Erfahrungen aus der Beratungsarbeit (Lenzin, 2001)

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von Esther Lenzin


Seit neun Jahren arbeite ich...

...wöchentlich zwei Stunden am Beratungstelefon von infoSekta. Zusätzlich beantworte ich teilweise schriftliche Anfragen oder lade Ratsuchende zu persönlichen Beratungsgesprächen ein. Was mich all die Jahre begleitet hat, ist sowohl der Respekt vor diesem enorm grossen und facettenreichen Gebiet der Sekten, das sich zudem ständig verändert, als auch die Einsicht, nie genug zu wissen. Ich bräuchte viel mehr Zeit zum Lesen der gut ausgewählten Literatur unserer Bibliothek. Die Zeit, den Gottesdienst einer christlichen Gruppe oder das Seminar einer Psychogruppe zu besuchen, nehme ich mir dann, wenn mich aus der Beratungsarbeit eine bestimmte Gruppe speziell beschäftigt. Es ist mir wichtig, mir einen eigenen Eindruck zu verschaffen, zu spüren wie es mir selbst in dieser Gruppe geht. Zu Beginn meiner Beratungszeit ging es den Anrufenden in erster Linie um Informationen zu einer bestimmten Gruppe oder zu einem Thema. Wir informierten sie telefonisch und versandten zusätzlich auch schriftliche Unterlagen aus möglichst verschiedenen Quellen, die sie dann in Ruhe studieren und vergleichen konnten. Heute haben viele Anrufende ihre Informationen bereits aus dem Internet. Schwieriger für sie ist es jedoch, diese Informationsangebote einzuschätzen und zu bewerten. Dabei sind wir gerne behilflich und ergänzen zusätzlich mit Material aus unserem Archiv. 

Anrufende, die sich bei uns für ein Beratungsgespräch melden, stehen meist schon unter einem starken inneren Druck, der während einer langen Leidensgeschichte mit vielen Hoffnungen und Enttäuschungen entstanden ist.  Das sind zum Teil Ehemalige, die seit langer Zeit versuchen, das, was sie in bestimmten Gruppen oder Seminarien erlebt haben, zu verarbeiten. Mehrheitlich sind es aber Angehörige von Personen, die sich in bestimmten Gruppen engagieren. Oft haben diese Angehörigen während längerer Zeit vergeblich gehofft, dass ihr Partner, ihr Kind, ihre Mutter oder ihr Vater die Methoden einer Gruppe, oder die eigene Abhängigkeit von einer charismatischen Person bestimmt bald selbst erkennen werde, oder sie konnten nur schwer wahrhaben, dass hinter der Zuwendung zu einer Gruppe möglicherweise auch eine Persönlichkeitsveränderung stehen könnte, die sich schon seit längerem abgezeichnet hat und schon früher hätte erkannt werden können. Sicher ist es äusserst schmerzhaft, ohnmächtig miterleben zu müssen, wie z.B. eine geliebte Person sich immer mehr aus der persönlichen Beziehung, aus dem Verwandten- und Bekanntenkreis zurückzieht – und sich immer mehr nur noch im Kreis der Mitglieder einer bestimmten Sekte bewegt. 
Manche der Angehörigen erleben die Abhängigkeit Ihres Partners oder Kindes von einer Sekte als Beschämung. Sie fühlen sich mitschuldig, fragen sich, was sie falsch gemacht haben. Ich nehme diese Gefühle sehr ernst, versuche aber auch die Angehörigen zu entlasten, indem ich weitere Zusammenhänge aufzeige.
Verständlicherweise reagieren viele Angehörige zuerst einmal mit Wut auf die Gruppe oder Sekte und weisen ihr die gesamte Schuld für die entstandene Situation zu. Sie sind überzeugt, wenn es diese eine Sekte oder jene HeilerIn mit ihren üblen, verführerischen Methoden nicht gäbe, hätte sich ihr Partner oder Kind oder Bekannter nie derart entfremdet und wäre nie in eine solche Abhängigkeit geraten. Ich will damit die Wirkung manipulativer Methoden keineswegs verharmlosen. Für die Betroffenen bringt jedoch eine Bestätigung solch verantwortungsloser Machenschaften selbst noch keine Lösung. Aus diesem Grund motiviere ich die Ratsuchenden zusammen mit mir die andere Seite, die Seite der betroffenen Person näher anzuschauen. 
In meinen Beratungsgesprächen steht immer das Schicksal und die Geschichte des einzelnen Ratsuchenden, oder des Ratsuchenden im Zusammenhang mit einer betroffenen Person im Zentrum. Für jedes Beratungsgespräch nehme ich mir genügend Zeit. Es ist mir wichtig, dass sich die Ratsuchenden aufgehoben und verstanden fühlen. Für mich ist jedes Beratungsgespräches unterschiedlich und berührt mich wieder auf eine neue, andere und eigene Art. Es ist für mich auch eine Selbstverständlichkeit, dass die Inhalte dieser Gespräche streng vertraulich behandelt werden.
In den letzten zehn Jahren sind die telefonischen  Beratungsgespräche persönlicher und dadurch auch intensiver  geworden. Die Anrufenden sind heute offener, bereit mit uns über Persönliches zu sprechen. Sie erzählen uns zum Beispiel von einem Besuch einer Gruppenveranstaltung oder einer HeilerIn, bei dem ein “komisches Gefühl” zurückgeblieben ist, ein Gefühl, das sie selbst nicht richtig einordnen können. Sie erzählen, warum sie diese Veranstaltung besucht haben, was sie sich dort erhofften, was sie sich wünschen und suchen. Sie sprechen auch über ihre momentane Lebenssituation. 
Angehörige wiederum berichten uns über die Lebenssituation, die Geschichte und das Umfeld der betroffenen Person, zeigen Bereitschaft, mit uns die Hintergründe und die Zusammenhänge genauer anzuschauen, um die jetzige Situation besser zu verstehen: warum der Partner, das Kind oder die Bekannte in die Abhängigkeit dieser Gruppe geraten ist; welche Sehnsüchte, Wünsche dahinter stehen könnten; was die betroffene Person in ihrem Leben vermisste oder allenfalls auch verloren hat. Oft geht es darum, Ideen für weitere Kontaktmöglichkeiten zu den Betroffenen zu entwickeln. Die Anrufenden selbst haben meist all ihre Möglichkeiten ausgeschöpft. Zusammen suchen wir im weiteren Beziehungsfeld der betroffenen Person nach möglicher Unterstützung: nach  Verwandten, Freunden, die ihnen wichtig waren und die bereit sind, ihre persönliche, langjährige Beziehung wieder aufzunehmen und zu verstärken; die auch in der Lage sind, mit der betreffenden Person offen zu reden, ihr zu sagen, dass sie sich über bestimmte, konkrete Veränderungen, über ihren Rückzug aus langjährig gewachsenen Beziehungen Sorgen machen; die ihnen sagen, dass sie das Gefühl hätten, er/sie sei in eine Abhängigkeit, in eine Sackgasse geraten. Finden wir diese hilfsbereite Unterstützung aus dem weiteren Beziehungsfeld der betroffenen Person, soll  diese auf ein erstes Gespräch mit dem Sektenmitglied vorbereitet werden. Diese Gespräche sind sehr anspruchsvoll und sollten möglichst konsequent auf einer persönlichen Ebene geführt werden. 
Einem möglichen Erfolg solcher Gespräche auf der Beziehungsebene kommt entgegen, dass in vielen Sekten persönliche Beziehungen zwischen Mitgliedern zweitrangig, in manchen sogar ungern gesehen sind. Im Vordergrund steht in der Regel das gemeinsame Gruppenziel. Persönliche Beziehungen und zwischenmenschliche Konflikte werden durch Gruppenziele und Gruppenloyalität überdeckt. Verlässt jedoch ein Mitglied seine Gruppe, verliert es auch die Wärme, Geborgenheit und die Sicherheit der Gruppe.
Persönliche Gespräche mit Personen aus früheren Beziehungen können auch die Angst vor einem allfälligen Ausstieg mindern. Es kann für sie sehr beruhigend sein, zu wissen, dass sie ausserhalb der Gruppe Menschen haben, denen sie wichtig sind. 

