Verehrer Sri Chinmoys, die ihm ihr ganzes Geld spenden. Meiner Meinung nach gibt der Schüler einen grossen Teil an Selbstverantwortung ab und überlässt sein Leben und Schicksal dem Guru. Das ist insofern riskant, weil der Schüler den Boden der Realität verliert und in hohem Masse abhängig wird. Das habe ich am eigenen Leib erfahren, als ich aus dieser Gruppe ausgestiegen bin. Der Guru ist Gott, der alles weiss und die Menschen mit dem „goldigen Schiff an das goldene Ufer“ bringt. So hat er das genannt. Das ist sein Symbol.

Welche Bedeutung hat der spirituelle Name, den die Schüler erhalten?

Einen spirituellen Namen zu bekommen, ist eine grosse Ehre in dieser Bewegung. Viele würden alles tun, um von einer Inkarnation Gottes diese Ehre zu erhalten. Sri Chinmoy sagte einmal, dass wenn ein Schüler den spirituellen Namen bekomme, er die Hälfte seiner spirituellen Reise hinter sich habe. Die Schüler mit einem spirituellen Namen zählen zum inneren Kreis Sri Chin­moys. Sie geniessen grosse Privilegien gegenüber den anderen Schülern. Sie dürfen sich öfters im Haus des Gurus aufhalten, für ihn einkaufen gehen, in seiner Nähe sein und viel Lob ernten. Die Schüler mit einem spirituellen Namen werden von den neuen Schülern bewundert und geniessen allgemein grosses Ansehen. Ich habe auch einen spirituellen Namen erhalten.

Bekommt man den Namen nach einer gewissen Zeit?

Das ist sehr unterschiedlich. Sri Chinmoy sagt, es komme auf die Entwicklung der Seele an. Die Seele würde das O.K. geben, wenn sie für den spirituellen Namen bereit sei. Sehr hingebungs­volle Schüler bekommen den Namen schon nach einem Jahr, andere hingegen erst nach fünf bis dreizehn Jahren. Skeptische Schüler müssen meist lange auf den spirituellen Namen warten, oft verlassen sie die Gruppe schon vorher wieder. Schüler mit einem spirituellen Namen sind sehr verbunden mit Sri Chinmoy, das ist wie mit ihm verheiratet zu sein, es entsteht eine innere Verbundenheit mit ihm.

Gibt es innerhalb dieser inneren und äusseren Kreise nochmals Abstufungen?

Damals, als ich dabei war, gab es sehr wohl Abstufungen. Da gab es von den „First Class Disciples“, den wirklich guten Schülern, bis hin zu den „Very Bad Disciples“ ein ganzes Klassen­system. Und wer keinen spirituellen Namen hat, steht im äusseren Kreis.

Wie sehen die Beziehungen unter den Mitgliedern aus? Können Freundschaften entstehen?

Bei Mitgliedern untereinander können tolle Freundschaften entstehen. Sri Chinmoy em­pfiehlt, Freundschaften einzugehen, damit sich die Schüler, wenn sie in einer schlechten Verfassung sind, gegenseitig unterstützen können. Hingegen ist es nicht erlaubt, ausserhalb der Bewegung Freunde zu haben. Auch die Eltern werden gründlich unter die Lupe genommen, und wenn von deren Seite zuviel Widerstand spürbar wird, wird dem Schüler nahegelegt, Abstand zu halten. Gefühlsmässig verhalten sich die Schüler untereinander sehr nüchtern. Es wird viel über Geschäftliches gesprochen. Die Boys und Girls untereinander dürfen nur über das Nötigste sprechen. Bei zuviel Intimität werden die Schüler sofort rausgeworfen. Als ich einmal in einer Divine Enterprise einkaufen ging, berührte ich unabsichtlich die Hand der Kassiererin. Sie zog die Hand sofort zurück, wie wenn ich Lepra hätte. Als Mann ist es verboten, eine Frau zu berühren, es droht der Rauswurf.

Gibt es Vorfälle, nach denen man nicht mehr zurückkommen darf? 

Das hängt vom Schüler ab, meistens gibt es immer eine Möglichkeit zurückzukommen. Ich kann mich aber an eine Szene erinnern, bei der Sri Chinmoy eine Schülerin tatsächlich nicht mehr zurücknahm. Sie war kurz vor dem Durchdrehen, flehte um Wiederaufnahme, doch Sri Chinmoy wies sie ab. Es wäre ihm wohl egal gewesen, wenn sich die Frau etwas angetan hätte. Da wur­de mit klar, wie gefühlskalt Sri Chinmoy in Wirklichkeit ist. Das war einer der Gründe, wieso ich die Gruppe verliess. 

Wie steht es mit dem „normalen“ Leben, mit dem Umfeld, der Familie? 

Das normale Leben kann der Schüler weitgehend vergessen. Sri Chinmoy trichtert den Schülern ein, nicht zu viel Zeit mit „normalen“ Menschen zu verbringen. Zu diesen pflegen die Schüler höchstens geschäftliche Beziehungen. Mit der Zeit hat man auch gar kein Interesse mehr an einer Freundin oder einem Freund, weil man sich im Sog dieser Energie befindet, die das Leben be­stimmt.

Wie hat Dein Umfeld, wie haben Deine Eltern und Bekannte auf Deine Mitgliedschaft bei der Sri Chinmoy-Bewegung reagiert?

Sehr negativ. Meine Mutter spürte sofort, dass da etwas nicht stimmte, und versuchte, mich davon abzubringen. Doch sie konnte nichts gegen meine innere Überzeugung unter­nehmen. Nach den ersten Differenzen zog ich aus dem Elternhaus aus. Ich zog in eine Wohnung, die sich in der Nähe des Centres befand und in der schon andere Schüler wohnten. 

Zweifel und Ausstieg

Wann kamen Dir die ersten Zweifel?

Erst nach ein paar Jahren wurde mir bewusst, dass ich in eine Sackgasse geraten war. Ich hatte den Boden unter den Füssen verloren, trieb wie eine Nussschale im weiten Ozean und litt je länger je mehr unter Angstzuständen, die ich mir nicht erklären konnte. Ich spürte, dass es mir bald noch schlechter gehen würde, wenn ich nicht selber etwas unternahm.

Da hast Du den Beschluss gefasst auszusteigen?

Ja. Als ich zur wöchentlichen Meditation ging, spürte ich, wie sich mein Hals zuschnürte. Da wusste ich sofort: jetzt ist genug. Am nächsten Tag habe ich meinen Austritt bekannt gegeben. Als Antwort bekam ich zu hören: „Pass auf, was du tust. Dein Bewusstsein wird tief fallen und deine Seele wird Schaden nehmen.“ Ich kümmerte mich für einmal nicht um das Palaver. Danach begann ich gründlich auszumisten, ich gab alle Bücher von Sri Chin­moy, über hundert, zurück. Ebenso alle Bilder, Geschenke und sonst alles, was mich an diese Gruppe erinnerte. Das war der eine Teil der Arbeit. Der andere Teil stellte sich als erheblich mühsamer heraus. Ich wollte wieder zu einem normalen Menschen werden, ohne Angstzustände und schlechtes Gewissen. Vier Jahre lang habe ich an mir gearbeitet. Ich ging in eine Psychotherapie, in eine Tanztherapie und in eine Gesprächstherapie. Ich besuchte buddhistische Klöster und liess mich dort einweihen. Ich unternahm alles, um das Gefühl der Abhängigkeit von Sri Chinmoy loszuwerden.

Gab es Menschen, die Dir während des Ausstiegs geholfen haben?

Nein, leider nicht. Ich musste aus diesem Loch, in welches ich gestürzt war, alleine und ohne fremde Hilfe wieder heraus kommen. Es war eine harte Zeit, ich musste meine Unsicherheiten, Ängste und Abkapselung überwinden. Aber ich habe es geschafft, dank meiner grossen Ausdauer, die ich mir vor allem durch die Marathonläufe angeeignet habe. Nach meinem Ausstieg hatte ich wirklich eine Arte Verfolgungsängste. Diese Chinmoy-Energie steckte mir in Mark und Bein, und ich hatte nur das eine Ziel: diese klebrige Substanz möglichst schnell loszuwerden. Ich begegnete dann einer Frau, die Bewusstseinsarbeit anbietet. Sie konnte mir bestätigen, dass Sri Chinmoy die Schüler unterdrückt und dass er selber auch von dieser Instanz namens Supreme unterdrückt wird, die er sich ja selber ausgesucht hat. Er selber sagt über sich, dass er ohne Schüler nichts wert sei. Und so stelle ich mir vor, dass er jede einzelne Seele braucht, um sein Guru-Spiel weiterführen zu können. Sri Chinmoy hat einmal gesagt, dass wenn er einen Schüler annimmt, er diesem auch Spiritual Beings senden würde. Diese Wesen berichten Sri Chinmoy dann fortlaufend, wie es dem Schüler geht und was der Schüler gerade macht. Wenn der Schüler dann den Weg verlässt, würde Sri Chinmoy diese Wesen wieder zurücknehmen. Doch das tut er nicht. Das bedeutet auch eine Art spätere Ab­hängigkeit.  

Wie sieht Dein Leben heute, einige Jahren nach Deinem Austritt aus? 

Heute verläuft mein Leben wieder in geordneten Bahnen. Ich habe in den letzten Jahren gelernt, ein selbstständiges und glückliches Leben zu führen. Der Job, den ich bereits vor meinem Ausstieg angenommen hatte, gab mir Boden unter den Füssen und Zuversicht. Ich habe neue Freunde gefunden. Ich brauche wirklich keinen Meister mehr, der mir sagt, was zu tun ist. Ich habe das Leben ohne Sri Chinmoy richtig lieben gelernt und bin froh darüber.

Wie denkst Du heute über Deine ehemalige Mitgliedschaft bei der Sri Chinmoy-Bewegung? Negatives? Positives?

Weder noch. Es war einfach eine intensive Erfahrung. Schlussendlich habe ich gelernt, mein Leben gelassener zu nehmen und mehr Selbstverantwortung zu übernehmen. Ich war noch keine zwanzig Jahre alt, als ich dieser Gruppe beigetreten bin. Ich war völlig grün hinter den Ohren, auf der Suche und grösstenteils hilflos und bedürftig. In dieser zum Teil chaotischen Welt suchen viele einen Halt. Manche begegnen einem Meister und folgen ihm auf seinem Weg. Das kann sich jeder selber aussuchen. Aber die Konsequenzen und vor allem auch die Verantwortung für sein Handeln muss jeder selber tragen.

 

Vielen Dank für das Gespräch. infoSekta Zürich.

Fussnoten

(1)  Die Schüler Sri Chinmoys werden Disciples genannt.
(2) Grundsätzlich sind immer beide Geschlechter gemeint.
(3) Foto, auf dem Sri Chinmoy in einem meditativen Zustand abgebildet ist.
(4) Divine Enterprises sind Unternehmen, die Disciples gehören und in denen vorwiegend Disciples beschäftigt werden. Madal Bal, Soyana und SEWA sind die Namen von Schweizer Unternehmen.

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