Es gibt Beratungssituationen, die trotz allen Bemühungen hoffnungslos bleiben. Auch wenn das für die Angehörigen sehr schmerzhaft ist, ist es manchmal unumgänglich, den Entscheid einer geliebten Person einer Sekte beizutreten zu akzeptieren. In solchen Fällen versuche ich, mit dem Ratsuchenden eine andere mögliche Beziehungsform zum Sektenmitglied zu finden. Einen Weg zu finden, wie sie als Mutter oder Vater den Kontakt aufrecht erhalten können, auch wenn der Sohn oder die Tochter in einer Sekte ist. Und oft geht es dann auch darum, die Ratsuchenden behutsam darauf aufmerksam zu machen, sich wieder vermehrt auf das eigene Leben zurückzubesinnen.

Was ich in der Beratungsarbeit manchmal vermisse, ist, dass ich auch nach mehreren Gesprächen leider nur selten weiss, wie es den Anfragenden und ihren Angehörigen im Leben weiter ergangen ist. Ich wünschte mir Möglichkeiten, die Ratsuchenden länger begleiten, oder mir die Zeit nehmen zu können, mich später nochmals zu erkundigen.

In meiner eigenen Auseinandersetzung mit dem Sektenthema, in Diskussionen, Präventionsveranstaltungen und Gesprächen mit Fachleuten habe ich gelernt, dass es nicht reicht, auf üble Machenschaften und Methoden einzelner Sekten oder Personen aufmerksam zu machen. Wichtig ist eine persönliche Auseinandersetzung mit dem Thema; zum Beispiel mit der Frage, zu welcher Art von Gruppe oder charismatischen Persönlichkeit könnte ich mich in einer bestimmten Lebenssituation angezogen fühlen, wo würde ich mich geborgen, aufgehoben und wohlfühlen? Die Art der Angebote und die Vielfalt der unterschiedlichsten Gruppen ist derart gross und facettenreich, dass es für uns alle eine Gruppe oder charismatische Persönlichkeit gibt, die bewusste oder unbewusste, unerfüllte Sehnsüchte und Wünsche abdecken würde. 

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